Sendung vom 27.05.1964 - Koestler, Arthur
Günter Gaus im Gespräch mit Arthur Koestler
Ich war ein schlechter Kommunist
Arthur Koestler, geboren am 5. September 1905 in Budapest, gestorben am 3. März 1983 in London (Freitod).
Sohn eines jüdischen Industriellen, dessen Vater aus Rußland nach Ungarn eingewandert war. 1922 bis 1926 Studium der Ingenieurwissenschaften.
Er wurde Zionist und ging 1926 – ohne sein Studium beendet zu haben – nach Palästina. Ab 1927 Auslandskorrespondent von „Ullstein“ in Palästina und Paris. 1930 kehrte er als wissenschaftlicher Redakteur nach Berlin zurück und wurde bald außenpolitischer Redakteur der „B.Z. am Mittag“. Im Sommer 1931 nahm er als einziger Reporter am Nordpolflug des Luftschiffs „Graf Zeppelin“ teil. Von 1931 bis 1937 Mitglied der KPD.
Berichterstatter im Spanischen Bürgerkrieg, Gefangenschaft, Verurteilung zum Tode, dann aber ausgetauscht gegen einen Franco-Diplomaten. Ab 1940 Aufenthalt in England, Kriegsberichterstatter des „Manchester Guardian“. 1948 britischer Staatsbürger. Seit 1965 war Koestler in dritter Ehe verheiratet. Mit seiner Frau zusammen schied er freiwillig aus dem Leben. Er litt an Leukämie.
In seinem Testament hinterließ er 400.000 Pfund Sterling für die Gründung eines Lehrstuhls für Parapsychologie an einer englischen Universität.
Veröffentlichungen: „Ein spanisches Testament“, „Die Gladiatoren“, „Sonnenfinsternis“, „Ein Mann springt in die Tiefe“, „Der Yogi und der Kommissar“, „Der göttliche Funke“, „Der Mensch, Irrläufer der Evolution“, „Das rote Jahrzehnt“.
Das Gespräch wurde gesendet am 27. Mai 1964.
Gaus: Herr Koestler, Sie sind heute ein Mann von 58 Jahren, im September 1905 wurden Sie in Budapest geboren. Ihr Leben war das eines Umhergestoßenen, eines durch viele, viele Widersprüche Gegangenen. Sie waren Mitglied der Kommunistischen Partei, Sie haben sich von der Kommunistischen Partei getrennt. Man hat mit Ihrem Namen eine Zeit lang den Begriff des heimatlosen Linken verbunden, überhaupt: des Heimatlosen. Lassen Sie mich meine erste Frage zu Ihrem Porträt stellen: Haben Sie heute eine Heimat? Sie sind englischer Staatsangehöriger – haben Sie das Gefühl, daß Sie irgendwo Wurzeln haben?
Koestler: Wurzel ist eine Metapher. Ich glaube: Das Zeichen dafür, wohin man gehört, ist Heimweh. Die Kirchturmspitze der Kindheit. Ich hab Heimweh nach vielen Ländern.
Gaus: Nach welchen Ländern hatten Sie Heimweh?
Koestler: Ungarn, Wien, Indien, sogar Japan, wo ich vier Monate verbrachte. In dem Sinne bin ich wirklich ein Kosmopolit.
Gaus: Und Sie empfinden es als einen Vorzug, kosmopolitisch zu empfinden?
Koestler: Ja, wissen Sie, einstmals wurde gesagt, der Proletarier habe kein Vaterland, er habe nichts zu verlieren als seine Ketten. Nationalismus wurde von daher als eine überholte Angelegenheit behandelt. Dann plötzlich änderte sich das, und man brachte gegen mich dieses Schlagwort vom wurzellosen Kosmopoliten auf ... was ein Schimpfwort war, also vom Osten her. Aber ich glaube, wenn man berufsmäßig ein Schriftsteller ist, dann hat man die wesentlichen Wurzeln in der Sprache.
Gaus: Sie haben ungarisch angefangen zu denken und zu schreiben. Sie haben dann deutsch geschrieben und schreiben jetzt englisch. Ist das nicht ein weiteres Erschwernis, Wurzeln zu schlagen, oder ist dieser häufige Sprachwechsel ein Gewinn gewesen? In dem Sinne, daß für den Schriftsteller mit jedem Wechsel der Sprache ein naiver Neubeginn, die Segnungen des Neubeginns verbunden gewesen sind?
Koestler: Ja, beides. Natürlich, man plagt sich, um eine neue Sprache zu meistern, aber andererseits spielt das hinein, was Sie sagten. Ungarisch? Schrieb und sprach ich bis zu meinem siebzehnten Jahr. Deutsch schrieb ich eigentlich nicht, ich schrieb österreichisch, und in den letzten zwanzig Jahren nun nur noch englisch. Man gewöhnt sich. Es kommt nicht aus dem Sprechen, es kommt aus dem Unterbewußtsein – in welcher Sprache man träumt, in welcher Sprache man denkt.
Gaus: In welcher Sprache träumen Sie jetzt?
Koestler: Träumen tue ich noch gemischt, ungarisch, auch französisch und deutsch. Aber denken kann ich eigentlich nur noch englisch.
Gaus: Ich verstehe.
Koestler: Jetzt übersetze ich alles, aus dem Englischen ins Deutsche.
Gaus: Auch in diesem Gespräch?
Koestler: Die Hälfte, ja.
Gaus: In Ihrer Jugend, Herr Koestler, die Sie als Sohn eines Ungarn und einer Österreicherin teils in Budapest, teils in Wien verbracht haben, in Ihrer Jugend galten Sie als eine Art intellektuelles Wunderkind. Sie waren sowohl technisch, naturwissenschaftlich als auch geisteswissenschaftlich extrem begabt. Ich würde gern wissen: Eine solche Außergewöhnlichkeit schon in jungen Jahren – kann das eine Last für das ganze weitere Leben sein?
Koestler: Ich glaube, verwöhnt zu werden, ist immer schlimm. Andererseits gibt es – jetzt denke ich plötzlich deutsch – diesen Ausdruck »Frühreife«. Das ist durchaus irreführend, denn man wird zwar früh klug, aber es ist keine Reife. Weil es keine gemütsmäßige Reife ist.
Gaus: Bloß eine vom Verstand?
Koestler: Bloß eine intellektuelle Reife, aber keine seelische, und die meisten so genannten Wunderkinder haben deshalb eine verspätete Entwicklung.
