Sendung vom 09.04.1995 - Bahr, Egon
Günter Gaus im Gespräch mit Egon Bahr
(Erstsendung: 09.04.1995/ORB)
Günter Gaus im Gespräch mit Egon Bahr
Menschenrechte sind wichtig. Frieden ist wichtiger
Egon Bahr, geboren 1922 in Thüringen. Nach dem Kriege zunächst Journalist, dann, nachdem er sich Willy Brandt angeschlossen hatte, die „graue Eminenz“ der Entspannungspolitik und der Vereinigungspolitik. Von Misstrauen verfolgt, vom Vertrauen Willy Brandts gefördert – der Mann, der wahrscheinlich mehr vertrauliche Kontakte zwischen West und Ost gepflegt hat, der mehr getan hat für die Herstellung der Einheit, als ihm von seinen Feinden zugebilligt wird.
Gaus: Von Bundeskanzler Adenauer hat man überwiegend mit Respekt gesagt, er sei ein Schlitzohr und benutze im politischen Notfall bedenkenlos die Notlüge. Ihnen, Herr Bahr, wird das Gleiche nachgesagt, aber weniger mit Respekt, sondern oft im Tonfall einer bösartigen Unterstellung. Ist Ihnen dieser Unterschied in der öffentlichen Nachrede bewusst, und kränkt er Sie?
Bahr: Der Unterschied zwischen Adenauer und mir ist mir wohl bewusst. Der Unterschied in der Nachrede hat mich zuerst gekränkt. Später nicht mehr.
Gaus: Wie erklären Sie ihn sich?
Bahr: Was dem großen Jupiter erlaubt war, war dem kleinen Beamten Bahr natürlich nicht erlaubt.
Gaus: Steckt darin auch die Einsicht, dass Sie ein richtiger Politiker hätten nie werden können – im Sinne der Demokratie, nämlich dass die Zustimmung einer Mehrheit gewonnen werden muss?
Bahr: Stimmt. Auch gar nicht werden wollen.
Gaus: Auch nicht werden wollen?
Bahr: Ja. Für mich ist das Wichtigste im Leben, dass man erkennt, was man kann und was nicht. Und ich wusste immer, dass ich kein Held bin, der Massen begeistert oder fasziniert.
Gaus: Das konnte Willy Brandt. Sie aber faszinieren die Massen, die Leser und Zuschauer bestimmter Medien dadurch, dass Ihnen unterstellt wird, das sei einer, der ein Doppelspiel spiele. Jüngst war es Ihr vermeintliches Zusammenspiel mit dem sowjetischen Geheimdienst KGB. Was immer Sie sagen zu dieser Unterstellung: Ein bestimmter Teil, und ich denke, ein relativ großer Teil der deutschen Öffentlichkeit, wird es Ihnen nicht abnehmen.
Bahr: Zunächst mal sage ich dazu gar nichts mehr. Denn das Buch „Der geheime Kanal“ ist da und kann nun gelesen werden. Das beruhigt mich sehr. Natürlich ist manchmal – und das ist vielleicht ein Fehler, dass ich das zugebe – eine politische Notlüge notwendig. Dazu bekenne ich mich auch. Ich sage Ihnen ein Beispiel: Ich habe in einer Schlussphase des Moskauer Vertrages dem Gromyko einen harten Brief geschrieben. Ich habe meinen Außenminister und den Kanzler nicht davon informiert, weil ich ihn allein auf meine Kappe nehmen wollte und mich die Regierung hätte desavouieren können. Als mich Falin am nächsten Morgen gefragt hat, ob das meine persönliche Meinung oder die der Regierung sei, habe ich kalt gesagt: Das ist die Auffassung meiner Regierung. Daraufhin ging er raus, und die Sache war erledigt.
Gaus: Das gilt dann in der Öffentlichkeit des eigenen Landes als eine patriotische Tat. Wo ist der Unterschied zwischen der berechtigten Lüge und der nicht berechtigten Lüge in der Politik? Wenn es der eigenen Nation nützt, der eigenen Sache?
Bahr: Sicher nicht nur. Nach meiner Auffassung gibt es einen Gradmesser, der immer funktioniert. Das ist das eigene Gewissen. Man muss in sich hineinhorchen und fragen: Kannst du das vor dir verantworten – ja oder nein?
Gaus: Keine demokratische Instanz?
Bahr: Das Gewissen hat in unserer Verfassung einen ganz hohen Rang.
