Sendung vom 08.01.1964 - Wehner, Herbert

Günter Gaus im Gespräch mit Herbert Wehner

Der Traum vom einfachen Leben

Herbert Wehner, geboren am 11. Juli 1906 in Dresden, gestorben am 19. Januar 1990 in Bonn-Bad Godesberg.
Nach früher Mitgliedschaft in der Sozialistischen Arbeiterjugend schloß er sich linkeren Gruppierungen an und trat 1927 der KPD bei, wo er Anfang der 30er Jahre enger Mitarbeiter des Parteivorsitzenden Thälmann war. Nach 1933 illegale Tätigkeit in verschiedenen europäischen Ländern, zeitweise in Moskau. 1942 in Schweden aus politischen Gründen zu einer Zuchthausstrafe verurteilt. 1946 Rückkehr nach Deutschland und zunächst Mitglied des SPD-Landesvorstands in Hamburg. Ab 1949 Mitglied des Bundestages für die SPD; von 1958 bis 1973 stellvertretender Vorsitzender der SPD. 1966 trat er als Minister für Gesamtdeutsche Fragen in das Kabinett Kiesinger ein. 1969 übernahm er den Vorsitz der SPD-Bundestagsfraktion („Zuchtmeister“), den er bis zu seinem Ausscheiden aus dem Bundestag im März 1983 beibehielt (78 Ordnungsrufe in 33 Jahren).
Das Gespräch wurde gesendet am 8. Januar 1964.


Gaus: Herr Wehner, vielen Leuten in Deutschland erscheinen Sie geradezu als der Prototyp des Politikers. Und richtig ist wohl, daß Ihr Lebenslauf, den wir hier im Gespräch auszubreiten versuchen wollen, fast exemplarisch widerspiegelt, was einem politisch engagierten Deutschen in den letzten fünfzig Jahren zustoßen konnte, bevor er seinen politischen Standort endgültig gefunden hatte. Heute sind Sie stellvertretender Bundesvorsitzender der SPD und gelten als entscheidende Antriebskraft der deutschen Sozialdemokraten. Darf ich unser Gespräch mit einer allgemeinen Frage beginnen? Herr Wehner, wenn Sie rückblickend Ihr Leben anschauen, können Sie es sich ohne Politik vorstellen? Hätten Sie von der Politik lassen können, irgendwann einmal?

Wehner: In den vierzig Jahren, in denen ich von der Politik gepackt war und hin und her geschüttelt worden bin, habe ich mir das zwar manchmal erträumt. Und zwar in besonders schwierigen Situationen – ich gebe das offen zu –, in Situationen, in denen die Politik so schrecklich war, daß ich gedacht habe, man sollte außerhalb von ihr leben können. Ich habe mir allerdings nie dabei gedacht, daß ich – auch wenn ich außerhalb stünde – an ihr uninteressiert sein könnte.

Gaus: Diese Ausschließlichkeit, mit der Sie sich der Politik hingegeben haben, scheint mir in Ihrem Leben sehr früh begonnen zu haben. Führen Sie das auf Einflüsse und Eindrücke aus Ihrem Elternhaus zurück? Sie sind 1906 in Dresden geboren. Ihr Vater war ein Schuhmacher. War er zum Beispiel ein eingeschriebenes Parteimitglied der Sozialdemokratischen Partei und ein eingeschriebener Gewerkschaftler?

Wehner: Er war beides, aber ich kann mich heute noch an meinen Jugendstolz erinnern, daß ich nicht etwa deswegen selbst Mitglied der Sozialistischen Arbeiterjugend geworden bin. Soviel weiß ich noch aus meiner eigenen Jugend: Man wollte aus eigenem Entschluß geworden sein, was man glaubte zu sein.

Gaus: Sie meinen, es war also kein Einfluß, der – vielleicht sogar nur unbewußt – in Ihrem Elternhaus auf Sie ausgeübt wurde?

Wehner: 0h ja, natürlich war es das. Aber ich wollte gleichzeitig sagen, daß es da auch diese natürliche Spannung gibt zwischen dem, was man mitkriegt, und dem, was man selbst gern will.

Gaus: Könnten Sie erzählen, wie das politische Weltbild Ihres Vaters ausgesehen hat?

Wehner: Das wäre sehr vermessen, obwohl ich meinem Vater gerne ein Denkmal setzen möchte. Er ist gestorben, als ich nicht dort sein konnte, wo er starb, und unter Bedingungen, die ich erst acht Jahre später erfahren habe. Mein Vater war ein Arbeitsmann, der stolz war auf sein Können, und ich kenne ihn als einen Künstler in seinem Beruf. Und mein Vater war ein lustiger Mann und hat uns Kinder auch dazu gebracht, daß wir Lust am Leben hatten, mit ihm zusammen und mit der Mutter zusammen. Meine Mutter hat mich zum erstenmal zu einer Demonstration am 1. Mai mitgenommen, zu einer Zeit, als es noch keine regulierten Demonstrationen waren.

Gaus: Also vor 1918?

Wehner: 0h ja, und meine Mutter hat mir im Kriege, im ersten Kriege – ich kann das Bild noch vor meinen Augen sehen – gesagt: Jetzt ist der Krieg bald aus. Das war, als im Februar/März 1917 in Rußland das dortige Regime zusammenbrach. Ja, es gibt da Einflüsse, Sie haben recht. Aber ich habe auch recht; ich wollte damit sagen, meine Eltern haben mich zu einem Jungen erzogen, der selbst im Leben stehen sollte.

Gaus: Herr Wehner, Sie haben nach der Volksschule die Realschule besucht und dann ein Stipendium für eine dreijährige Ausbildung zum öffentlichen Verwaltungsdienst erhalten und, bevor Sie sich ganz der Politik verschrieben, einige Jahre als kaufmännischer Angestellter in Dresden, Ihrer Geburtsstadt, gearbeitet. Haben Sie damals manchmal das Gefühl gehabt, daß Ihre Startchance für das Leben zu klein war, daß Sie zu kurz gekommen waren, Sie und Ihresgleichen?

Wehner: Ja, sicher hatte ich das Gefühl. Aber ich hatte es nicht in dem Sinne, daß ich etwas dazu haben wollte, daß ich auf eine andere Stufe gehoben werden wollte, sondern ich zog daraus die Konsequenz, daß man sich kümmern müsse, damit jedem seine Chance gegeben werden würde. Damit fing ich eben an, politisch zu denken und politisch zu handeln, auch während meiner beruflichen Tätigkeit, schon während meiner Schulzeit. Ich bin in die Schule, von der Sie eben gesprochen haben, als Betroffener eines Experiments gekommen. In meinem Heimatland wurde damals der Versuch gemacht, Kinder, die die Volksschule mit guten Ergebnissen absolviert hatten, auf sogenannte Höhere Schulen zu bringen.

Gaus: Das war 1921?

Wehner: Es waren sechs, und ich war einer von diesen. Dazu kamen dann weitere sechs aus der Realschule, in der diese Experimentier- und Musterklasse – nicht Musterknabenklasse! – eingerichtet wurde. Das war mein Glück, denn das war natürlich eine intensive Lernmöglichkeit, weil wir eine kleine Zahl waren und die qualifiziertesten Lehrkräfte hatten.

Gaus: Sie haben sich Ihr Leben lang nebenher mit betriebs- und volkswirtschaftlichen und soziologischen Studien beschäftigt. Wollen wir uns mal vorstellen: Wenn alles ganz anders gelaufen wäre, als es schließlich gelaufen ist, welchen Berufswunsch hätten Sie gehabt?