Gaus: Sie haben von sich selbst gesagt, daß Sie bis ins 30. Lebensjahr gefühlsmäßig ein Kind geblieben, jedenfalls nicht erwachsen geworden seien.
Koestler: Ein Halbwüchsiger.
Gaus: Hat das Ihre politischen Intentionen mitbestimmt, diese langanhaltende Phase Ihrer Entwicklung?
Koestler: Doch, schon. Wenn man unreif ist, also so lange halbwüchsig bleibt, ist man doch unrealistisch romantisch, ja, man hat eine romantische Tendenz.
Gaus: Herr Koestler, in Ihrer Autobiographie haben Sie sich als einen schüchternen, von Komplexen geplagten jungen Mann beschrieben. Dennoch scheinen Sie nicht, was doch nahegelegen hätte, ein allein auf sich selbst bezogenes, ganz in sich gekehrtes Leben gesucht zu haben. Sondern, ganz im Gegenteil: Sie suchten den Anschluß an ein geschlossenes Denksystem, an ein geschlossenes Glaubenssystem. War das ein bewußter Schritt, um die Komplexe zu überwinden, oder war dies ein unbewußter Vorgang?
Koestler: Das sind drei, vier verschiedene Fragen, denn Schüchternheit und Gehemmtheit haben nicht direkt zu tun mit einem bewußten In-sich-Gekehrtsein, mit Introvertiertheit.
Gaus: Es muß nicht so sein. Aber ist es nicht eine Erleichterung, in sich gekehrt zu leben, wenn man schüchtern ist?
Koestler: Ach, nicht einmal das. Viele Schauspieler leiden unter unheilbarer Schüchternheit. Es sind zwei ganz verschiedene Dinge. Schüchternheit ist ein Gefühl der Unsicherheit, und man kann, wenn man nach außen gekehrt ist – also extrovertiert, wie Jung sagt –, genau so unsicher sein wie ein Introvertierter.
Gaus: Haben Sie die Unsicherheit überwinden wollen, als Sie den Anschluß an die überindividuelle Gemeinschaft und deren Aufgaben gesucht haben?
Koestler: Nein, nicht diese Unsicherheit, über die wir sprachen. Eine andere Unsicherheit.
Gaus: Welche?
Koestler: Eine metaphysische Unsicherheit, aber nicht das Linkische.
Gaus: Bevor Sie Kommunist wurden ...
Koestler: Wir sprechen aneinander vorbei.
Gaus: Ich bin nicht sicher, ob wir aneinander vorbeisprechen. Vielleicht gelingt es uns noch, dies ganz zu klären. Möglicherweise schon mit dieser Frage: Bevor Sie Kommunist wurden, Herr Koestler, haben Sie Mitte der 20er Jahre Ihr breitgefächertes Hochschulstudium in Wien von den Naturwissenschaften bis zur Philosophie und Literatur abgebrochen und sind als Anhänger des Zionismus nach Palästina gegangen, um in einem Kibbuz, in einer Kollektivfarm also, zu arbeiten. Warum haben Sie das getan? Was war der Grund, der Sie Anschluß suchen ließ in einer Gemeinschaft?
Koestler: Ich war davon überzeugt, daß die Juden ihre eigene Heimat haben müssen. Aber diese Überzeugung führte nur dazu, daß ich versuchte, als ein Bauer zu leben. Weil ich eben unreif und romantisch war.
Gaus: Sie haben später eine ähnliche Reaktion gezeigt, wie in diesem Falle, da Sie Bauer sein wollten: Als Sie Ende 1931 in die Kommunistische Partei Deutschlands eintraten, hatten Sie den Wunsch, als Traktorführer in die Sowjetunion geschickt zu werden. War das eine Flucht vor dem Intellekt?
Koestler: Nein. Da gibt es eine viel einfachere Antwort: Im Krieg kommt es nicht darauf an, ob man ein Dichter ist oder ein Musiker, sondern darauf, daß jeder ein Gewehr haben mußte. Andere Dinge zählen nicht.
Gaus: Für Sie war der Traktor in diesem Falle ein Gewehr im Krieg?
Koestler: Er war eine Waffe im Frieden.
Gaus: Ja. Warum ist das denn in Palästina so schief gegangen? Sie sind schon nach kurzer Zeit aus dieser Farm wieder ausgeschieden und haben sich als Gelegenheitsarbeiter durchschlagen müssen. Warum ging es schief?
Koestler: Diese Kommunen, diese Kibbuzim – das ist ein sehr klösterliches Leben, wissen Sie, eine ganz abgeschlossene Gemeinschaft, sehr hart und isoliert. Das ist wie der Eintritt in ein Kloster: Viele hören die Berufung, aber nur wenige sind ausgewählt.
Gaus: Haben Sie damals schon den Gedanken gefaßt, daß Sie möglicherweise nicht nur nicht für eine klosterähnliche Gemeinschaft ausgewählt sein könnten, sondern vom Typ her vielleicht überhaupt nicht zum Anschluß an ein Kollektiv taugen?
Koestler: Das weiß ich heute, das wußte ich damals nicht. Ich dachte damals, daß ich versagt hätte. Ich dachte nicht daran, eventuell eben wirklich nicht dazu berufen zu sein.
Gaus: Sie kamen wieder auf die Füße. Sie haben zunächst als Korrespondent, dann als Redakteur bei der „Ullstein Presse“ in Berlin gearbeitet, haben diese sehr gute Position aber aufs Spiel gesetzt, um Ende 1931 in die KPD einzutreten. Ich habe dazu mehrere Fragen, Herr Koestler.
Koestler: Darf ich noch eines richtig stellen?
Gaus: Bitte sehr.
Koestler: Sie sagten, ich hätte für die „Ullstein Presse“ in Berlin gearbeitet. Ich war Auslandskorrespondent im Mittleren Osten, in Paris usw.
Gaus: Waren aber schließlich außenpolitischer Redakteur.
Koestler: Eine Zeit lang, ja. Außenpolitischer Redakteur. Aber – und Sie merken das auch an meiner merkwürdigen Aussprache – in Deutschland selbst habe ich im Ganzen nur etwa 18 Monate gelebt.
Gaus: Nicht länger?
Koestler: Nicht länger. Vom Herbst 1930 bis 1932.
Gaus: Und dann sind Sie in die Sowjetunion gereist?
Koestler: Dann bin ich in die Sowjetunion gefahren.