Gaus: Wir kommen auf die Frage Moral und Außenpolitik. Sie sind jemand, der sich eher – nach meiner Erfahrung, wir kennen uns lange – scheut, in der Öffentlichkeit Gefühle zu bekennen. Sie haben es einmal nicht vermeiden können. Willy Brandt trat 1974 als Bundeskanzler zurück, und Herbert Wehner reichte dem Zurückgetretenen in der SPD-Bundestagsfraktion einen Blumenstrauß. Da konnte man im Fernsehen erleben, Herr Bahr, wie Sie die Hände vors Gesicht nahmen und in Tränen ausbrachen. Skizzieren Sie bitte die stärksten Vorzüge Willy Brandts und die stärksten Mängel.
Bahr: Der stärkste Vorzug war für mich: Das war ein Mensch, der gezeigt hat, dass Politik nicht den Charakter verderben muss. Er war ein guter Mensch. Gleichzeitig war das auch seine Schwäche. Er hat mit diesem Ich, das gezeigt hat, dass er ein Mensch blieb, Menschen gewonnen. Aber er hat sich damit auch angreifbar gemacht.
Gaus: Das war seine größte Schwäche. Nun hat man ihm nachgesagt – und ich sage hier besser, damit das nicht falsch verstanden wird, ich bin ein Verehrer Willy Brandts –, dass er eine große Scheu hatte, in irgendeine Verpflichtung hineingezogen zu werden. Er hat versucht zu helfen, wo immer es ging. Aber eigentlich lieber aus der Distanz. Das klassische Beispiel ist unser Freund Konrad Ahlers, der, als er Bundestagsabgeordneter geworden ist, nachdem er vorher Regierungssprecher gewesen war, gern parlamentarischer Staatssekretär im Verteidigungsministerium geworden wäre. Und er hatte sich fest darauf verlassen, dass sein Freund Willy Brandt ihn dazu machen würde. Willy Brandt hat es nicht getan. Damals wurde im Freundeskreis gesagt: Wenn Not am Manne ist, ist man besser von Herbert Wehner abhängig als von Willy Brandt.
Bahr: Ich würde das nicht so akzeptieren. Was Sie da gesagt haben, ist eine Seite von Willy Brandt, die mit seiner Eigenschaft zusammenhängt, überhaupt Distanz zu Menschen aufrechtzuerhalten. Ich kann mich an keinen Menschen erinnern, mit dem er dienstlich zusammen war und unter Brechung aller Barrieren umarmt oder an sich selbst, an sein Innerstes herangelassen hätte.
Gaus: Auch Egon Bahr nicht?
Bahr: Nein. In ganz wenigen Augenblicken, die ich sagen könnte, ja. Aber ansonsten blieb immer die Distanz.
Gaus: Nennen Sie die Augenblicke.
Bahr: Nein, ich denke nicht dran. Und was Herbert Wehner angeht, meine ich, dass es zu seinem Charakter gehört hat – in Kenntnis und im Wissen um alle Unsäglichkeiten, die dieser Mann durchgemacht hat in Moskau –, er hatte ein lebenslanges Bedürfnis zur Wiedergutmachung, Menschen zu helfen. Und dieses hat er dann auch getan.
Gaus: Wehner war so sentimental, wie man es Sachsen gern nachsagt. Brandt war, Sie haben es beschrieben, eher spröde, um es vorsichtig zu sagen. Aber hat das nicht bei beiden – die Sentimentalität Herbert Wehners und die Sprödigkeit Willy Brandts – dasselbe umhüllt: nämlich eine ganz starke Egozentrik, aus der sich ihre beachtliche politische und andere Lebensleistung gespeist hat?
Bahr: Das kann ich nur bejahen. Bei wem die Lebensleistung bedeutender war, kann ich aber nicht sagen.
Gaus: Haben Sie Willy Brandt geliebt, und haben Sie Herbert Wehner gelegentlich gehasst?
Bahr: Ich habe Willy Brandt wirklich geliebt. Ich habe Wehner zuweilen gehasst, zuweilen bewundert. Zuweilen habe ich gewünscht, dass die Entschiedenheit Herbert Wehners auf Willy Brandt abfärben würde. Der Wehner hat in einer bestimmten Phase auf den Tisch gehauen. 1973, als Willy Brandt schwach war und die Zügel locker gelassen hat, da habe ich mir mehr als einmal gewünscht: Das hättest du gern von Willy hören wollen und nicht von Wehner. Aber ich habe ihn, Wehner, dafür auch geschätzt.