Wehner: Sie werden lachen, denn das ist die platte Antwort, die Sie von manchen Leuten meinesgleichen bekommen würden: Ich wollte liebend gern Lehrer werden, und zwar Lehrer in dem großen Sinne. Das war's. Das ging nicht. Ich habe auch angefangen. Meine erste Schule war eine tolle Schule im Erzgebirge. Ich konnte sie leider nur ein knappes Jahr besuchen, denn dann mußten wir wegen der Kriegsereignisse in eine andere Stadt ziehen. Es war eine Seminarvorschule.

Gaus: Warum haben Sie das nicht zu Ende gemacht?

Wehner: Mein Vater war im Krieg. Ich mußte mitverdienen und mein Bruder auch. Das fing sehr früh an.

Gaus: Sie hatten einen Bruder?

Wehner: Ja, den ich leider nun nicht mehr habe.

Gaus: Sie haben als Kind Geld für den Unterhalt der Familie mitverdienen müssen?

Wehner: Ja, meine Mutter bekam eine ganz geringe Unterstützung. Das lag daran, daß die Ortsklasse des Ortes, in dem wir wohnten, als mein Vater ins Feld kam, eine von denen war, in denen man wenig bekam. Wir mußten dann in eine größere Stadt, weil meine Mutter schwer krank wurde, und dann mußten wir – und das war damals eine Ehrensache für uns beiden Jungs – arbeiten. Wir fingen damit an, die Kartoffeln für den Winter beim Bauern zu verdienen, beim Tischler zu arbeiten und so weiter. Ich habe viele solche Sachen gemacht. Heute wäre es verboten, Kinderarbeit zu machen. Ich war damals froh, daß man das durfte. Wir haben es nie bedauert.

Gaus: Herr Wehner, als Siebzehnjähriger, 1923, sind Sie aus der Sozialistischen Arbeiterjugend, die der SPD nahestand, ausgeschieden und einer radikaleren Gruppe beigetreten. Warum?

Wehner: Warum? Ich möchte sagen: wodurch? In meinem Heimatland geschah damals etwas, das uns sehr erschüttert hat in der politischen Auffassung, der idealen Vorstellung, die man als ein so junger Mann haben kann. Die Reichswehr marschierte ein.

Gaus: In Sachsen.

Wehner: Ja. Ich kann ja nicht leugnen, daß ich von da bin. Ich tue es auch gar nicht. In einer unserer Nachbarstädte gab es dabei eine ganze Anzahl Todesopfer. Damals spalteten wir uns. Die Organisation der Jungen hat sich dort gespalten. Ich gehörte zu der Minderheit, die dann vier Jahre lang als eine selbständige, eine freie sozialistische Jugendgruppe existiert hat mit zeitweiliger starker Anlehnung an syndikalistische Jugendgruppen, die aus alter Tradition herkamen, die es damals noch gab oder wieder gab.

Gaus: Im Jahre 1927 sind Sie dann Mitglied der Kommunistischen Partei geworden. Ich würde gerne wissen, ob dieser Schritt das Ergebnis von theoretischem Schriftstudium war, ob Sie sozusagen ein belesener Marxist waren, als Sie in die KPD eintraten, oder ob es andere Gründe gegeben hat?

Wehner: Ein Marxist – das ist eine ganz schwierige Gewissensfrage. Sie wissen ja, wie Marx diese Frage selbst beantwortet haben soll: Er sei keiner. Aber ich will mich damit nicht um die Frage herumdrücken. Meine sozialistischen Impulse waren ganz andere. Ich habe zunächst einmal die Gemeinschaft der Jugendgruppe erlebt. Ich habe die Gemeinschaft vieler Jugendgruppen zueinander erlebt. So fing es an, das gestehe ich ehrlich. Und Schriften? Die Schriften, die meine Freunde und ich wirklich verschlungen, studiert, diskutiert und beraten haben, das waren Schriften von Gustav Landauer, dem in der Münchener Räte-Zeit Erschossenen, der uns wiederum Martin Buber erschloß. Das waren Schriften von Proudhon, dem Franzosen. Das waren Schriften von Krapotkin, "Die Ethik" zum Beispiel. Ich könnte sie heute noch alle aufzählen. Ich habe leider nichts mehr, denn in der Zeit der zwölf Jahre ist das alles vernichtet worden. Wir sind dann erst allmählich durch einen sehr belesenen Facharbeiter in unserem Kreis, der einige Jahre älter war als wir, der aber auch nicht orthodox war und uns helfen wollte, auf Marx gekommen. Unser Streben war, eine Ordnung zustande bringen zu helfen, in der die Freiheit der Person, des Menschen, der Persönlichkeit das Entscheidende war. Damit fingen wir an. Und das zweite war das Recht frei miteinander lebender Persönlichkeiten. Das dritte war dann: Man muß gewisse ökonomische Schritte möglich machen. Da greife ich weit vor auf ein Wort, das ich viel später entdeckt habe, auf die Definition, die Kurt Schumacher dem Begriff Sozialismus gegeben hat, und die ich für mich selbst so akzeptiere, daß der Sozialismus die ökonomische Befreiung der moralischen und politischen Persönlichkeit ist.

Gaus: Das bedeutet, daß für Sie die soziale Komponente nur die dritte war, nicht die wichtigste.

Wehner: Nein, nein: aber zu den beiden anderen gehörte; aber das fing mit den beiden anderen an.

Gaus: Sie haben in der Kommunistischen Partei einen schnellen Aufstieg genommen. Sie sind schon 1930 sächsischer Landtagsabgeordneter gewesen, und Anfang der dreißiger Jahre kamen Sie nach Berlin, wo Sie in der Nähe Ernst Thälmanns gearbeitet haben. Was ist der Grund für diese schnelle Karriere gewesen? Galten Sie als eine Art Wunderknabe, als das Nachwuchstalent der KPD in Deutschland in dieser Zeit?

Wehner: Oh, sicher nicht. Das ist ein Irrtum. Ich bin ja in die Kommunistische Partei nach diesen vier Jahren selbständigen Denkens gekommen. Jener Partei schloß ich mich damals 1927 an aus der Überzeugung heraus, daß man dort etwas in der Richtung tun könnte, in die wir wollten, wenn auch mit gewissen kritischen Vorbehalten, die aber – das habe ich dann gelernt – sehr bald überspielt wurden durch den Mechanismus, in den man sich selbst begeben hatte. Ich war aber doch eine ganze Zeit tätig für eine Organisation, die damals eine gewisse Bedeutung hatte. Sie nannte sich „Rote Hilfe“ und befasste sich mit der Hilfe für politische Gefangene, für Amnestierte, die wieder ins Leben kommen mußten, für politische Flüchtlinge aus faschistischen Ländern, die es damals schon gab. Da habe ich sehr aktiv gewirkt. Nachdem ich in meinem Beruf als kaufmännischer Angestellter 1927 zum wiederholten Male gemaßregelt worden war – ich war damals bei einer großen Firma in der Fotooptik beschäftigt –, habe ich in dieser Organisation eine Zeitlang hauptamtlich gearbeitet. Betreuung von Gefangenen: Ich bin in die Gefängnisse gegangen, habe die Gefangenen besucht, habe ihre Frauen, ihre Familien unterstützt. Ich war natürlich für alles das ein viel zu junger Mensch.

Gaus: Sie waren noch keine dreißig.

Wehner: Lange nicht, entschuldigen Sie, natürlich nicht.

Gaus: Ich würde gerne das Urteil hören, das Sie seinerzeit über die Sozialdemokraten gehabt haben, als Sie Kommunist waren. Haben Sie damals das Gefühl gehabt, die Sozialdemokraten sind eine Gruppe, die sich aus kleinbürgerlichen Vorurteilen abhalten läßt von dem einen entscheidenden Schritt weiter in Richtung auf eine revolutionäre Arbeiterpartei? War das Ihr Urteil?

