- Risiko Arzneimittel - die Tricks der Pharmaindustrie

Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker – schön und gut. Aber was, wenn die Hersteller die Ärzte nur mangelhaft über Risiken ihrer Medikamente informieren? KONTRASTE deckt skrupellose Methoden der Pharmakonzerne auf und zeigt: Das System der Arzneimittelüberwachung funktioniert nicht.

Wenn Sie zur Zeit Medikamente nehmen, dann haben Sie sicher mal auf den Beipackzettel geschaut oder Ihren Arzt gefragt, welche möglichen Nebenwirkungen auftauchen können. Sie kennen ja den Spruch aus der Werbung: „Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker.“ Doch was, wenn Pharmahersteller mögliche Nebenwirkungen verschweigen? Dann kann das für Patienten gefährliche Folgen haben. Caroline Walter und Alexander Kobylinski decken auf, mit welchen umstrittenen Methoden Pharmakonzerne arbeiten.

Corinna Silber schaut nicht gern in den Spiegel, denn ihre Beine sind völlig entstellt - als wären Stücke herausgerissen worden. Ihr Selbstbewusstsein ist zerstört. Schuld daran ist die Nebenwirkung eines Medikaments. Corinna Silber ist Diabetikerin. Sie muss sich mehrmals am Tag Insulin spritzen. 2004 bekam sie das neue Medikament Levemir verschrieben, das künstliche Insulin war gerade erst zugelassen worden. Auf einmal waren Dellen am Oberschenkel, es wurde immer schlimmer, das Fettgewebe löste sich komplett auf. Corinna Silber konnte nichts dagegen tun.

Corinna Silber
„Es ist nicht reparabel. Ich kann meinen alten Körper nicht zurückholen. Und es ist furchtbar so als Frau.“
KONTRASTE
„Wie lebt man damit?“
Corinna Silber
„Ja, man versucht zu kaschieren. Ich gehe nicht mehr schwimmen, ich zeige mich nicht mehr öffentlich.“

Im Beipackzettel des Medikaments Levemir stand nichts von dieser Nebenwirkung. Frau Silber dachte, dieses Insulin hätte weniger Risiken als andere – vom Hersteller gab es keine Warnung.

Deshalb klagt sie vor Gericht gegen den großen Pharmakonzern Novo Nordisk. Sie will Aufklärung, was die Verantwortlichen der Firma über die Nebenwirkung schon bei der Zulassung wussten - und sie will Entschädigung. Drei Jahre zieht sich der Prozess schon hin. Auch nach diesem Termin verweigert der Pharmakonzern, seine Informationen offenzulegen.

Corinna Silber
„Ich bin total schockiert. Ich bin schockiert über die Gangweise, die hier angetreten wird. Als dass die Pharmafirma sich so was von abschottet und abblockt und eigentlich noch regelrecht böse auf einen ist, nur weil man sein Recht haben möchte.“

Corinna Silber fühlt sich ausgeliefert. Erst zweifelte die Firma an, dass sie das Medikament überhaupt genommen hat, dann: dass die Schäden davon kamen und schließlich behauptet man, sie hätte falsch gespritzt. Dabei musste der Konzern wegen weiterer Fälle inzwischen die Nebenwirkung in den Beipackzettel schreiben: es „kann … das Unterhautfettgewebe schrumpfen.“

Wir versuchen mit dem Leiter Produktsicherheit von Novo Nordisk zu sprechen. Es antwortet der Anwalt.

KONTRASTE
„Warum will die Firma die Daten nicht transparent machen? Sie haben doch auch eine Auskunftspflicht dem Patienten gegenüber.“
Anwalt Novo Nordisk
„Wir haben im Verfahren vorgetragen, was vorzutragen war, das stimmt. Und darüber hinaus gibt es nichts zu sagen.“
KONTRASTE
„Sie wollen auch nichts sagen?“
Anwalt Novo Nordisk
„Nein, danke.“

Sie hoffen anscheinend, dass die Patientin irgendwann aufgibt.

Keine Transparenz über Risiken – das zeigt besonders der Fall des Medikaments Avandia, auch ein Mittel gegen Diabetes – vom weltweit agierenden Pharmariesen GlaxoSmithKline. Avandia steht stark im Verdacht, Todesfälle zu verursachen. Dieser brisante Untersuchungsbericht aus dem amerikanischen Senat enthüllt jetzt, der Pharmakonzern habe versucht, das Risiko von Herzinfarkten und Herzschwäche unter der Decke zu halten. Der Vorwurf: Spätestens 2004/2005 habe GlaxoSmithKline darum gewusst – aber weder Patienten noch Ärzte gewarnt.

Guntram Zehl hat lange Avandia eingenommen. Er wusste in dieser Zeit nichts von der gefährlichen Nebenwirkung, auch nicht wie der Konzern damit umging.