Gaus: Wir waren beide im Bundeskanzleramt Willy Brandts. Sie waren Bundesminister. Ich war beamteter Staatsekretär geworden. Um die Jahreswende 1973/74 dreht es sich. Da gab es einen schweren Tarifkonflikt im öffentlichen Dienst. Und wir beide, Herr Bahr, haben mit, ich glaube, gemeinsamem Entsetzen gesehen, dass sich Willy Brandt seinerzeit mehr für das Redigieren eines Memoirenbuches zu interessieren schien. Jedenfalls: Er lebte sehr entrückt, und man konnte den Eindruck haben, er war dem Amt nicht mehr gewachsen, unabhängig von der Frage Guillaume, dem DDR-Spion. Ist das ganz falsch gesehen im Rückblick?
Bahr: Ich würde sofort zugeben, dass Brandt in der Phase 1973, insbesondere im Herbst, Schwächeperioden hatte. Und dass er auch resignative Perioden hatte, die es übrigens immer wieder gab. Aber ich hatte das Gefühl, dass er das im Frühjahr 1974 überwunden hatte. Ich hatte nicht nur das Gefühl, sondern ich war überzeugt davon. Als wir aus Ägypten wiederkamen, hatten wir dieses neue Kabinett gebildet, und er hatte den festen Entschluss gefasst, wieder loszumarschieren.
Gaus: Zur Person Egon Bahr: Geboren am 18. März 1922 in Treffurt in Thüringen, Lehrerskind, Schulbesuch in Torgau und in Berlin. Berufswunsch Musiker. Es gab aber wegen einer jüdischen Großmutter keine Studienerlaubnis. Auch keine Chance auf eine Offizierslaufbahn, die der junge Egon Bahr vielleicht ganz gerne eingeschlagen hätte. Ausbildung zum kaufmännischen Angestellten, Arbeit im Berliner Rüstungsbetrieb Borsig. Nach dem Krieg 1945 Journalist. Im Jahr 1956 Eintritt in die SPD, enger Mitarbeiter Willy Brandts. Mit ihm im Laufe der Zeit aus dem Schöneberger Rathaus in Westberlin über das Bonner Auswärtige Amt ins Bundeskanzleramt. Schließlich Bundesminister, Bundestagsabgeordneter. Im Spaß habe ich Ihnen manchmal gesagt: Im Grunde sind Sie zusammen mit Herbert Wehner einer von den zwei letzten Deutschnationalen. Das war nicht nur Spaß. Sie haben nach meinem Eindruck gelegentlich deutsch-nationale Züge an sich. Warum sind ausgerechnet Sie bei der Rechten so verhasst?
Bahr: Ich glaube, der wichtigste Punkt ist, dass es einige Rechte gibt, die meinen Beitrag für die größte Wahlniederlage der CDU/CSU im Laufe der Geschichte nicht vergessen können. Das war 1972. Das ist gleichzeitig der größte Erfolg der SPD in der Geschichte. Ich glaube, daran habe ich einen gewissen Anteil. Und zweitens: Wenn man die Sozis in die Ecke der Vaterlandsverräter stellen kann, ist das jedenfalls für Konservative immer bequemer als umgekehrt.
Gaus: Ich knüpfe an eine Frage an, die ich ganz am Anfang gestellt habe: Kränkt es Sie? Sie haben eingangs gesagt: „Früher hat es mich gekränkt“. Ist das Gewöhnung? Kann man sich an die Unterstellungen, die Sie Ihr Lebtag begleitet haben, gewöhnen?
Bahr: Nein. Zuerst kränkt es schrecklich, und man ist erbittert. Mehr als einmal hat man vielleicht gedacht: „Die sollen mich am Arsch lecken, ich gehe nach Hause.“ Ich muss das nicht. Ich kann mein Geld woanders leichter und davon mehr verdienen. Wenn man – ich sage das noch mal – ein gutes Gewissen hat, dann fängt das an, nicht mehr zu schmerzen. Und dann perlt es eines Tages sogar ab. Weil man weiß: es kann dich in Wirklichkeit nicht treffen. Dann gibt es Rückfälle. Aber ich hoffe, dass ich inzwischen gelassen genug bin.
Gaus: In Ihrem Büro im alten Bundeskanzleramt in Bonn hing ein Porträt von Moltke. War das kleidsam? War das Bild gerade zur Verfügung, oder war es mit Bedacht ausgesucht?
Bahr: Das Gemälde war nicht ausgesucht worden. Es hing dort. Ich bin gefragt worden, ob es abgehängt werden soll. Ich habe gar nicht dran gedacht, es abhängen zu lassen. Erstens weil der Maler Lenbach hieß. Und zweitens, weil ich den Moltke als großen Schweiger bewunderte. Und immerhin hatte er das letzte Mal einen Krieg gewonnen, nicht?