Wehner: Ich würde mich selbst irren, wenn ich heute versuchte, für diese ganze Zeit eine Antwort auf diese Frage in einem Urteil zu finden. Das hat es nicht gegeben, das hat sich immer wieder geändert. Ich bin dabei in die größten Konflikte gekommen. Sie haben ja gesagt, ich sei 1930/31 dann schon in Berlin gewesen. Als ich 1931 nach Berlin kam, kam ich als ein gemaßregelter kommunistischer Funktionär nach Berlin; denn ich mußte mein Landtagsmandat schon nach weniger als einem Jahr auf Beschluß der Partei niederlegen. Ich paßte da nicht ganz hinein.

Gaus: Aus welchen Gründen?

Wehner: Ich paßte nicht ganz hinein, weil ich auch damals schon sicher zu selbständig war. Ich hätte nicht nach Berlin gehen sollen. Ich habe mich lange gewehrt dagegen. Als ich nach Berlin kam, war ich nicht mehr ein gewählter Mann. In meinem Heimatland wurde ich immer gewählt, auch in den Parteifunktionen. Die Leute haben mir ihre Stimme gegeben oder eben nicht gegeben. Ich war das, wozu ich gewählt wurde. Aber dort war ich dann ein Angestellter und habe den Weg gehen müssen bis zum bitteren Ende, den man nur verstehen kann, wenn man daran denkt, daß schon im Jahre 1932 jene grausige neue Wirklichkeit über uns hing, die 1933 Gestalt annahm. Es mag seltsam klingen in einer einzigen Erklärung: Ich wollte doch nicht feige sein! Wie konnte ich bei allen meinen Skrupeln, was die Lehre der Partei betraf, weggehen, wenn es um Tod und Leben ging?

Gaus: Aus der Partei heraus?

Wehner: Ja, oder weniger aktiv werden, oder nicht ihre Beschlüsse durchführen. Da hast du zu stehen, so sagte ich mir, und zwar nicht wegen eines Beschlusses, sondern weil ich nicht feige sein wollte und weil ich nicht braun sein wollte. Ich habe mich später auch davon frei gemacht, rot zu sein, aber nicht, um braun zu werden. Das hat mich auch lange im Kriege daran gehindert, den Schritt zu tun. Ich wollte nie etwas tun, das von denen nicht verstanden wurde, die meine Freunde waren – und ich habe da ja Hunderte gehabt. Als ich zum erstenmal aus einem Gefängnis heraus durch verschiedene Länder transportiert worden bin, über verschiedene Grenzen, und kurze Zeit in Moskau war – 1935 –, da habe ich als erstes, weil ich nicht wußte, wie lange ich da sein würde und könnte – aus dem Gedächtnis, denn ich hatte ja kein Blatt Papier mitnehmen können –, die Namen von 500 Menschen aufgeschrieben, die in ganz Deutschland in den verschiedenen Städten – Hauptstädten, Regionalhauptstädten – tätig gewesen waren und deren Schicksale – Tod oder lebenslängliche Gefangenschaft – ich einfach aktenkundig machen wollte. Ich war mit diesen Menschen durch das Leben in der Verfolgung verbunden.

Gaus: Sie hätten es für einen Verrat angesehen, in diesem Augenblick die Front zu wechseln?

Wehner: Ja, das war für mich unmöglich. Die Front wechseln schon gar nicht! Ich hätte nur aus einer herausgehen können, aber in die andere konnte ich nicht hineingehen. Ich hätte also tot sein müssen, politisch und menschlich, sittlich! Das war es. Das erschwerte im Handeln das, was im Denken vor sich ging.

Gaus: Sie hatten in den ersten Jahren, nachdem Hitler die Macht in Deutschland an sich gerissen hatte, zeitweilig im Untergrund gearbeitet und sind dann in den europäischen Nachbarländern Deutschlands umhergereist und, wie Sie schon erwähnt haben, 1935 von Prag nach Moskau abgeschoben worden. In Moskau sind Sie zur Zeit der großen Säuberung auch einer Untersuchung unterworfen worden, die freilich ohne Verurteilung endete. Wenn Sie diese persönliche Erfahrung mit dem Stalinismus nicht gehabt hätten, wäre es dann auch zu Ihrer Abkehr vom Kommunismus gekommen?

Wehner: Ja! Ich betrachte den Stalinismus nicht als etwas Besonderes. Ich weiß, daß ich damit im Vergleich mit allen heutigen Kreml-Astrologen und sehr erfahrenen Leuten völlig unmodern bin. Aber für mich geht es um Kommunismus schlechthin. Den habe ich erlebt und durchdacht, und damit mußte ich Schluß machen und nicht etwa nur mit einer Spielart.

Gaus: Ich verstehe. Wie haben Sie sich seinerzeit die Machtübernahme Hitlers erklärt?

Wehner: Ich darf Ihnen da eine kleine Geschichte erzählen, falls uns die Zeit dazu bleibt. Ich saß zusammen mit einem polnischen Kommunisten im Grunewald. Er war uns geschickt worden, weil er Erfahrung in unterirdischer Arbeit hatte und sollte uns helfen.

Gaus: Das war nach 1933?

Wehner: Ja, sicher. Ich habe doch einige Jahre die gesamte illegale Arbeit in ganz Deutschland als der Techniker in meinen Händen gehabt. Der Mann war zehn oder fünfzehn Jahre älter als ich. Da haben wir uns auf den Waldboden gesetzt und uns zunächst einmal gegenseitig angeguckt und gefragt, ob wir offen miteinander reden können. Offen heißt: auch anders, als man redet, wenn man als kommunistischer Funktionär redet. Die Frage, die der Probefall sein sollte, stellte er. Sie lautete: Wie lange ich glaube, daß das dauern würde. Darauf habe ich ihm gesagt, mindestens zehn Jahre. Da sagte er: Wir können wirklich offen miteinander reden. Da haben wir begonnen, über das ganze Schauderhafte, das über unser Volk gekommen war und über andere Völker kommen würde und wie es enden könnte, offen zu reden. Ich habe in dieser deutschen Wirklichkeit etwa neunundvierzig Prozent des Totalitarismus kennengelernt, und die einundfünfzig Prozent habe ich in der kommunistischen Wirklichkeit kennengelernt, in der sowjetischen einschließlich der kommunistischen Wirklichkeit im Untergrund.

Gaus: Ich bitte Sie noch einmal, mir Ihre Erklärung für die großen Wahlerfolge der NSDAP und für Hitlers Erfolg in der deutschen Bevölkerung zu geben. Woran lag es?

Wehner: Ich bin der Meinung, daß es daran lag: Die Republik konnte sich nicht verteidigen, weil die Arbeiterschaft dem demokratischen Staat gegenüber eine gespaltene Haltung einnahm. Sie werden sich jetzt wundern, daß ich das an den Anfang stelle. Dadurch aber jedenfalls wurde das, was die restaurativen Kräfte taten, die von ganz rechts kamen und immer schlimmer wurden, sozusagen auch noch bei einem Teil der Bevölkerung gerechtfertigt. Das war das Furchtbare. Das habe ich früh so gesehen. An dieser inneren Gespaltenheit der Arbeiterschaft, die 1918 unvorbereitet einer militärischen Niederlage und dem Zusammenbruch eines feudalen Regimes, eines sehr herrschaftlich aufgetretenen Regimes, gegenüberstand und die doch selbst gespalten war in ihrer Stellung zum Staat, weil die deutschen Führer der Kommunisten leider daran festgehalten haben, daß der Staat auch als demokratischer Staat für die Arbeiter nicht akzeptabel sei, sondern erst dann, wenn er unter der Führung der kommunistisch geführten Arbeiterklasse umgestürzt sei: Daran lag es. Diese Theorie war das Unglück.

Gaus: Diese Meinung hatten natürlich auch einige sozialdemokratische Führer aus der damaligen Zeit.