Gaus: Ich habe zunächst, was den Eintritt in die Kommunistische Partei angeht, einige Fragen. Die erste sei von Ihrem persönlichen Fall getrennt. Ich hätte gern, Herr Koestler, daß Sie mir definieren, wie ein junger Mann beschaffen sein muß, ganz allgemein, der den entscheidenden Schritt tut, der eine bürgerliche Position gefährdet, um sich einer Sache wie dem Kommunismus anzuschließen. Seinerzeit, in der Endzeit der Weimarer Republik, haben viele junge Leute den Drang gehabt, in ein geschlossenes, intaktes Denkgebäude einzutreten. Die große Mehrheit unterläßt es dann doch. Die Minderheit, die es aber dennoch tut – hat die zu viel Glaubenssehnsucht, oder hat sie eine entscheidende Bremse zu wenig?
Koestler: Beides. Ich hab so viel über dieses Thema geschrieben ... es ist schwer zusammenzufassen … Ich glaube, es waren zwei entscheidende Dinge: eine Abstoßung und eine Anziehung. Die Abstoßung war eine vom Status quo. Sehen Sie, wir sprechen jetzt von 1931. Arbeitslosigkeit, Weltkrise, Lebensmittel wurden verbrannt, Kaffee wurde in Brasilien ins Meer geschüttet, Getreide wurde vernichtet, weil es einen Überschuß gab. Der Status quo war grausig, abstoßend. Und auf der anderen Seite gab es die Anziehung durch eine Utopie. Wir glaubten damals wirklich, irregeführter –, aber ehrlicherweise ans Land der Arbeiter, Bauern und Soldaten mit der marxistisch-hegelianischen Dialektik, dazu noch die Balalaika, die russischen Hemden, die Romantik der Steppen, Tolstoi und Dostojewski – all das zusammengemischt, das war die Utopie für uns. Also Abstoßung und Anziehung. Stellen Sie sich zwei Sprungfedern vor, eine zieht und eine stößt. Das, glaube ich, war damals ein sehr typisches Erlebnis. Hinzu kam noch, daß Hitler ante portas stand. Ein amerikanischer Journalist schrieb das berühmte Buch „Deutschland – so oder so“. Hakenkreuz oder Hammer und Sichel, das war die Alternative. Wir zogen Hammer und Sichel vor.
Gaus: Sie haben gesagt, Sie hätten viele Jahre Ihres Lebens in einem Zustand chronischer Empörung gegen Ungerechtigkeiten verbracht. Haben Sie sich diese chronische Empörung abgewöhnt?
Koestler: Ich versuch's immer noch.
Gaus: Chronisch empört zu sein gegen Ungerechtigkeit?
Koestler: Nein, mir das abzugewöhnen.
Gaus: Das abzugewöhnen? Halten Sie es für einen Gewinn, sich das abzugewöhnen?
Koestler: Ja, wissen Sie, das ist wie mit Arsen: In kleinen Dosen ist Arsen ein Stimulant, in großen Dosen ist es ein Gift.
Gaus: Ich verstehe.
Koestler: Empörung gegen das Unrecht ist das eine Ende des Spektrums, und das andere Ende ist Fanatismus.
Gaus: Sie haben Ihren Eintritt in die Kommunistische Partei und damit also auch die Beweggründe, die andere junge Leute seinerzeit veranlaßten, in die KPD einzutreten, bisher vornehmlich aus einer romantischen Haltung erklärt. Gab es darüber hinaus eine Verlockung, die in der Ideologie als solcher lag? Vielleicht, weil sie Ihnen besonders durchsichtig, besonders folgerichtig, besonders wissenschaftlich erschien?
Koestler: Ja, genau. Es war diese Mischung. Aber zuerst kommt der Glaubensakt, also die romantische Anziehung, die gefühlsmäßige Hingabe, der entscheidende Akt des Glaubens. Wenn man den begangen hat, jenen Akt, in dem man sich bekehrt zu Schlolastizismus oder Theologie oder orthodoxem Freudianismus oder Marxismus-Hegelianismus – wenn dieser Bekehrungsakt vollzogen ist, dann ist die Logik wunderbar, weil's ein geschlossenes System ist; es gibt fortan eine Antwort auf jede Frage.
Gaus: Ihnen erschien damals, wenn ich Sie in Ihren Büchern recht verstanden habe, die Welt wie ein offenes Buch, ein Buch, in dem man lesen konnte, auch in die Zukunft hinein lesen konnte – sofern man nur die richtigen Formeln hat. Inzwischen vergleichen Sie lieber das Leben mit einer Geheimschrift, von der man lediglich in wenigen begnadeten Augenblicken eine kleine, kleine Zeile lesen kann. Ist dieser Wandel – womit wir in Ihrem Lebenslauf weit vorgreifen – gleichzeitig verbunden gewesen mit einer Hinwendung zum Christentum?
Koestler: Zur Ethik des Christentums: ja. Zum Dogmatismus des Christentums: nein.
Gaus: Weil Sie, seit Sie kommunistischer Dogmatiker gewesen sind, gegen jede Dogmatik einen Vorbehalt haben?
Koestler: Nicht aus diesem Grunde.
Gaus: Haben Sie einmal darüber nachgedacht, welcher Gruppe, welcher Bewegung, welchem Denksystem, welcher geschlossenen Denkwelt Sie sich in der europäischen Vergangenheit vielleicht, Ihrem Typ nach, hätten anschließen mögen?
Koestler: Nein. Sich in die Vergangenheit, gar um Jahrhunderte zurückzudenken, das ist … Wissen Sie, es gibt einen Wiener Spruch: Wenn die Großmutter Räder hätte, wäre sie ein Omnibus. Was soll ich mich ins 15. Jahrhundert zurückdenken?
Gaus: Nun haben Sie in Ihrer Autobiographie einen sehr deutlichen Hang zur kritischen Selbstanalyse bewiesen – was viele Kritiker Arthur Koestlers sogar veranlaßt hat zu meinen, dies sei ein bißchen Exhibitionismus. Warum machen Sie rückblickend halt bei dieser Selbstanalyse? Sie haben niemals den Versuch gemacht, sich als Anhänger einer, sagen wir: bestimmten christlichen Sekte zu sehen, in der Vergangenheit?
Koestler: Die Denkakrobatik ist mir zu schwierig. Wir wissen viel von den geschichtlichen Vorgängen, wir wissen aber nichts über den einzelnen Menschen. Wir fühlen nicht, wie damals der einzelne ausgesehen, sich bewegt hat, wie er gerochen hat.