Gaus: Was Ihnen was bedeutete?
Bahr: Ja, selbstverständlich. Danach wurden ja zwei Kriege verloren.
Gaus: Was Ihnen auch etwas bedeutete.
Bahr: Ja, selbstverständlich.
Gaus: Was ist für Sie der 8. Mai 1945?
Bahr: Der 8. Mai ist nicht ohne den 30. Januar 1933 zu denken. Eine Mischung von Unglück und Befreiung. Er hat uns vom Nazismus befreit. Für mich war er eine Befreiung.
Gaus: Ist Egon Bahr aus Neigung, aus Begabung weit mehr dem Staat verpflichtet als der Gesellschaft? Sind Sie eher ein Staatsmann als ein Politiker?
Bahr: Das sind Begriffe, die ich nicht ins Verhältnis gegeneinander gestellt wissen möchte.
Gaus: Ich nehme die Begriffe zurück und frage: mehr dem Staat verpflichtet – oder mehr der Gesellschaft?
Bahr: Was ist die res publica? Das ist Staat. Auch die Gesellschaft ist Staat. Es gibt doch keinen Staat ohne Gesellschaft.
Gaus: Zuerst sagen Sie Staat, und dann sagen Sie Stadt: res publica. Erst der Staat?
Bahr: Stadt und Staat.
Gaus: Aber es ist Ihnen recht so?
Bahr: Natürlich, weil es die einzige Form ist, in der sich die Gesellschaft sehr vernünftig organisiert hat.
Gaus: Warum den Anschluss an die SPD – außer der Bindung, die politisch bewusste und dann auch persönliche Bindung an Brandt? Was sonst hat Sie zur SPD gebracht? Die SPD hatte immer ihre Schwierigkeiten mit dem Staat.
Bahr: Herr Gaus, das habe ich nicht so gesehen. Ich bin aus dem Krieg gekommen und hatte – auch mit dem Hintergrund der humanistischen Bildung – das Gefühl: Du musst was dafür tun, dass so etwas nie wieder passiert! Der erste, der mir begegnete und mich tief beeindruckt hat, war Jakob Kaiser. Wenn ich damals gefragt worden wäre, ob ich in eine Partei wolle, dann hätte ich mich der CDU von Jakob Kaiser angeschlossen, ihrem Ahlener Programm mit der Brückenfunktion und der aufrechten Haltung gegenüber den Siegern. Und eben nicht Schumacher, der mir ein bisschen zu nationalistisch war. Ich bin zur SPD gekommen, nachdem ich in Bonn als Korrespondent gelernt und gesehen hatte, dass Adenauer die Einheit in Wirklichkeit nicht wollte und das Volk insofern belog. Es mag sein: in bester Absicht und in der Überzeugung, es sei gar nichts anderes drin. Deshalb kam ich zur SPD. Wenn Sie so wollen: wieder aus nationalen Gründen. Nicht, das gebe ich sofort zu, wegen der gesellschaftlichen Forderungen der SPD. Die Vergesellschaftung von Banken etc. erschien mir sinnlos. Das stand zwar im Ahlener Programm, aber darüber war die Zeit hinweggegangen. Das hatte Erhard beseitigt.
Gaus: Glauben Sie, dass Adenauer ein gutes Gewissen hatte, als er das tat, von dem Sie sagen, er hat das Volk belogen?
Bahr: Es war das Geheimnis Adenauers, immer ein gutes Gewissen zu haben. Auch dann, wenn andere es vielleicht nicht mehr hatten.
Gaus: War das jetzt eine Respektsbezeugung oder eine Verurteilung?
Bahr: Beides.
Gaus: Oder war es Respekt vor der Verurteilung?
Bahr: Beides.
Gaus: Sie, Herr Bahr, haben den westdeutschen Beitrag zur Ost-West-Entspannungspolitik in den 60er und 70er Jahren maßgeblich vorausgedacht. Ihr Wort vom „Wandel durch Annäherung“ in Tutzing 1963 hat Sie berühmt gemacht. Sie haben den westdeutschen Beitrag zur Entspannungspolitik vorausgedacht. Sie haben ihn geplant und dann auch in Vertragsverhandlungen, vor allem mit Moskau und Ostberlin, entscheidend mitgestaltet. Viele Fragen. Als erste in diesem Zusammenhang eine nach rückwärts gewandte Spekulation. Was wäre in Europa geschehen, wenn es die Entspannungspolitik nicht gegeben hätte?