Wehner: Sicher, das hing ja nicht an Parteien. Das war etwas, das in dieser deutschen Arbeiterbewegung noch drin war und das sie überwunden hat. Ich habe es doch bei mir selber auch erlebt, ich will das ganz offen sagen. Dazu gehörten diese schrecklichen Erfahrungen mit der totalitären braunen Diktatur und mit der totalitären roten Diktatur. Dazu gehörte, sich wieder freizumachen und hinzukommen zu dem Ausgangspunkt, von dem aus einmal Lassalle versucht hat, die Arbeiter im Staat mit dem Staat zu versöhnen und nicht außerhalb und nicht gegen den Staat.

Gaus: Sie haben diese bitteren Erfahrungen bis zu einem sehr brutalen Ende machen müssen. Sie sind 1941 von Moskau nach Schweden geschickt worden, um kommunistische Untergrundarbeit zu organisieren, sind jedoch verhaftet und zu einem Jahr Zuchthaus verurteilt worden. Das hat nach dem Kriege 1957 in der Bundesrepublik zu heftigen Auseinandersetzungen mit der CDU über Ihre Person geführt. Berichten Sie mir bitte von dieser schwedischen Zeit.

Wehner: Ich bin doch nicht zu kommunistischer Untergrundarbeit nach Schweden geschickt worden, sondern mir wurde endlich erlaubt, aus Rußland wegzugehen, nachdem ich viereinhalb Jahre nicht weg konnte und weg durfte. Aber es wurde mir erlaubt, wie man es eben einem Mitglied dieser kommunistischen Partei, das illegal ist und keinen Paß hat, erlaubte: mit einem Auftrag. Der Auftrag war – und ich hatte ihn so auch selbst übernommen und akzeptiert –, nach Deutschland zur Widerstandsarbeit gegen Hitler zu gehen, neu anzufangen, neu aufzubauen. Und ich bin bei der Vorbereitung dieser Schritte, die sehr schwierig waren, wo ich vieles einzuleiten hatte, in Schweden selbst verhaftet und wegen Verstoßes gegen die dortigen Gesetze verurteilt worden, nach Paragraphen, wie sie dort im Kriege Geltung hatten, wie sie dann nach dem Kriege geändert worden sind. Ich war ja dort ohne Anmeldung, ich war dort mit einem anderen Paß, als es ein echter Paß wäre, und ich habe nie geleugnet, daß ich da wäre, um illegal nach Deutschland zu kommen und um da wieder gegen die Diktatur zu kämpfen, wobei ich nicht wußte, wie das gehen würde. Aber das wollte ich.

Gaus: Sie haben sich nicht nach dem Kriege um eine Revision dieses Urteils bemüht?

Wehner: Ich bin seinerzeit auf Lebenszeit aus Schweden ausgewiesen worden. Aber im Jahre 1953 hat mir der schwedische Gesandte in Bonn zu meiner Überraschung – und ich muß sagen: zu meiner freudigen Überraschung – gesagt, dieser Beschluß sei aufgehoben worden, und er beglückwünsche mich dazu. Ich liebe dieses Land Schweden wie meine Heimat.

Gaus: Sie haben jetzt ein Ferienhaus dort.

Wehner: Ja, Schweden betrachte ich als meine geistige Heimat. Dort habe ich gelernt, was Demokratie sein kann, auch wenn ich die Hälfte der Zeit im Gefängnis gesessen habe. – Sie fragten, ob ich mich um Revision bemüht hätte. Ich habe. Es gab eine königliche Kommission, an die man sich wenden konnte. Ich habe mich an sie gewendet. Sie war in meinem Fall nicht imstande, etwas zu tun, wie sie auch für andere gerichtliche Fälle nicht imstande war, etwas zu tun. Aber ich habe dann diese andere, wenn ich so sagen darf, Genugtuung bekommen, und ich bin seither sehr oft dort.

Gaus: Sie haben in Schweden auch geheiratet, eine deutsche Emigrantin?

Wehner: Ja, und ich habe auch gute Freunde dort, den Chef der Regierung und die Minister. Wir sind gute Freunde.

Gaus: Herr Wehner, Sie haben gelegentlich sehr bitter gesagt, Sie hätten zwei Kardinalfehler gemacht: erstens, daß Sie als junger Mensch Kommunist geworden seien, und zweitens, daß Sie dann später glaubten, dieser Irrtum würde in einer Demokratie vergeben, wenn man ihm wirklich abgeschworen habe. Das sei aber Ihr zweiter Kardinalfehler gewesen, dies zu hoffen. Ich habe dazu zwei Fragen: Erstens, glauben Sie immer noch, daß Sie nach wie vor, wie 1957, als heftig um Ihre Person gestritten wurde, von den wichtigen bürgerlichen Politikern in der Bundesrepublik nicht voll als ein wahrhaft geläuterter Mann akzeptiert werden?

Wehner: Das ist eine ganz schwer zu beantwortende Frage für mich. Ich glaube, daß das Schlimmste auf diesem Wege vorbei ist. Das ist auch eine Zeitfrage, denn das Leben läuft so langsam und allmählich ab. Das ist also wohl vorbei. Es wird allerdings wohl nie ganz aufhören, weil es ja Leute jucken muß, einen Mann wie mich der Partei anzuhängen, für die ich arbeite und der ich helfen will, damit sie eine große, eine wirklich vom Volk akzeptierte Partei wird und als eine der großen, tragenden, gestaltenden, reformierenden Kräfte anerkannt werden kann.

Gaus: Ich habe eine zweite Frage dazu, wie gesagt: Glauben Sie, daß Sie manchmal aus verständlichen Gründen in diesem Zusammenhang zu einer Empfindlichkeit neigen, die Sie dann zu bitterem Kurzschlußdenken und Kurzschlußhandeln verleitet?

Wehner: Zu einer Empfindlichkeit neige ich von Haus aus. Das ist natürlich ganz schlecht für das, was man einen Politiker nennt, werden Sie sagen. Ich selbst nenne mich keinen Politiker, ich nenne mich einen politischen Praktiker und parlamentarischen Praktiker. Ich bin übrigens mit Leib und Seele Parlamentarier und möchte es gerne viel mehr sein, als ich heute bei meiner Stellung sein darf. Aber Empfindlichkeit und Kurzschlußhandlungen? Ich gestehe Ihnen offen, ich wollte nicht in den Bundestag …

Gaus: Kurt Schumacher hat Sie geholt?

Wehner: „Geholt“ ist gut! Er hat mich sozusagen mit der Faust dazu genötigt, daß ich kandidierte. Ich wollte arbeiten, und ich arbeitete ja für die Sozialdemokratische Partei. In den Bundestag wollte ich nicht. Ich dachte, das braucht Zeit – und warum soll ich? Ich habe Kurt Schumacher gesagt: Sie werden mir doch dort von allen Seiten bei lebendigem Leibe die Haut vom Leibe reißen. Ja, sagte er, das werden sie, aber das wirst du auch aushalten. So ging das. Und das habe ich manchmal so gefühlt, als wenn mir die Haut vom Leibe gezogen würde.

Gaus: Ich habe ein Zitat von Ihnen gefunden, Herr Wehner. Danach haben Sie im Jahre 1941 in Schweden Ernst Wiecherts Buch vom „Einfachen Leben“ gelesen und sind von dieser Lektüre sehr tief berührt worden. Sagen Sie mir, was bedeutete dieses Buch eines Mannes aus einem ganz anderen Lager für Sie?