Gaus: Ich verstehe.
Koestler: Das ist kein Haltmachen.
Gaus: Die Kommunisten, Herr Koestler, haben Sie 1932/33 auf eine längere Reise in die Sowjetunion geschickt. Danach haben Sie für kommunistische Organisationen in Paris und, noch später, in Spanien während des Bürgerkriegs gearbeitet. Aus Ihren Büchern geht hervor, daß Sie schon ziemlich früh Zweifel an der Realisierungsmöglichkeit der kommunistischen Utopia gehabt, aber diese Zweifel immer beschwichtigt haben – mit dem Gedanken, es handle sich dabei nur um Kinderkrankheiten, um Entwicklungsschwierigkeiten, die man überwinden werde. Später erwies sich das als Selbstbetrug. Empfinden Sie heute ein Schuldgefühl oder ein Schamgefühl wegen dieses Selbstbetrugs?
Koestler: Ja, ich hab das sehr stark empfunden ... bis ich also jene Bücher schrieb, in denen ich das ... (zögert lange)
Gaus: Abgeladen haben.
Koestler: Ja, ich wollte „abgeladen“ sagen. Aber eben nicht nur abgeladen. Ich wollte auch versuchen, andere zu warnen, vor den gleichen Torheiten. Und dann fühlte ich irgendwann: Jetzt sind wir quitt. Wir sprechen jetzt also wirklich von der Vergangenheit. Ich hab' seit zehn Jahren alles aufgegeben.
Gaus: Politische Publizistik?
Koestler: Ja.
Gaus: Sie haben, so meinen Sie also, mit Ihren Büchern, was Sie an Schuld- und Schamgefühl gehabt haben, gelöscht. Es ist Ihnen gelungen, das zu tilgen?
Koestler: Das weiß der liebe Gott! Ich glaube, ja, bis zu einem gewissen Grade. Aber Sie stellten eine Frage, die Sie dann vergaßen oder die wir verloren hatten. Das ist nämlich eine interessante Frage. Sie fragten: An welchem Punkte setzte die Desillusionierung ein? Ich war sieben Jahre dabei. Wann war also der Punkt? Während Sie sprachen, fiel mir eine Antwort ein: Man kauft sich ein Dutzend Taschentücher, und die gehen allmählich in der Wäsche verloren. Wann, an welchem Punkt hat das angefangen?
Gaus: Wann hat man das erste Taschentuch verloren? Sie könnten es nicht sagen?
Koestler: Nein: Aber es war sehr früh. Es gibt einen Mechanismus, den die Psychologie Rationalisierung nennt. Man biegt sich die Dinge im Alltag zurecht. Es sind diese elastischen Abwehrmechanismen.
Gaus: Das bringt mich auf eine Frage, bezüglich der elastischen Abwehrmechanismen. Können Sie sich eine Situation vorstellen, in der Zeit, als sie noch Kommunist waren, in der ganz plötzlich, von jetzt auf sofort, die Abwehrmechanismen nicht mehr funktioniert hätten? In der Sie den radikalen Schritt aus der Partei vollzogen hätten? Ich denke beispielsweise an den – hier nur angenommenen – Auftrag, namens der Partei jemanden zu liquidieren, was es ja gegeben hat. Wenn Sie zurückschauen: Wäre dies ein Fall gewesen, von dem Sie glauben, Sie hätten sich so weit aufgegeben, ihn zu erfüllen? Hätten Sie diese Schwelle überschritten?
Koestler: Nein, denn ich war ein sehr schlechter Kommunist in dieser Hinsicht. Der Kommunismus sagt, daß der Zweck die Mittel heiligt, also alle Mittel. Das ist seine Philosophie.
Gaus: An die Sie doch aber mal geglaubt haben.
Koestler: An die ich mal geglaubt habe. Trotzdem: Ich war ein schlechter Kommunist. Ich hätte niemals einen derartigen Auftrag übernommen, und der wirkliche Bruch mit der Partei, also der formale, nicht der innerliche Bruch – von dem ich, wie gesagt, nicht weiß, wann er begann –, der formale Bruch also kam, als zwei meiner nächsten Freunde verhaftet wurden, in der Sowjetunion. Da war es aus.
Gaus: Das heißt also: Die letzte Barriere, die Sie trennte von dem Übertritt ans andere Ufer, die fiel, als zwei gute Freunde verhaftet wurden. Es waren menschliche Kontakte, die Sie endgültig von der kommunistischen Ideologie endgültig lösten?
Koestler: ... lösten vom entscheidenden Teil der Ideologie: daß der Zweck die Mittel heiligt.
Gaus: Ich verstehe. In Ihrer Autobiographie, Herr Koestler, haben Sie unter Berufung auf eine jüdische Legende, in der von 36 Gerechten die Rede ist, von Ihrer Überzeugung geschrieben, daß eine Handvoll von Gerechten auf der Welt dafür sorgt, daß diese Welt überhaupt am Leben bleiben kann. Sie haben außerdem einige dieser unbekannten, namenlosen Gerechten beschrieben, die Sie auf Ihrer Reise in der Sowjetunion getroffen haben. Ich hab dazu einige Fragen. Zunächst: Gehört es zum Wesen dieser wenigen Gerechten, das sie an ein festes, geschlossenes Glaubenssystem angeschlossen sind? Kann es Gerechte ohne Glauben geben, und gibt es in Ihrem Rückblick auf Ihre kommunistische Vergangenheit Teile der kommunistischen Lehre, aus der Zeit vor Stalin, die heute noch für Sie einen ethischen und moralischen Wert besitzen? Gibt es diese einzelnen Teile, und welche Teile sind es möglicherweise?
Koestler: Letzteres hat nichts mit der Frage dieser 36 mystischen Gerechten zu tun.
Gaus: Nun gut, aber die Menschen, von denen Sie geschrieben und die Sie in der Sowjetunion getroffen haben, könnten doch Gerechte sein – weil sie bestimmte Teile der kommunistischen Idee ...
Koestler: Nein, sie waren Gerechte, weil sie Individuen waren.
Gaus: Ich verstehe.
Koestler: Man fand Gerechte auch in der Nazipartei, und dieses Argument, Gerechtigkeit nur an die kommunistische Idee zu binden, das ist ein mystisches Argument, von dem ich wirklich nicht sehr viel halte. Das geht nicht. Nein, es gibt in jeder noch so entarteten Bewegung Individuen, die ihre eigene Heiligkeit besitzen.