Bahr: Dann wäre die Konfrontation fortgesetzt worden. Dann hätte sich gezeigt, dass die Deutschen unfähig sind, sich selbst zu bewegen. Dann hätte man über sie bestimmt. Und dann hätten die beiden Supermächte natürlich auch nicht davor zurückgeschreckt, Krieg in Deutschland, über Deutschland, mit Deutschland und gegen Deutschland zu machen.
Gaus: Ist die Entspannungspolitik ein Opfer Ihrer Erfolge geworden?
Bahr: Sie hat im Grunde das erreicht, was sie sich vorgenommen hatte.
Gaus: Hatte sie sich den Zusammenbruch des Ostblocks vorgenommen?
Bahr: Sie hatte sich a) die deutsche Einheit vorgenommen, und b) einen Zustand der Sicherheit in Europa zu schaffen, in dem der Ostblock, insbesondere die Sowjetunion, nicht mehr als Bedrohung empfunden werden konnte.
Gaus: Ist es für Sie eine moralische Kategorie, die staatliche Einheit gewollt zu haben?
Bahr: Nein, das war für mich ein selbstverständliches Ergebnis.
Gaus: Wer das nicht wollte, ist das ein Verworfener?
Bahr: Man muss akzeptieren, dass in der DDR und in der alten Bundesrepublik Menschen lebten, die inzwischen Loyalitäten zu ihren beiden Staaten entwickelt hatten.
Gaus: Heute sagt man zuweilen: Wenn die Entspannungspolitik nicht betrieben worden wäre, hätte es keine Stabilisierung des Ostblocks, vor allem der DDR, gegeben. Und die Einheit hätte sich viel früher eingestellt. Ist das, was Sie und Ihresgleichen in solchen Fällen dann sagen, der mühsame Rechtfertigungsversuch dafür, dass man einen großen Teil seines Lebens an diese Arbeit hingegeben hat?
Bahr: Dieser Vorwurf ist Quatsch. Es gab eine große Stabilisierung der DDR. Das war der Interzonenhandel von Adenauer. Damit war die DDR einen Schritt in der späteren EG. Und der zweite große Schritt der Stabilisierung der DDR bestand in zwanzig sowjetischen Divisionen. Mein Gott, wie konnte man die DDR mehr stabilisieren, als durch die sowjetischen Truppen hier?
Gaus: Bismarck und Metternich. Sagen Sie etwas oder mehreres über den einen und den anderen.
Bahr: Also Metternichs Konstrukt hat immerhin eine ganze Reihe von Jahrzehnten gehalten.
Bismarck empfand und empfinde ich als einen großen Deutschen, der es verstanden hat, aus der Mitte Europas zu denken und eine Struktur zu schaffen, die 35, 40, 45 Jahre gehalten hat. Er hat gesehen: Wenn dieses Deutschland saturiert ist, wie er gesagt hat, stellte es keine Bedrohung mehr dar und würde es auch nicht mehr als Bedrohung empfunden werden. Der Fehler Bismarcks bestand wohl darin, dass sein System zu kompliziert war, als dass es einer seiner einfacher gestrickten Nachfolger hätte managen können.
Gaus: Ich will Sie nicht verlocken, sich durch einen Größenvergleich einem schrecklich peinlichen Missverständnis auszusetzen. Dennoch frage ich: Hätten Sie mit allen Bällen, die Bismarck in die Luft geworfen hatte, spielen können?
Bahr: Wir haben, als es um das Berlin-Abkommen ging, gezwungenermaßen mit mindestens sechs Bällen spielen müssen.
Gaus: Wer ist ›wir‹?
Bahr: Brandt, Scheel und ich. Das heißt die Vier Mächte und die beiden deutschen Staaten.
Gaus: Was war das Schwerste?
Bahr: Das Schwerste war, keinen Ball fallen zu lassen. Das wirklich Schwerste, das habe ich so noch nicht gesagt, bestand in unserem Wissen, dass zum ersten Mal nach dem Kriege die Deutschen die beiden Supermächte an die Hand nehmen und zusammenführen mussten. Das durften wir natürlich um alles in der Welt zu keinem Zeitpunkt auch nur erkennen lassen. Sonst hätte das alles nicht funktioniert.