Wehner: Erstens, weil es ein Buch war, geschrieben in diesem Deutschland, mit dem ich so verbunden war und aus dem ich ausgebürgert war, von dem ich steckbrieflich verfolgt war und, wenn sie mich gehabt hätten, nicht mehr leben würde. Deutschland ist mein Vaterland gewesen in jeder Phase. Und da konnte in dieser Zeit ein solches Buch geschrieben werden! Es war für mich ein Glücksfall, in Stockholm dieses Buch zu finden. Ich ging immer wieder in die Buchhandlung, obwohl es für mich unklug war, mich dort als ein nicht legaler Mann sehr viel zu bewegen, und habe nach Ähnlichkeiten gesucht und das eine oder andere Ähnliche gefunden. Und dann: Der Begriff "Einfaches Leben". Ich habe ihn für mich gedeutet: So leben, wie du es wirklich, ohne Umschweife, mit deinem Gewissen vereinbaren kannst. Und nicht so viele Dinge machen müssen, die immer erst besonders erklärt werden müssen. Etwas versimpelt, werden Sie mir vorwerfen, aber so habe ich es gedacht. Das war übrigens auch einer der Gründe, warum ich nicht wieder in eine solche hauptamtliche Parteiarbeit, welche es auch immer sei, gehen wollte.

Gaus: Sie hatten Angst, es würde Sie vom „einfachen Leben“, wie Sie es ...

Wehner: Ja, ja, von dieser Theorie. Ich habe ja jetzt eine Bauerntheorie daraus gemacht.

Gaus: Was war der letzte, entscheidende Anstoß zu Ihrer Trennung vom Kommunismus? Was war der letzte Punkt? Kann man das fixieren?

Wehner: Da muß ich den vorletzten nennen. Der vorletzte war, daß ich mich befassen sollte mit einer Interpretation der kommunistischen Auffassung von der Lehre vom Staat. Als ich versucht habe, das zu Papier zu bringen, da habe ich bei der Hälfte Schluß gemacht und gewußt: Das kannst du nicht mehr begründen und verantworten. Das war im Jahre 1939, mitten in den schrecklichen Jahren des deutsch-sowjetischen Paktes, und in Moskau ohne Freunde. Der eine, den ich hatte, war gerade gestorben. Er war fünfzehn Jahre älter als ich. Er war ein persönlicher Freund von Rosa Luxemburg gewesen. Das war der vorletzte Punkt. Der letzte Punkt war meine Erinnerung an das, was ich an Leiden miterlebt und mitgesehen und mitzutragen gehabt habe in den Jahren des Terrors in der Sowjetunion. Ich habe darüber kein Buch geschrieben; ich kann es nicht. Ich habe es einfach mitgelitten und selbst erlebt. So gab es also dann die Frage für mich: Du bist jetzt endlich raus, du kannst jetzt, wenn es dir gelingt, wieder nach Deutschland zu kommen, dich dort auf eine ehrliche Weise ganz ehrlich machen und kannst – und das war natürlich eine halsbrecherische Idee –, wenn du nicht sehr schnell gefaßt wirst, etwas tun, damit, wenn der Krieg sich dem Ende nähern wird, nicht nur Leute da sind, die sagen können, sie hätten für Moskau oder sie hätten für andere dort gearbeitet. Ich war damals noch in der Vorstellung, man könnte das als ein mit dem offiziellen Kommunismus innerlich fertig gewordener, aber doch noch daran hängender Partisan sozusagen – nicht Partisan im Sinne von Heckenkrieger – machen. Darüber bin ich gestolpert. Ich kam nicht mehr ganz dazu.

Gaus: Sie haben Ihre Trennung vom Kommunismus oft genug sehr deutlich gemacht, haben aber gelegentlich gleichzeitig gesagt, daß Sie an den Werten, an den Grundsätzen einer sozialistischen Arbeiterbewegung festhalten wollten. Was sind für Sie die Grundsätze einer sozialistischen Arbeiterbewegung heute, und welchen Wert machen sie für Sie aus?

Wehner: Ich möchte sagen, daß ich das nie gemeint habe als etwas anderes, als etwas abseitig von der Sozialdemokratie. Die Sozialdemokratie selber betrachte ich aber als etwas Umfassenderes als die sozialistische Arbeiterbewegung, von der Sie eben sprachen. Ich will, daß die Sozialdemokratie das sein kann, was wir versucht haben, ihr mit dem Grundsatzprogramm von Bad Godesberg als Selbstverständnis und Darstellung zu geben: eine Partei des Volkes, mit einer Staatsauffassung der sozialen Demokratie. Und Arbeiterbewegung? Ich habe mich bekannt und bekenne mich heute noch dazu und bin stolz darauf, daß das einmal so war und daß es so angefangen hat. In der Inauguraladresse der Internationalen Arbeiter-Assoziation steht am Schluß als Forderung und als etwas, das die Arbeiter lernen sollten durchzusetzen: daß die gleichen einfachen Gesetze der Moral und des Rechts, die für den Verkehr zwischen Privatpersonen gelten sollten, auch für den Verkehr zwischen den Nationen zur Geltung gebracht werden müssen. Ich habe das immer für eine tolle Sache gehalten, daß eine solche Bewegung, die doch aus Protest gegen Klassenunterschiede, gegen Ungerechtigkeiten, gegen Nichtgleichberechtigung entstanden war, mit so klaren Worten sogar so heikle Dinge, wie es die außenpolitischen Beziehungen sind, ethisch begründet hat. Das hat mich immer innerlich wiederaufgerichtet. Und das ist etwas, von dem ich nicht möchte, daß man es lassen sollte.

Gaus: Glauben Sie, daß die Zeit des Klassenkampfes in der Bundesrepublik vorüber ist?

Wehner: Die Zeit des Klassenkampfes – eine Doktorfrage war es, ist es auch heute, und es ist heute eine Frage für solche, die nach neuen Doktordissertationsthemen suchen. Es ist eine Definitionsfrage, was vom politischen Kampf, wenn man eine Arbeitshypothese haben will, als Klassenauswirkung bezeichnet werden kann. Ich halte das ganze Schema vom Klassenkampf für ein Prokrustesbett, bei dem man dann das, was nicht hineinpaßt, weil es zu lang ist, dadurch passend macht, daß man es abhackt oder, wenn es zu kurz ist, länger zieht. Diese ganze Theorie ist Vergangenheit. Es geht um die Menschen, wie sie wirklich sind; es geht um das Volk, wie es wirklich ist; es geht um die Nation, als die es sich verstehen soll, und es geht um die Werte, die verschieden begründet und auch verschieden schwergewichtig vertreten, aber doch in vielen Punkten gemeinsam sind.

Gaus: Sie haben von den Werten gesprochen. Sie sind verschiedentlich in den Verdacht geraten, in der Bundesrepublik eine Art Titoist oder nach wie vor dogmatischer Marxist zu sein, obwohl Sie vorhin gesagt haben, daß Sie dieses ganz und gar nicht waren. Und zwar sind Sie in diesen Verdacht geraten, weil Sie von den sozialen Errungenschaften gesprochen haben, die im Falle einer Wiedervereinigung Deutschlands bewahrt werden müßten. Was verstehen Sie unter sozialen Errungenschaften, die Sie nicht aufgeben möchten?