Gaus: Jetzt von den Individuen abgesehen: Rückblickend auf Ihre kommunistische Vergangenheit – gibt es dennoch Teile der kommunistischen Lehre, denen Sie heute noch einen ethischen oder moralischen Wert beimessen?
Koestler: Die kritischen Teile gegen Feudalismus, Kapitalismus, Kinderarbeit in England, Engels Buch über die Bedingungen der Arbeiterklasse in Manchester usw. Das waren ungemein entscheidende Dinge auf der gesellschaftskritischen, der negierenden Seite. Auf der positiven Seite des Neuaufbaus einer anderen Welt – da kann man nicht Brocken herausnehmen, weil das ganze System auf einer einheitlichen Philosophie beruht. Erstens auf einer materialistischen Philosophie, zweitens eben auf dem Prinzip, daß der Zweck die Mittel heiligt, und drittens auf der Idee der Leugnung eines Selbstwertes des Individuums. Ein Individuum im Marxismus ist eine Masse von einer Million, dividiert durch eine Million. Das ist das Individuum. Es gibt keinen Selbstwert, und daher lehne ich das ab.
Gaus: Der Kommunismus ist in den 20er Jahren eine große Verführung für einige der aufgeschlossensten Geister gewesen, zum Beispiel auch für Sie. Heute ist er diskreditiert. Glauben Sie, daß die seinerzeitige Hingabe – selbst an einen Irrglauben – von Wert gewesen ist? Weil Hingabe an sich schon menschliche Qualitäten freisetzt?
Koestler: Nein. Diese Energien, die da fanatisiert wurden, die hätten anders viel besser kanalisiert werden können. Nehmen Sie ein einfaches Beispiel: Wenn die Kommunistische Partei Deutschlands, statt herumzumanövrieren und zu sagen, der Hauptfeind sei die Sozialdemokratie, wirklich Widerstand geleistet hätte, als die Nazis ante portas waren, dann wären die ganzen Energien auf eine Art kanalisiert worden, die das Schlimme vielleicht verhindert hätte.
Gaus: Die Welt ist also nicht ärmer geworden dadurch, Herr Koestler, daß die Versuchung nicht mehr existiert, sich einer irdischen Utopie hinzugeben?
Koestler: Nein, die Welt wird viel reicher werden, wenn man nicht so utopischen Dingen nachlebt, solchen Irrlichtern. Aber das führt tiefer, wissen Sie. Ich glaube, daß die großen Hekatomben der Geschichte nicht so sehr durch Gier und Aggression hervorgerufen worden sind, sondern durch die Hingabe an eine Idee, die man Idealismus oder Fanatismus nennt, je nachdem, wie man es ansieht. Die größten Verbrechen wurden immer im Namen Gottes oder der Menschheit oder der Nation oder einer übergeordneten Idee begangen. Die selbstsüchtigen Verbrechen spielen eine sehr geringe Rolle in dieser furchtbaren Geschichte der Menschheit.
Gaus: Gehört Ihre Zuneigung heute dem, was Sie einmal den phantasielosen, auf schlichten Anstand innerhalb alter, bürgerlicher Traditionen verpflichteten Menschen genannt haben?
Koestler: Jetzt gehen Sie ins entgegengesetzte Extrem. Das wäre doch das entgegengesetzte Extrem, nicht? Das Maß zu finden zwischen der berechtigten Rebellion und der Ablehnung jenes Prinzips, daß der Zweck alle Mittel heiligt, das ist das Problem. Den Punkt zu definieren, wo die Lanzette zur Achse des Hinrichters führt –, diesen Punkt zu finden, das ist das Problem.
Gaus: Haben Sie den Punkt gefunden?
Koestler: Wenn ich ihn gefunden hätte, dann wäre ich ein Prophet und nicht ein Schriftsteller.
Gaus: Leiden Sie noch immer daran, daß Sie den Punkt nicht gefunden haben?
Koestler: Es gibt Kurven, die sich der Achse erst im Unendlichen nähern. Sehr viele menschliche Bestrebungen sind so geartet, daß man nicht sagen kann: Jetzt ist eine Antwort da. Es kommt auf das Bestreben an.
Gaus: Leben Sie von der Hoffnung, daß Sie schließlich die Antwort doch noch finden werden?
Koestler: Es gibt keine Antwort. Die Antwort ist im Unendlichen. Es gibt nur Annäherungen.
Gaus: Hat es niemals eine Antwort gegeben oder liegt es nur an unserer Übergangszeit?
Koestler: Niemals.
Gaus: Es hat niemals eine gegeben?
Koestler: Niemals.
Gaus: Herr Koestler, Sie sind von den Truppen Francos im Spanischen Bürgerkrieg gefangen genommen worden und mehrere Monate inhaftiert gewesen. In dieser Zeit mußten Sie täglich mit Ihrer Hinrichtung rechnen. Hat die Erwartung eines nahen Todes Ihre Trennung von der Kommunistischen Partei gefördert? Sie haben diese Trennung wenige Monate nach Ihrer Entlassung aus dem Gefängnis vollzogen. War es die Todesfurcht?
Koestler: Das ist nicht ganz so, nein. Gefördert wurde die Trennung dadurch, ja, natürlich. Denn wissen Sie: Liquidation ist ein abstrakter Begriff. Wenn man damals zugehört hat, wie sich das abspielte, als man Leute zum Erschießen abführte, nachts – dann hat dieser abstrakte Begriff plötzlich Realität angenommen. Und wie gesagt: Der Zweck heiligte die Mittel nicht mehr. Es war nicht mehr ein abstrakter Akt, die Liquidierung, sondern man lebte das mit. Das waren Menschen aus Fleisch und Blut. In diesem Sinne hat es die Trennung sehr beschleunigt. Was die Todesangst betrifft, wissen Sie, da spielen so komische Sachen hinein, die ist gar nicht so dramatisch, wie man sich das vorstellt.
Gaus: Berichten Sie mir darüber.
Koestler: (lacht) Sagen wir so: Man hat eigentlich nur Angst vor dem Sterben. Vor dem Totsein hat man keine Angst. Ich jedenfalls habe keine Angst gehabt. Vor dem Sterben, vor der Folter, ja, nicht aber vor dem Totsein. Bevor wir geboren waren, waren wir ja alle tot. Das ist der normale Zustand. Man hat weniger Angst als angenommen. Die Suppe wird nicht so heiß gegessen, wie sie gekocht wurde. Aber in die Nähe des Todes setzt sich etwas innerlich in Bewegung, eine andere Wertigkeit.