Gaus: Es hat in Bonn während der deutschen Teilung zwei Denkschulen gegeben. Die eine hat gesagt: „Was soll ich zu Schmittchen gehen, wenn ich zu Schmitt gehen kann?“ Das heißt, was soll ich zur DDR gehen, wenn ich zur Sowjetunion gehen kann. Und hat die DDR-Deutschen, die DDR als politischen Faktor in Mitteleuropa gering geschätzt und gemeint: Wir tun, was nötig ist, damit sie nicht querschießt, aber im Übrigen machen wir alles mit Moskau. Die andere Denkschule hat gesagt: „Wir müssen die DDR fördern, damit sie sich verpflichtet fühlt, die internationalen Spielregeln einzuhalten, sie nicht bedenkenlos bricht. Weil das den Verhältnissen in beiden deutschen Staaten, den Verhältnissen, unter denen in der Teilung zu leben war, ein bisschen Milderung verschafft.“ Was sagen Sie zu dieser Neigung der Westdeutschen, es lieber in Moskau zu versuchen?
Bahr: Erstens: Das eine schließt das andere nicht aus. Zweitens: Wir beide waren auf der jeweils anderen Seite der Barrikaden. Sie, Herr Gaus, haben der DDR mehr zugetraut, ihr mehr inneres Gewicht gegeben, als ich. Drittens gab es für mich überhaupt keinen Zweifel: Es hatte in Moskau zu beginnen. Moskau war der entscheidende Partner, der einzige, der die DDR-Regierung, die unser Feind war, weil sie von der Teilung und mit der Teilung lebte, bewegen konnte, vernünftig zu werden. Nachdem viertens der Moskauer Vertrag erledigt, abgeschlossen war, das Interesse der Sowjetunion an verbesserten Beziehungen mit uns geweckt war, bekam selbstverständlich die DDR ein erhöhtes Gewicht. In Ihrer Frage kann ich nicht akzeptieren, dass Sie die DDR-Regierung und DDR-Bevölkerung gleichstellen. Ich habe unterschieden zwischen dem Regime und den Menschen. Ich habe sehr genau gesehen, und das war mir bewusst: Es war ein Markstein in der deutschen Nachkriegsgeschichte, als beim Transitabkommen sich zum ersten Mal die beiden deutschen Staaten verständigen mussten, weil ansonsten die Vier Mächte nicht mehr hätten über Deutschland bestimmen können. Ohne unsere Vereinbarung wäre die Sache nicht wirksam geworden. Man muss das im Ablauf der Zeiten sehen. Im Ablauf der Zeiten hat die DDR eine stärkere Position und auch eine gewachsene Stärke im Verhältnis zur Bundesrepublik gewonnen.
Gaus: Hermann Axen, Politbüromitglied der SED, zuständig für internationale Fragen, für Außenpolitik, im Grunde der Super-Außenminister in der DDR, inzwischen verstorben, war ein häufiger Gesprächspartner von Ihnen. Herr Bahr, hatten Sie ein herzliches Verhältnis zu ihm?
Bahr: Zunächst einmal fand ich ihn schrecklich, weil ich ihn ja nur von Bildern aus dem Neuen Deutschland und von seinen Erklärungen her kannte. Ein kalter Apparatschik, ein reiner Funktionär. Das war die Eingangsvorstellung. Im Laufe der Zeit habe ich dann verstanden, dass Hermann Axen ein Sensibelchen war und ein gebildeter Mensch, der wirklich die Geschichte der Arbeiterbewegung als etwas empfand, was man nicht vergessen dürfe, woran man auch arbeiten müsse. Ich glaube, ich habe ein persönlich gutes Verhältnis zu ihm bekommen und bedaure, dass ich viele Gespräche, die ich hätte mit ihm haben können, nicht mehr haben konnte. Übrigens habe ich ihm auch noch mal gesagt, dass ich ihn in manchen Frage als zu feige empfand. Weil er als Politbüromitglied das eine oder andere hätte sagen müssen, es aber nicht getan hat.
Gaus: Fühlen Sie sich ganz wohl bei der Aussicht auf einen Prozess gegen Egon Krenz und andere Mitglieder des Politbüros?
Bahr: Da fühle ich mich ganz unwohl. Ich könnte jetzt hochmütig sagen, was ich aber nicht tue: Ich bin gespannt, welche Art von Schuld sie Leuten nachweisen wollen, die ihre Pflicht getan haben, loyal gegenüber ihrem Staat, entsprechend den Gesetzen dieses Staates. Es sei denn, sie haben Gesetze dieses Staates überschritten.
Gaus: Definieren Sie bitte, was Moral ist in der Außenpolitik – aber jetzt nicht nur als Gradmesser des eigenen Gewissens?
Bahr: Ich glaube, dass es ohne ethische Grundsätze, ohne das Geländer der Moral nicht geht. Es tut mir schrecklich leid, auch wenn Sie mir das verbieten wollen: Die letzte Instanz dafür, was erlaubt und was nicht erlaubt ist, bleibt das Gewissen.