Wehner: Lassen Sie mich erst noch mal auf diesen "Marxist" zurückkommen. Das blöde Gerede in Deutschland über Marxismus, das einem, der ein paar Jahrzehnte miterlebt hat, zum Hals heraushängt, hat doch sogar einen Mann wie Schumacher, der einen ganz anders denkfähigen Kopf als ich hatte, dazu gebracht, in dem letzten Stück Papier, das er geschrieben hat, bevor er die Augen schloß, mit Bitterkeit zu sagen, das Schlimmste, was diesem deutschen Volk in der Spaltung geschehen sei, hätten ihm nicht die Alliierten angetan, sondern hätte es sich selbst angetan, indem es unterscheidet zwischen Marxisten und Christen und was Marxismus sei und so weiter. Das hat diesen Mann fürchterlich innerlich gepeinigt und hat ihn dazu gebracht, daß er sagte: „Ich bin ein Marxist.“ Er wollte damit sagen, das ist doch in Wirklichkeit in dem deutschen Bereich nichts anderes gewesen und kann nichts anderes sein als Methode der soziologischen, der sozialen Untersuchung und Prüfung. Als solche hat sie ihre Bedeutung, auch wenn das „ismus“ wegfällt. Und von den Errungenschaften? Sehen Sie, ich bin kürzlich wieder dafür angepufft worden. Was ich denn damit meinte, was ich aus dem, was man auf der anderen Seite im sowjetisch kontrollierten Teil als soziale Errungenschaften oder sozialistische Errungenschaften bezeichnet, in die Bundesrepublik übernehmen wolle. Gar nichts will ich übernehmen in die Bundesrepublik.
Aber ich habe mich gefreut, daß es Leute gibt von ganz anderer Herkunft und ganz anderer Denkweise, die in dieser Beziehung ganz ähnlich denken und vorschlagen. Ich denke an Nell-Breuning. Ich denke an Arnold Brecht, den früheren preußischen Staatssekretär, der mir jetzt wieder einen rührenden Brief geschrieben hat. Heute ist er Universitätslehrer in Amerika. Ich kenne ihn persönlich sonst gar nicht, ich habe einfach nur seine Bücher gern gehabt. Beide sind wieder ganz anders, jeder für sich und voneinander und mir gegenüber. Die sagen doch alle: Wenn es zur Wiedervereinigung kommt, das heißt, wenn die politischen Voraussetzungen, wie internationaler Ausgleich und so weiter, dafür geschaffen sein werden, an denen man arbeiten muß, dann muß es möglich sein, daß man nicht einfach sagt, von diesem Tage an wird es dort so und da so. Da hat Nell-Breuning zum Beispiel in bezug auf sozialpolitische Dinge gesagt: Alles das, was die Menschen in der Zone selbst nicht ablehnen, das muß man ihnen lassen. Ich finde, das ist ein guter Standpunkt, auch ein guter Standpunkt gegenüber denen, die die Mauer gebaut haben. Ein guter Standpunkt gegenüber denen, die behaupten, die Wiedervereinigung sei für uns im freien Teil Deutschlands nichts anderes als der Versuch, wie es Herr Ulbricht gesagt hat, die "Gewalt der imperialistischen Monopole" auch auf seine „DDR“ zu erstrecken. Das zieht dem doch den Boden weg! Lassen Sie doch das Volk selber entscheiden! Wir brauchen doch gar keine Angst zu haben. Über alles kann man reden, wenn die Freiheit der Person und die Gleichheit in der Freiheit der Person und das Recht, diese Freiheit zu gewährleisten und zu bewahren, wenn dies in beiden Teilen Deutschlands erst einmal durchgesetzt wird. Dann kann alles andere sukzessive, und wie es sich ergeben wird, weitergehen. Da gibt es ja auch gewisse natürliche Entwicklungsgesetze.

Gaus: Herr Wehner, noch einmal zurück auf Ihre SPD-Karriere. Sie sind 1946 in die Sozialdemokratische Partei eingetreten, und Kurt Schumacher ist es gewesen, der Sie in den engeren Führungskreis geholt hat. Woher kannten Sie Schumacher?

Wehner: Schumacher hat mich geholt, als er gehört hat, daß ich mich in Hamburg geregt habe.

Gaus: Hatten Sie ihn vorher jemals getroffen?

Wehner: Nein. Ich habe ihn nie getroffen. Ich durfte ja aus Schweden nicht sofort hier einreisen. Ich konnte nicht nach der sowjetisch besetzten Zone, und in den anderen Zonen wollten sie mich nicht. Das war mein Dilemma. Dadurch, daß meine Frau ein gewisses Anrecht geltend machen konnte, in Hamburg zu sein, wo sie früher gelebt hatte, konnten wir sagen, wir möchten dort hin. Und da sind wir auch hingekommen. Dort habe ich zunächst mal in kleinen Kreisen, in Kursen, Wochenendkursen, wie es damals in diesen Hungerjahren, Kältejahren, Ohne-Licht-Jahren war – ich selber hatte viele Monate hindurch keine Wohnung und mußte mit meiner Frau bald da und bald dort wohnen –, da habe ich aus meinen Erfahrungen erzählt und habe Kurse gemacht, wie man Diskussionsreden vorbereitet und wie man aus einem großen Vortrag, den man sich angehört hat, die Punkte herausfindet, auf die es nützlich und gut ist, einzugehen, wenn man diskutieren darf. So fing es an. Dann habe ich auch an einer Zeitung in Hamburg gearbeitet, die von der Sozialdemokratischen Partei unterstützt wurde – mit einer gewissen Beklemmung -, aber ich habe gedacht, man müsse helfen. Ich wollte nicht, daß diese Wahnidee, man könnte und sollte eigentlich auch im Westen Deutschlands eine sogenannte Einheitspartei, wenn auch auf freiwilliger Basis, aufziehen, um sich griff. Ich hielt es für meine Aufgabe, zu zeigen, daß es darauf ankommt, eine Sozialdemokratische Partei zu haben. So kam ich in die absurde Situation, anderen beibringen zu müssen, daß man keine Einheitspartei haben sollte, weil das so enden würde, wie ich es ihnen sagen konnte. Im Jahr nach dem Krieg, als ich noch in Schweden sein mußte, habe ich auch mit alten Kommunisten briefliche Diskussionen gehabt und ihnen geschrieben, daß das SED-Experiment viel schrecklicher enden würde als ein früheres Experiment der deutschen Kommunisten mit der sogenannten revolutionären Gewerkschafts-Opposition. Es wird fürchterlich enden, das sage ich heute noch. Es wird fürchterlich enden, mit einem moralischen Katzenjammer und einer sittlichen Vernichtung derer, die einmal aus ehrlichen Absichten kommunistische oder sozialistische Vorstellungen solcher Art zu realisieren versucht haben.

Gaus: Sie sind 1958 auf dem Parteitag in Stuttgart zum stellvertretenden Parteivorsitzenden gewählt worden und haben jahrelang nach dem Tod Schumachers als der entscheidende Kopf einer ganz bestimmten Opposition in der Bundesrepublik gegolten. Diesen Ruf haben Sie vor allem unter den Intellektuellen in Deutschland gehabt. Inzwischen gelten Sie gerade bei diesen Leuten als der Sozialdemokrat, der sich am meisten angepaßt hat und eigentlich gar keine Opposition mehr betreibt. Was halten Sie von dieser Meinung?

Wehner: Ich würde, wenn ich da nicht Gefahr liefe, sämtliche Fenster einzuwerfen ...

Gaus: Werfen Sie mal.

Wehner: ... sagen, das ist ein Urteil, das mich an "Weltbühne" und ähnliches erinnert. Selbstüberschätzung.

Gaus: Das Urteil dieser Intellektuellen?