Gaus: Könnten Sie diese Werte, die sich in der Gefängniszelle Nummer 40 für Arthur Koestler in Bewegung gesetzt haben, charakterisieren?
Koestler: Ich hab das alles beschrieben, wissen Sie. Das Entscheidende war, was ich nun zum 50. Mal wiederhole: daß der Zweck die Mittel nicht heiligt, und diese Erkenntnis bedeutet die totale Umwälzung aller Werte. Das ist das Erste, Entscheidende. Lassen wir es dabei bewenden. Wissen Sie, der Wittgenstein hat gesagt: „Worüber man nicht reden kann, darüber muß man schweigen“.
Gaus: Schweigen wir drüber. Herr Koestler, in Ihrem bekanntesten Buch »Sonnenfinsternis« schildern Sie vor dem Hintergrund der großen sowjetischen Säuberungsprozesse in den 30er Jahren das Schicksal eines Altbolschewisten, der schließlich die unsinnigsten, angeblichen Verbrechen gesteht – nur um der Partei einen letzten Dienst zu erweisen und um auf diese Weise einen letzten, verzweifelten Anschluß an seine politische Heimat, die Partei, zu retten. Empfinden Sie für diese Charaktere, die sehenden Auges nicht abspringen konnten, Mitleid?
Koestler: Oh ja.
Gaus: Haben Sie in Ihrer persönlichen Bekanntschaft Menschen gehabt, die diesen Absprung nicht fanden und für die Sie Mitleid empfunden haben?
Koestler: Oh ja.
Gaus: Wie erklären Sie sich, daß diese Menschen, sei es der Genosse Rubaschow in Ihrem Buch, seien es Ihre persönlichen Bekannten, wobei Sie vermutlich an Münzenberg denken oder Katz, mit dem Sie in Paris zusammenarbeiteten – wie erklären Sie es, daß diese Leute, intelligent, gebildet, den Absprung nicht fanden?
Koestler: Wenn man in der Geschäftswelt zuviel in ein Geschäft investiert hat, wissen Sie, dann kann man nicht mehr heraus, um es zynisch zu sagen. Dann kann man nicht mehr weg. Diese Menschen haben zuviel Seelisches von sich investiert. Sie konnten dieses Kapital, das sie hineingelegt haben, nicht mehr herausziehen.
Gaus: Sie meinen, sie wären ausgebrannte Wracks gewesen, wenn sie abgesprungen wären?
Koestler: Das waren sie sowieso schon. Aber noch ausgebrannter wären sie gewesen, Asche, nichts als Asche wäre geblieben.
Gaus: Seit Ihrer Abkehr vom Kommunismus, Herr Koestler, sind inzwischen gut 25 Jahre vergangen. Hat Ihnen diese Zeit irgendwann einmal ein ähnlich sicheres und befriedetes Gefühl beschert wie jene Zeit, in der Sie noch ohne Zweifel und Skrupel ein gläubiger Kommunist gewesen sind?
Koestler: Die Frage ist schwer zu beantworten, weil ja natürlich die Lebensalter hereinkommen, nicht? Aber ich glaube, man kann sie mit ja beantworten. Man zögert mit solchen Antworten. Aber ich glaube schon: ja.
Gaus: Welches Gefühl war das, das sich vergleichen läßt mit dem Gefühl der Sicherheit, der Geborgenheit des gläubigen Kommunisten?
Koestler: Kleine, aber lebenswichtige Genugtuungen sind es. Die Kampagne für die Abschaffung der Todesstrafe in diesem Lande. Vorher wurden durchschnittlich dreizehn bis vierzehn Menschen gehängt, jährlich.
Gaus: In England.
Koestler: Ja. Seitdem wir mit der Kampagne gestartet sind und schon bis zum halben Sieg kamen, ist die Zahl auf zwei bis drei hinuntergegangen. Das gibt eine tiefe innere Befriedigung. Sie könnten zynischerweise sagen: Erst will man die Welt für Millionen erlösen, wie es hieß, und dann irgendwann empfindet man schon eine dumme Genugtuung darüber, daß man nur zehn Miserable vom Galgen gerettet hat. Aber so ist es.
Gaus: Ich sage das nicht, Herr Koestler.
Koestler: Viele sagen es.
Gaus: Leiden Sie daran, daß viele es sagen?
Koestler: Nein, es tut mir leid, daß die Leute es nicht verstehen und sagen, das wäre eine Kapitulation.
Gaus: Welche Leute sagen, es sei eine Kapitulation?
Koestler: Diejenigen, die an dieser Ideologie Festhängen, die Menschheit zu predigen, statt den Menschen zu sehen.
Gaus: Aber es kann Ihnen in Wahrheit doch eigentlich nichts mehr bedeuten, wie die Kommunisten über Sie denken.
Koestler: Ich spreche nicht von Kommunisten.
Gaus: Zwei andere Bücher, außer dem erwähnten, Herr Koestler, sind von unmittelbarem Einfluß auf die Öffentlichkeit gewesen: eines über Palästina, „Diebe in der Nacht“, das zur Arbeitsunterlage der Kommission der Vereinten Nationen über Israel gehörte, sowie das schon erwähnte Buch „Sonnenfinsternis“, von dem Francois Mauriac gesagt hat, daß es stark zur Niederlage der Kommunisten in Frankreich beigetragen habe, damals, als die erste Nachkriegsverfassung beschlossen wurde. Bezeichnen Sie diese beiden Erfolge als die befriedigensten Höhepunkte Ihres bisherigen Lebens?
Koestler: Eigentlich ja, es sind die greifbarsten.
Gaus: Wenn Sie noch mehr nennen müßten, worauf halten Sie sich etwas zugute?
Koestler: Man müßte eine Liste seiner guten Taten anlegen. Aber damit würden die guten Taten aufhören, gute Taten zu sein. Aber so gelegentlich konnte man irgendwo in eine persönliche Krise eingreifen oder so was ähnliches in der Art tun.
Gaus: Der Wunsch, für die Öffentlichkeit, für die Politik gute Taten – wie Sie es genannt haben – zu tun, dieser Wunsch existiert nicht mehr?