Gaus: Ich will’s Ihnen nicht verbieten. Aber Sie haben bereits zweimal als Antwort auf das Gewissen verwiesen. Und in der Außenpolitik, so wie sie im demokratischen Zeitalter, in dem wir leben, betrieben wird, wird Moral auch zum Beispiel von Menschenrechten bestimmt. Oder – es ist neuerdings wieder mehr im Schwange – von dem Anspruch, nationale Identität zu wahren. Das sind alles Dinge, die nicht unbedingt vom Gewissen umspannt werden, sondern davor gelagert sind oder dazu kommen. Darum habe ich gesagt: „Nicht nur aufs Gewissen verweisen.“ Wir leben in einem demokratischen Zeitalter. Zu dieser Massendemokratie gehören, was unvermeidlich geworden ist, Stimmungsmache, Emotionen, gehören Propaganda und Agitation, unterschiedlich in der Machart, das gibt es in jedem System. Macht uns das außenpolitisch handlungsunfähiger, belastet das die Möglichkeiten?
Bahr: Selbstverständlich. Abgesehen davon, dass es zum Teil dumm ist. Es ist dumm, Menschenrechte zum Beispiel als Keule zu benutzen. Was zu Hause sehr populär ist. Aber natürlich nicht dazu beitragen kann, etwas zu erreichen. Wenn ich wirklich etwas ändern will. Ich könnte Ihnen eine Reihe von Beispielen nennen, wo ich entsetzt war. Außerdem finde ich es sehr fragwürdig, wenn man unseren Menschenrechtsbegriff, der vom christlichen Abendland geprägt ist, mit großer Selbstverständlichkeit von anderen Kulturkreisen einfordert. Das ist nicht möglich. Es gibt bestimmte Menschenrechtsformulierungen in der Charta der Vereinten Nationen, die werden zum Teil gleich, zum Teil unterschiedlich formuliert, auf die kann man sich zurückziehen. Aber ich halte den Begriff des Friedens für wichtiger, wenn diese Welt überleben soll, als den Begriff der Menschenrechte.
Gaus: Mit der Auflösung der Blöcke hat in Europa die Stabilität ihr Gewicht verloren. Sie ist geringer geworden. Es kommt wieder schneller zu Kriegen. Fallen wir ins 19. Jahrhundert zurück?
Bahr: Diese Gefahr besteht. Ich würde vorher jedoch gern auf ihre letzte Frage in einem Punkt zurückkommen. Der Brandt, von dem ich nicht sagen kann, dass er ein unmoralischer Mensch gewesen sei, hat die fabelhafte Formulierung benutzt: „Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts.“ Zunächst mal geht es darum zu überleben. Ich sehe selbstverständlich, dass – aus der Disziplin des Kalten Krieges entlassen – sich viele Nationen jetzt den Luxus glauben leisten zu können, mal wieder ein bisschen Krieg zu spielen. Die Gefahr des atomaren Untergangs besteht nicht mehr. Sie ist annähernd auf Null reduziert. Nicht zwischen den beiden Großen, da gibt es die Gefahr nach wie vor.
Gaus: Haben Sie je geglaubt, dass es zwischen den beiden Großen in der Stabilität des Systems von Jalta zu einem Krieg kommen könnte?
Bahr: Absolut. Menschlicher Irrtum oder auch Verkennung von Umständen … Die Diskussion eines auf Europa oder Deutschland begrenzten atomaren Krieges ist ja nicht meine Erfindung gewesen. Das war eine amerikanische Diskussion. Zurück zur Gegenwart: Ich bin nach wie vor der Auffassung, dass wir kein Konzept haben, an den wir die verschiedenen Konflikte messen und beurteilen können. Warum sollten 20 Millionen Kurden eigentlich weniger Recht auf Selbstbestimmung haben als die Kroaten, die Bosnier, die Tschetschenen? Wo fängt der Punkt an, wo ich zweifelsfrei definieren kann: Ein Volk mit eigener Geschichte und eigener Identität hat ein Recht auf einen eigenen Staat?
Gaus: Wo fängt also unsere Moral in der Außenpolitik an?
Bahr: Die Moral in der Außenpolitik fängt an, indem man sagt: ›Gewaltfreiheit ist das oberste Gebot.‹
Gaus: Hätten wir uns in der Jugoslawienpolitik anders verhalten sollen?