Wehner: Ich spreche nicht generalisierend über Intellektuelle. Das möchte ich nicht. Ich halte das für schrecklich. Intellektuelle für sich selber mögen von sich reden, wie sie wollen, das ist ihr gutes Recht. Aber ich halte es nicht für gut, über Intellektuelle als ein Kollektiv etwas zu sagen und Werturteile abzugeben. Aber ich rede jetzt von denen, die Sie meinen können und die mich so sehen, wie ich ja auch lesen kann, daß sie mich sehen. Ich kann ja einigermaßen lesen. Worauf es ankam, ist: Das Ringen im demokratischen Staat, in dem Teil Deutschlands, in dem man überhaupt noch ringen kann und in dem das Ringen eine Voraussetzung dafür ist, daß auch der andere Teil Deutschlands wieder demokratisch werden wird – und er wird es! –, dieses Ringen muß ein Ringen unter gleichberechtigten innenpolitischen Gegnern sein, die in einer Beziehung aber Partner sind, nämlich in ihrem Verhältnis zum demokratischen Staat. Entsprechend müssen sie sich auch zueinander verhalten. Das war mein Versuch, und ich muß sagen, wenn nicht unvorhergesehene völlige Veränderungen der Großwetterlage kommen, habe ich, bei allem, was ich sonst nicht kann, daran wohl einen guten Teil Verdienst, daß wir in diese Sphäre als Sozialdemokratische Partei gekommen sind. Nicht ich war es allein. Ich habe 1958 diese Wahl angenommen und damals gesagt, was ich kann, das werde ich tun, und dieses Tun wird sich immer darauf konzentrieren, dieser Partei – ich bin deren illegitimes Kind – eine führungsfähige, zusammenarbeitsfähige Mannschaft zu geben und zu erhalten. Das ist mein Job, wenn Sie so wollen. Darum kümmere ich mich, das ist eine schöne Arbeit, aber auch – um Himmels willen – eine nicht ganz einfache Arbeit.

Gaus: Als Stichtag für diese Schwenkung – wenn man sie eine Schwenkung nennen will – der im Godesberger Programm neu gerichteten Sozialdemokratischen Partei erscheint vielen Leuten Ihre Bundestagsrede, Herr Wehner, vom 30. Juni 1960, in der Sie ein Bekenntnis zur NATO abgelegt haben und eine gemeinsame Außenpolitik der großen deutschen Parteien gefordert haben. Nicht viel mehr als ein Jahr vorher haben Sie noch einen „Deutschlandplan der SPD“ vorgelegt, dessen Wiedervereinigungsvorschläge diametral den Vorstellungen der CDU entgegengesetzt waren. Könnten Sie mir erklären, warum es so bald, nach nicht mehr als einem Jahr, zu dieser Schwenkung, zu diesem Stichtag vom 30. Juni 1960 gekommen ist?

Wehner: Dieser Plan mußte zu den Akten gelegt werden mit gutem Recht und so undramatisch wie möglich. Der Plan war ein beinahe verzweifelter Versuch – das gestehe ich offen – angesichts einer bevorstehenden Viermächtekonferenz, von der wir, meine Freunde und ich, befürchteten, sie würde sich festfahren auf dem Punkt: Verhandlungen nur über West-Berlin. Das wollten wir versuchen zu verhindern. Deswegen das, was man etwas ambitiös – hier habe ich auch einen Fehler mit zugelassen – "Deutschlandplan" genannt hat. Es war noch viel mehr, was wir da in der Schublade hatten. Vorschläge über die deutsche Frage, über die Wiedervereinigung, über die Herstellung von Rechten für die Menschen auf der anderen Seite. Dazwischen lag die nicht zustande gekommene Gipfelkonferenz, die Chruschtschow, ehe sie zusammentrat, am Tage des Zusammentritts einfach platzen ließ. Das haben Sie nicht gesagt in Ihrer Frage, aber ich darf daran erinnern. Zu dieser Konferenz, die einen Abschnitt markiert hat, gerade weil sie nicht zustande gebracht werden konnte, mußte man reden. Über die Einschätzung, über das, was nun vor uns steht.
Und wenn ich jetzt meine Rede, was ich nicht kann, in kürzesten Zügen wiedergeben könnte: Es ging eben darum, sich und anderen klarzumachen, daß wir es nicht einfach mit einer automatisch sich fortsetzenden Serie von Vierer-Konferenzen und von Verpflichtungen, die die vier Mächte Deutschland gegenüber einhalten werden, zu tun haben. Wir werden eine ganze Zeit lang kämpfen müssen, damit wir den Kopf über Wasser behalten und damit die vier Mächte sich überhaupt mit der deutschen Frage befassen, so daß sie allmählich wieder in ein Verhandlungsfahrwasser kommt. Ich habe da recht konkrete Vorschläge gemacht. Sie haben das jetzt so feierlich in Ihre Frage nach dem Nato-Bekenntnis gekleidet. Wissen Sie, ich bekenne mich zu manchem. Aber hier habe ich ganz nüchtern gesagt, erstens haben wir nie gesagt, wir seien gegen die NATO, ich persönlich auch nie, noch bevor ich im Bundestag war, denn die NATO wurde ja gegründet, ehe es eine Bundesrepublik gab. Zweitens haben wir auch nie gesagt, die Deutschen müssten raus. Nicht das war es. Wir haben gesagt: Wenn eine Situation gekommen und herbeigeführt sein würde, die die Wiedervereinigung Deutschlands ermöglicht, dann muß auch eine Sicherheitsabrede zwischen den großen Kontrahenten getroffen werden. Darum ging es. Das ist inzwischen Gemeingut geworden.

Gaus: Herr Wehner, war es schwerer, diese neue Linie der SPD gegenüber den anderen Parteien sichtbar zu machen, oder war es schwerer, sie in der eigenen Partei durchzusetzen?

Wehner: Es war beides nicht einfach, um es kurz zu sagen.

Gaus: Woran lag es denn, daß es in Ihrer eignen Partei so schwer war? Versuchen Sie mir doch einmal den Unterschied zwischen der SPD und anderen Parteien, sofern es da noch einen grundsätzlichen Unterschied in der Struktur und in der Mentalität der Parteimitglieder gibt, zu erklären.

Wehner: Sie sagen »noch«. Das Wort noch kann ich in diesem Zusammenhang gar nicht leiden. Wir sind eine große Mitgliederpartei, eine demokratisch gewachsene Partei mit allen Vorteilen und Nachteilen einer solchen großen politischen Gemeinschaft. Dort wird eben diskutiert, dort wird beraten, dort wird beschlossen. Dort wird delegiert. Und dort muß man sich zur Rechenschaft stellen und auch über sich abstimmen lassen. Dort wird nicht kooptiert.

Gaus: Das sagen natürlich die anderen Parteien von sich auch.

Wehner: Aber ich bitte Sie um Entschuldigung, da brauchen Sie nur einmal miteinander zu vergleichen, wie dort Körperschaften zustande kommen und wie sie bei uns zustande kommen. Das ist völlig anders, aber ich weiß, daß es nutzlos ist, hier zu versuchen, an die Tatsachen zu appellieren. Das können Sie sich aus dem Nebeneinanderlegen der Statuten und dem Zustandekommen von Parteitagen und Parteivorständen und Parteiausschüssen sehr einfach erklären. Ich will da den anderen gar nicht zu nahe treten. Bei uns ist es eben so, in hundert Jahren so geworden.

Gaus: Ist das nicht manchmal für jemanden, der so unbeirrt offensichtlich das eine große Ziel verfolgt, an den Staat und in den Staat hineinzuführen und das auch durch eine Regierungsverantwortung der Sozialdemokratischen Partei sichtbar zu machen, ist es nicht für einen Mann wie Sie, der dieses Ziel so unbeirrbar verfolgt, sehr lästig, mit dieser in hundert Jahren gewachsenen Mentalität der SPD leben zu müssen?

Wehner: Da muß ich ein Wort anwenden, das ich einmal von einem anderen in einer anderen Sprache gehört habe und das mir seither nicht mehr aus dem Kopf gegangen ist. Mit Bescheidenheit und einer gewissen Demut hat derjenige, der an eine solche Stelle gewählt worden ist, sich den Aufgaben zu unterziehen, die zum Teil physisch, seelisch und auch geistig allerlei Qualen mit sich bringen.

Gaus: Die auch einmal eine Vergewaltigung sein können?

Wehner: Hier geht es nur darum, daß er ehrlich ist und ehrlich bleibt. Und damit hören Sie wieder von dieser meiner These vom einfachen Leben, die Sie selber entdeckt haben, auch wenn sie jetzt hier übertragen klingen mag.