Guntram Zehl
„Also, ich habe das Medikament viele Jahre genommen, und erfahre dann, dass dort ein erhöhtes Risiko besteht, sogar am Ende Menschenleben kosten könnte, dann ist das für mich sehr deprimierend, weil ich glaube, dass das vollkommen verantwortungslos ist, wenn die Pharmaindustrie solche Kenntnisse nicht über den Arzt an den Patienten weitergibt.“

Nach dem amerikanischen Untersuchungsbericht wollte der Konzern das Herzinfarktrisiko so lange wie möglich für sich behalten. Wissenschaftler, die früh Herzprobleme durch Avandia öffentlich thematisierten, seien eingeschüchtert worden. Einer der Glaxo-Chefs habe in deren Instituten angerufen, und mit Klagen gedroht. Ein Arzt sei so unter Druck gesetzt worden, dass er eine Schweigeverpflichtung unterschrieben habe, nicht mehr über das Risiko des Mittels zu sprechen.

Er hat dem Druck standgehalten. Der renommierte, amerikanische Herzspezialist Steven Nissen. 2007 wollte er eine große Analyse veröffentlichen – die feststellte, Avandia erhöht das Herzinfarktrisiko drastisch - um 43 Prozent. Kurz vor der Veröffentlichung bat der Pharmakonzern um ein Treffen mit Nissen. Dieser zeichnete das Gespräch heimlich auf, um später Beweise zu haben. Die Konzernvertreter versuchten Nissen auszuhorchen und massiv zu beeinflussen. Dabei spielten sie das Herzinfarktrisiko herunter.

Dr. Steven Nissen, Herzspezialist, Cleveland Clinic
„Sie redeten mir ein, ich würde mich lächerlich machen, wenn ich veröffentliche, denn es gebe keinen Beleg, dass Avandia schade. Ich wurde sauer und sagte ihnen, dass das, was sie getan haben, ein Risiko zu verheimlichen, moralisch falsch und inakzeptabel ist.“

Nissen ließ sich nicht einschüchtern und brachte das Risiko 2007 erstmals an die Öffentlichkeit. Doch GlaxoSmithKline streute mit einer Kampagne Zweifel an der Untersuchung. Offenbar wider besseren Wissens, wie eine interne Email aus dem Konzern nahe legt. Der Leiter der Forschungsabteilung schrieb:

Zitat
„Die amerikanische Zulassungsbehörde FDA, Nissen und Glaxo kommen alle zu demselben Schluss hinsichtlich des erhöhten Risikos für Herzinfarkte, es liegt zwischen 30 und 43 Prozent.“

Obwohl intern das Risiko offenbar bestätigt wurde, spielte der Konzern es öffentlich herunter. Millionen Patienten weltweit schluckten weiter Avandia. Trotz des brisanten Untersuchungsberichts aus Amerika ziehen die Behörden in Europa keine Konsequenzen. Im Gegenteil: Die Zulassung für Avandia wurde jetzt sogar verlängert. Das Bundsinstitut für Arzneimittel hat das mit entschieden.

Ulrich Hagemann, Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte
„In diesem Fall lagen keine Daten und keine gesamten Daten vor, dass das Nutzen – Schadenverhältnis negativ ist. Das wäre ein Grund für die Versagung der Verlängerung der Zulassung gewesen.“

Herzspezialist Nissen kommt zu einer ganz anderen Bewertung von Nutzen und Risiko.

Dr. Steven Nissen, Herzspezialist, Cleveland Clinic
„Es gibt keinen Langzeitnutzen von Avandia, es gibt keinen Nutzen in Vergleich zu anderen Diabetesmedikamenten. Es ist Zeit, das Mittel vom Markt zu nehmen. Ehrlich gesagt, hätte das schon 2007 passieren müssen.“

Die deutsche Behörde, erfahren wir, stützt sich vor allem auf eine neue Studie des Herstellers. Dabei ist die sehr umstritten. Der Untersuchungsbericht aus Amerika wurde gar nicht einbezogen.

KONTRASTE
„Hat Sie der Bericht nicht interessiert, um zu sehen, welche Methoden angewandt wurden, was bekannt war und was nicht?“
Ulrich Hagemann, Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte
„Er hat mich schon interessiert, aber…“
KONTRASTE
„Aber gelesen haben Sie ihn noch nicht?“
Ulrich Hagemann, Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte
„Nein, ich habe ihn nicht gelesen.“

Tausende Patienten wurden möglicherweise schwer geschädigt. Während GlaxoSmithKline hier noch immer von der Sicherheit des Mittels redet, soll die Firma in Amerika bereits Vergleichsverhandlungen mit Patientenanwälten führen.

Für den unabhängigen Arzneimittelexperten Wolfgang Becker-Brüser ist Avandia ein typischer Fall dafür, dass das System der Arzneimittelüberwachung nicht funktioniert.

Wolfgang Becker-Brüser, Herausgeber "arznei-telegramm"
„Dringend notwendig ist eine öffentliche Diskussion zu den Zulassungspraktiken der Zulassungsbehörden, es ist eine Diskussion über die zugrunde liegende Gesetzgebung nötig, die vielfach nicht ausreicht. Es ist eine Diskussion darüber notwendig, wie damit umgegangen wird, wenn Firmen betrügen. Manager müssen für Betrügereien, die Firmen machen, haften, und wirklich haften, auch in den Knast gehen. Dann ist auch eine Chance, dass hier eine Besserung stattfindet.“

KONTRASTE hat die Pharmakonzerne Novo Nordisk und GlaxoSmithKline um eine Stellungnahme gebeten. Beide Unternehmen lehnen ein Interview ab und bestreiten alle gegen sie erhobenen Vorwürfe.