Koestler: Doch, aber es gibt Zeiten, da man kann nicht mehr auf der gleichen Linie weitertun. Sehen Sie, vor zehn Jahren fühlte ich mich plötzlich vor die Wahl gestellt. Wenn man Politiker ist, kann und muß man immer das Gleiche wiederholen, also immer die gleiche Wahlrede mit Variationen halten. Und auch, wenn man politischer Journalist ist, hämmert man immer weiter an dem Gleichen rum. Wenn man aber Schriftsteller ist, darf man sich nicht wiederholen. Ich hatte das Gefühl, über dieses politische Thema alles, was ich je zu sagen hatte, gesagt zu haben. Der Rest wäre bloß Variation und Wiederholung gewesen, und da machte ich also radikal Schluß.
Gaus: Sie haben seither andere Bücher geschrieben, die, auf den ersten Blick jedenfalls, mit Politik gar nichts zu tun haben. Sie haben beispielsweise über die großen Astronomen geschrieben, und Sie haben ein Buch über die geistige Welt Indiens und Japans veröffentlicht. Wenn man genau hinschaut, ich jedenfalls hatte das Gefühl, könnte man selbst diese Bücher noch als politische Bücher bezeichnen, beispielsweise das über die Astronomie. Geht es Ihnen um die beklagenswerte Trennung von Glauben und Vernunft? Sie halten dies, wenn ich Sie recht verstanden haben, für den Kardinalfehler unserer Gegenwart?
Koestler: Und Vergangenheit.
Gaus: Und Vergangenheit, seit einer bestimmten Zeit jedenfalls.
Koestler: Kunst und Wissenschaft, Glaube und Vernunft ...
Gaus: Möchten Sie die Versöhnung dieser beiden herbeiführen? Und glauben Sie, daß aus einer Versöhnung von Glauben und Vernunft eine Rettung für die Welt kommen könnte – so, wie Sie sie einmal im Kommunismus gesehen haben?
Koestler: Versöhnung ist das falsche Wort. Das ist Kompromiß, Synthese. Es geht um die Synthese dessen, daß man gefühlsmäßig nicht an Dinge glaubt, die die Vernunft nicht schlucken kann und umgekehrt … Aber wissen Sie, ich lachte vorhin, Sie sprachen über „Sonnenfinsternis“. Bevor mein Held Rubaschow zur Hinrichtung abgeführt wird, hat er eine Klopfkonversation mit seinem Nachbarn. Der Nachbar stellt ihm eine dumme Frage, bloß, um ihn über die letzten Minuten wegzuhelfen: „Wenn Sie jetzt plötzlich begnadigt würden, was würden Sie dann tun?“ Rubaschow denkt eine Sekunde nach, und klopft dann zurück: „Astronomie studieren“. Und Sie sagten, das Buch über Astronomie sei so aufgegangen. Ja, das ist das Entscheidende, wenn Sie sagen, das hat mit Politik zu tun. Alles hat und nichts hat mit Politik zu tun. Diese Synthese ist verloren gegangen, die zwischen Glauben und Wissen. Das steht nun nicht im Buch über Astronomen, sondern in einer Geschichte des Weltbildes des Menschen im Wandel der Zeiten, von den Babyloniern bis heute.
Gaus: Mit Keppler im Mittelpunkt.
Koestler: Ja, er verkörpert das, was zu symbolisieren ist.
Gaus: Sind Sie ein Schriftsteller geworden, der nicht mehr für die Öffentlichkeit, jedenfalls nicht mehr für die Gegenwart schreiben will? Dem es gleich ist, vom Verkaufserfolg abgesehen?
Koestler: Das wäre eine falsche Demut, wissen Sie. Das wäre Arroganz der Demut. Nein, man muß schon sagen, man lebt von seinen Geschichten. Man ist verurteilt, anerkannt werden zu müssen. Aber in einem haben Sie recht: Ich wurde einmal in einem Interview gefragt, was die Ambition des Schriftstellers sein solle, und ich sagte, die Ambition soll sein, daß man hundert Leser heute gegen zehn Leser in zehn Jahren eintauscht und diese zehn Leser gegen einen Leser in hundert Jahren, und das glaube ich, ist so.
Gaus: Das ist Ihre Ambition?
Koestler: Ja.
Gaus: Was glauben Sie, was Sie diesem einen Leser in hundert Jahren mitgeben könnten?
Koestler: Wenn ich ihm irgendetwas mitgegeben hab, was immer das sei – dann war die Zeit nicht verloren.
Gaus: Was es sein könnte, mögen Sie selbst nicht beurteilen?
Koestler: Das weiß man nicht. Sie wissen doch aus der eigenen Erfahrung: Irgendwann hört man ein Phrase von einem ganz indifferenten Menschen, der etwas sagt, und das bleibt im Ohr haften. Zehn Jahre vergehen, und plötzlich erinnert man sich, eine hingeworfene Bemerkung.
Gaus: Herr Koestler, wir haben von Ihren Erfolgen gesprochen. Lassen Sie uns von Ihren Niederlagen sprechen. Was halten Sie für die größte Niederlage Ihres Lebens?
Koestler: Keine Ahnung, keine Ahnung.
Gaus: Sie könnten auf Anhieb gar keine Niederlage nennen?
Koestler: Oh ja, viele! Aber ich weiß nicht, welcher ich den ersten Rang geben soll.
Gaus: Dabei müßten wir wahrscheinlich definieren, was wir unter der größten verstehen sollen. Vielleicht sollte ich ein anderes Adjektiv wählen: Was halten Sie für die beschämendste Niederlage Ihres Lebens?
Koestler: Das ist eine Episode, die ich irgendwo beschrieben habe: Es ging um den Zweck, der die Mittel heiligt. Es ging nicht um Mord usw.
Gaus: Sprechen Sie von Ihrer Begegnung in Baku?
Koestler: Ja.
Gaus: Erzählen Sie bitte.
Koestler: Ach wo. Steht da.
Gaus: Erzählen Sie es.
Koestler: Nein.
Gaus: Sie haben seinerzeit, bei Ihrer Reise in die Sowjetunion, ein junges Mädchen, das Sie kennen gelernt haben, aus Pflichtgefühl gegenüber der Partei bei der GPU ... nun, nicht denunziert vielleicht, aber Sie haben einem Bekannten, den Sie bei der GPU in Baku hatten, von Ihren Zweifeln an diesem Mädchen erzählt.
Koestler: Das stimmt im großen und ganzen, etwas vereinfacht, ja.