Gaus: Sie haben in der Bonner Regierungskrise im Herbst 1962 mit den Abgeordneten Guttenberg und Lücke und schließlich auch mit Adenauer über eine Regierungsbeteiligung der SPD verhandelt. Es hat seinerzeit Stimmen in Ihrer Partei gegeben, die gemeint haben, die Regierung solle die Suppe, die sie sich eingebrockt hat, ruhig allein auslöffeln, während Sie doch das schon erwähnte Ziel, die SPD mit an die Regierung heranzubringen, offensichtlich auch ungeachtet aller sachlichen und ideologischen Anpassungsopfer auf jeden Fall anstreben wollten.

Wehner: Wenn ich Ihnen da schon bei der Frage eine Korrektur anbringen darf, dann die: Die Gespräche, die damals durch den Minister Lücke eingeleitet wurden, begannen mit Feststellungen über das Verhältnis Lückes zu dem damaligen Ministerkollegen Lückes, nämlich zu Herrn Strauß, mit Feststellungen darüber, daß er sich entschlossen habe, keiner Regierung mehr anzugehören, gleichgültig unter welchen Umständen sie sonst zustande kommen würde, der auch Strauß angehören könnte. Es seien weitere vier Mitglieder seiner eigenen Partei, der CDU, die dem Kabinett angehören, die derselben Auffassung seien wie er. Das war für mich damals das politisch Entscheidende, diese Gespräche aufzunehmen über den Versuch eines zeitweiligen Miteinanderregierens von CDU und SPD auch unter der vorübergehenden Kanzlerschaft Adenauers, die ich nicht zeitlich begrenzt, sondern als ein Abwicklungskabinett gesehen hätte. Ich habe damals in der gemeinsamen Sitzung der Vorstände der Partei und der Bundestagsfraktion für diesen Vorschlag nach langer und ganztägiger, harter und schonungsloser Diskussion, wie sie bei uns üblich ist, mit dreiundzwanzig zu dreizehn obsiegt. Nicht ich persönlich, andere haben diesen Vorschlag ja auch unterstützt. Das war die Situation. Ich habe Ihre Frage etwas korrigieren wollen, weil ich nicht möchte, daß das Ganze bloß als ein Ausfluß von ganz subtilen taktischen Überlegungen erscheint. Hier ging es darum, daß sich mir eine bis zu dem Tage nicht gesehene Möglichkeit zu bieten schien, dem damaligen Verteidigungsminister, dem Landesgruppenleiter der CSU in Bayern, der die Okkupation der Staatsmacht auf Dauer mit Mitteln „etwas außerhalb der Legalität“ zu betreiben versuchte – wie einer seiner Ministerkollegen gesagt hatte –, eine parlamentarische Bedenk- und Bewährungszeit zu schaffen, in der er nicht exekutieren konnte. Das hielt ich für „eine Messe wert“, um es einmal so zu sagen.

Gaus: Sie sprachen von einer Bewährungsprobe.

Wehner: Zeit! Nicht Probe.

Gaus: Von einer Bewährungszeit. Jemandem eine Bewährungszeit einräumen heißt doch, daß man auch den Glauben an eine Bewährung hat, die Sie für nötig halten.

Wehner: Der Meinung bin ich, auch wenn ich wirklich ein scharfer Gegner des Herrn Strauß bin. Das mögen Sie deuten, wie Sie wollen: Ich halte es für ein Lebensgesetz in der Demokratie, den Gegner nicht vernichten, nicht eliminieren, nicht – wie dieses schreckliche Wort, das ich nicht in den Mund nehme, lautet – ausmerzen zu wollen. Ich halte dafür, ihn zu überwinden, ich halte dafür, ihn politisch zu schlagen, ihn geistig zu widerlegen, und ich halte dafür, ihm die Chance zu geben, sich zu ändern. Im Falle Strauß könnte ein Wiederkommen nach meiner Meinung und der Meinung meiner Partei nur nach einer Änderung in seinem Verhältnis zu den demokratischen Grundregeln möglich sein. So wollte ich Ihnen erklärt haben, weshalb ich damals in diese von manchen als halsbrecherisch angesehenen Verhandlungen hineingegangen bin.

Gaus: Herr Wehner, Willy Brandt hätte schwerlich gegen Ihren Widerstand der Kanzlerkandidat der SPD werden können. Ich würde gern von Ihnen wissen, seit wann Sie Brandt als Kanzlerkandidaten im Auge gehabt haben.

Wehner: Nachdem die Bundestagswahl von 1957 zu einer tiefgehenden Selbstprüfung in der sozialdemokratischen Parteimitgliedschaft geführt hatte, habe ich versucht, mit Freunden wie Ollenhauer und Mellies diese Diskussion nicht zu einer uferlosen, sondern zu einer die Partei läuternden, ihr helfenden und sie effektiver machenden Diskussion werden zu lassen. Damals habe ich mit solchen Vorschlägen angefangen wie denen, daß wir personalisieren sollen, auch bei Wahlen.

Gaus: Dies war eine Anpassung an die Wünsche der westdeutschen Bevölkerung, die eine personalisierte Wahl bevorzugte?

Wehner: Was heißt Anpassung? Das war so, das hat sich so entwickelt. Warum sollen wir anonym sein, wenn andere Namen nennen? Wir haben doch viele gute Namen und einige, die gut zu Nummer eins passen. Brandt war und ist für mich der Mann, der an der schwierigsten Stelle, an der in Deutschland Politik gemacht werden muß und kann, nämlich im geteilten Berlin, Politik macht. Das ist eine große Sache. Ohne jeden anderen Oberbürgermeister oder Landesregierungschef abwerten zu wollen: Das ist ja nicht einfach eine Routinearbeit, das ist doch eine Arbeit, die dem Menschen täglich ans Herz greift mit allem, was er dort vor Augen hat, womit er sich zu befassen und worüber er zu entscheiden hat. Wenn er gut genug ist, an dieser Stelle deutsche Politik zu machen, wie früher Reuter und Luise Schröder und andere gut genug dafür waren, dann muß ich sagen: Das ist eine interessante Entwicklung in der Sozialdemokratischen Partei, daß der Mann zum politisch führenden Mann, dem Vorsitzenden, gemacht wird. Das Wort ist ja bei uns so schrecklich, das skandinavische gefällt mir viel besser. Dort nennen sie ihn den "Wortführer". Aber so ist die deutsche Sprache. Darüber will ich nicht meckern. So gesehen, habe ich nie gegen Brandt gestanden, weil Sie gesagt haben, ohne oder gegen mich hätte er es nicht werden können. Ich war immer einer von denen, die den Mann mit Interesse in seinem politischen Werdegang begleitet haben, solange ich ihn kenne.

Gaus: Erlauben Sie mir eine letzte Frage, Herr Wehner. Worin sehen Sie Ihre besondere Bedeutung in der Sozialdemokratischen Partei, was ist Ihr stärkstes Talent, das Sie in den Dienst dieser Partei stellen können?

Wehner: Helfen. Und arbeiten und nicht verzweifeln. Und auch die skeptischen Leute die Erfahrung erleben lassen, daß es mit Ehrlichkeit geht. Mit Ehrlichkeit: Ich meine das Wort jetzt im ganz großen Sinne. Ich habe vorhin in Erinnerung gebracht: Als ich 1958 zum stellvertretenden Vorsitzenden gewählt wurde, habe ich gesagt: Ich kann euch nur eins wirklich versprechen, und das werde ich machen, solange ich arbeiten kann und solange ihr mich dahin wählt: Ich werde eine wirkliche Mannschaft, eine arbeitsfähige, zusammenarbeitsfähige Mannschaft bilden und erhalten helfen. Das ist mein Wert, wenn das ein Wert ist.