Bahr: Selbstverständlich. Wir haben viel zu früh anerkannt oder auf Anerkennung gedrungen. Keine Partei kann sich von diesem Fehler ausnehmen. Ich bin der Auffassung, dass Gewaltverzicht zur Veränderung bestehender Grenzen, egal wie sie zustande gekommen sind, das erste Gebot sein muss. Natürlich mit Minderheitsrechten für die Minderheiten auf jeder Seite.
Gaus: Ist das so realistisch wie der Traum der Sozialisten vom Sozialismus?
Bahr: Gewaltfreiheit ist über jede Kultur, über jede Gesellschaftsordnung hinaus klar definierbar.
Gaus: Ist es nicht doch so, dass wir, Sie, ich, unsere Generation erleben mussten, dass die Erwartung, die wir 1945 hatten, was alles unter das Wort „Nie wieder“ fallen würde, uns größtenteils getrogen hat? dass wir uns Hoffnungen gemacht haben, die nicht erfüllt worden sind, weil das Nationale, der Nationalismus wieder Oberhand gewonnen hat?
Bahr: Meine Hoffung, die sich nicht erfüllt hat, ist die, dass es keine Kriege mehr geben wird. Ich hatte wirklich gehofft und geglaubt, der phantastische Ansatz der Vereinten Nationen – die globale, kollektive Sicherheit – würde, aus gewisser Erfahrung des Völkerbundes korrigiert, funktionieren.
Gaus: Genieren Sie sich manchmal wegen dieser Hoffnung, oder sind Sie nur traurig?
Bahr: Ich bin nur traurig, denn ich sehe kein anderes Ziel. Ich sehe die Notwendigkeit, die Vereinten Nationen zu stärken.
Gaus: Hat der Westen, haben nicht jene, die die Moral auf ihrer Seite wähnten – notfalls auf Biegen und Brechen der Wahrheit, Herr Bahr –, nicht im Kalten Krieg mitgebaut an der Berliner Mauer?
Bahr: Man darf Ursache und Wirkung nicht verwechseln. Man darf nich übersehen oder vergessen, wer die Mauer gebaut hat. Aber dass das wechselseitig war, dass da eine gegenseitige Beeinflussung stattgefunden hat, kann nicht in Abrede gestellt werden.
Doch zum Problem generell: Wenn wir nicht imstande sind, unseren Verstand zum Richtmesser unseres Verhaltens zu machen, wird die Welt untergehen.
Gaus: Verstand und Elite: Können Sie sagen, wie Sie sich eine Elite denken, an der Sie nicht Anstoß nehmen?
Bahr: Kann ich mir im Augenblick nicht denken. Das müssen Sie genauer beschreiben.
Gaus: Ich will es versuchen. Es muss ausgeschlossen sein, dass man durch Geburt hinein kommt. Es muss ausgeschlossen sein, dass man durch Vermögen hinein kommt. Das heißt, es muss gesichert sein, dass alle einen möglichst gleich harten – Unterschiede wird es immer geben, ich rede nicht von Begabung, sondern von der Startchance – Zugang zum Eingangstor zu dieser Elite haben. Sind wir da einen Schritt weiter gekommen in den letzten zehn Jahren, oder sind wir in die falsche Richtung abgekommen?
Bahr: In den letzten zehn Jahren hat sich in Westdeutschland nicht sehr viel verändert. Ich glaube, die Startchancen in Ostdeutschland sind total verändert worden. Sie sind schlechter als die in Westdeutschland. Insofern haben wir da einen großen Nachholbedarf.
Gaus: Können Sie sagen, was es an Grundfehlern der Arten, gar nicht im Detail, der Mentalitäten auf der Seite der Westdeutschen gegenüber dem ostdeutschen Teil gegeben hat?
Bahr: Der wichtigste Punkt ist, und ich nehme mich da nicht aus, dass wir das Problem der Mentalitätsunterschiede überhaupt nicht gesehen und erkannt haben. Es gibt zwei Klassiker: Von Dohnányi ist das eine Buch „Das Wagnis“ und das andere Buch „Der Einheitsvertrag“ von Schäuble, in beiden kommt das Wort Mentalität gar nicht vor. Weiterhin glaube ich, dass die Westdeutschen nicht gesehen haben und auch nicht sehen, dass Deutschland für den verlorenen Krieg bezahlen muss. Und dass diese Bezahlung, weitgehend von der DDR übernommen, nun nachträglich mitbezahlt werden muss von Westdeutschland.
Gaus: Erlauben Sie mir eine letzte Frage: Was hätten Sie gern, dass man Ihnen nachruft, wenn Sie tot sind, Herr Bahr?
Bahr: Er hat sich bemüht.