Gaus: Und dieses, würden Sie sagen, ist das Beschämendste?
Koestler: Doch, ja.
Gaus: Kann es sein, daß Sie Ihre Niederlagen immer dann einzustecken hatten, wenn es um den direkten Umgang mit Menschen gegangen ist? Sie waren zwei Mal verheiratet, das ist beide Male nicht gut gegangen.
Koestler: Ja, na gut, aber das ist eine Generalisierung von Ihnen. Denn ich sagte schon vorher, daß das Grundübel die Philosophie des Zwecks ist, der die Mittel heiligt. Und wenn wir von Mittel und Zweck sprechen, geht es doch immer um Individuen.
Gaus: Nun gut. Vielleicht ist es Ihnen also nicht gelungen, außer im Intellektuellen, den Wandel zu vollziehen – vom Zweck, der die Mittel heiligt, in eine Praxis, in welcher der Zweck nicht die Mittel heiligt?
Koestler: Das ist jetzt doch ein bisschen vulgärpsychologisch.
Gaus: Sicherlich ist es das. Aber wenn Sie so freundlich sein wollen: Sagen Sie dennoch, ob das vielleicht so sein kann.
Koestler: Nein, ich glaube nicht.
Gaus: Sie glauben es nicht. Was ist dann das Beschämende an dem Vorfall in Baku?
Koestler: Ich glaube, wir haben es definiert. Daß man einem Prinzip zuliebe jemanden gefährdete.
Gaus: Gut. Sie haben, nachdem Sie Ihren inneren Bruch mit dem Kommunismus ...
Koestler: … daß man jemanden, der einem nahe stand, gefährdete.
Gaus: Ist das die Voraussetzung, damit es beschämend ist? Jemanden, der einem nicht nahe steht, kann man ohne Scham gefährden?
Koestler: Nun ja, wissen Sie, das Anonyme ... Also, wenn es Krieg gibt, ist Krieg. Das ist anonym, nicht? Wenn man daran glaubt, daß man das Land verteidigen muß, eine Idee verteidigen muß ...
Gaus: Und Sie fühlten sich als Kommunist eigentlich ständig im Krieg.
Koestler: Ja, natürlich. Es gibt auch den Leninschen Spruch: „Wir sind alle Tote auf Urlaub“.
Gaus: Herr Koestler, auf dem Weg zu einem neuen politischen Konzept, nach der Abkehr vom Kommunismus, haben Sie einmal geschrieben, wenn ich das zitieren darf: „Von Lenins zu Gandhis Weg“ – also zu dem Weg der Gewaltlosigkeit – „hinüberzuwechseln, war zwar sehr verführerisch, aber es bedeutete lediglich, von einem Extrem ins andere zu fallen.“ Dieses ist also eine Absage an ein anderes extremes politisches Konzept.
Koestler: Vom Kommissar zum Yogi, ja, das wäre das andere Extrem. Es ist schädlich durch seine Unterlassungssünden. Schauen Sie sich Indien heute an: 350.000 Menschen schlafen in den Straßen von Bombay. Diese Indifferenz im Gandhiismus gegenüber dem Sozialpolitischen! Ich sagte Ihnen ja: Was man sucht, ist die Synthese zwischen dem Yogi und dem Kommissar; es geht nicht darum, von dem einen zum anderen hinüberzupendeln.
Gaus: Könnten Sie, auf eine vulgäre Weise, diese Suche vom Philosophischen ins Politisch-Konkrete transponieren? Könnten Sie mir sagen, wie ein sehr schlichtes politisches Konzept nach Ihrer Vorstellung aussehen müßte, um weder das Extrem Lenin, noch das Extrem Gandhi zu berühren?
Koestler: Es gibt keine abstrakten politischen Konzepte, die sowohl auf Indien als auch auf Japan oder auch auf England anwendbar sind.
Gaus: Würden Sie sagen, daß es für Europa eines geben könnte?
Koestler: Auch das nicht. Die parlamentarische Demokratie zum Beispiel, das Parteiensystem, hat in England schlecht und recht Jahrhunderte lang funktioniert, hat aber in Frankreich und in Deutschland eigentlich nie funktioniert. Also nicht einmal da kann man diese Schnittmuster exportieren, nach Indien schon gar nicht. Wenn man Parteiendemokratie also in die neuen Nationen hineinentwickelt, kommt eine Komödie heraus. Die ökologischen Bedingungen, die psychologischen Bedingungen ändern sich von Land zu Land. Und so, wie ein Doktor nicht ein allgemeines Rezept verschreibt, sondern den Patienten als Ganzes und Unverwechselbares und auch nicht nur dessen Leber anschaut ...
Gaus: Ein Arzt sollte das jedenfalls nicht tun.
Koestler: Sollte es nicht tun, ja. So muß man das Beispiel übertragen. Nehmen Sie ein anderes einfaches Beispiel: Die Lebensmittelrationierung funktioniert in England. Im Kriege in Frankreich funktionierte sie nie, denn die Franzosen waren Individualisten, und da spielte auch der katholische Glaube hinein: Es macht nichts, wenn man ein bißchen schwindelt, das ist keine Sünde. Im puritanischen England war es eine Sünde. Also: Nicht einmal die Verteilung der Lebensmittel kann man nach Schablone organisieren. Da muß man wieder nach einer Synthese suchen zwischen Massenpsychologie, Soziologie, Anthropologie sowie politischem und ökonomischem Denken. Das alles, das Verständnis, steckt noch in den Kinderschuhen. Dieser Glaube an alleinseligmachende Formeln spukt überall noch herum.
Gaus: Das, würden Sie meinen, könnte eine Quintessenz Ihres bisherigen Lebens sein? Die Erkenntnis, daß es die allgemein gültige, überall auf der Welt gültige Formel für das Zusammenleben der Menschen nicht gibt?
Koestler: Quintessenz ist etwas Positives. Aber was Sie sagen, ist eine negative, bescheidene, ja, offensichtlich negative Erkenntnis.
Gaus: Erlauben Sie mir eine letzte Frage, Herr Koestler. Welche Menschen haben Sie in Ihrem Leben am tiefsten beeindruckt?
Koestler: Das ist wieder eine Frage des Alters, und ich möchte keine Namen nennen, nicht die einen Freunde nennen und andere weglassen. Wessen Schriften mich als Schriftsteller beeindruckt haben, das können Sie fragen. Alexander Döblin zum Beispiel.