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Die Bushaltestelle "Europe" an der Ausfallstraße einer Stadt in Frankreich: Aus dem Bus steigt Zohra Hamadi, Metallstangen im Rücken. Sie geht aufrecht, kann endlich frei atmen. Doch Europa gewährt ihr nur ein paar Tage Gegenwart. Zohra, allein in einer sommerlich entleerten Welt, entscheidet sich dafür, nach der Zukunft zu greifen. Die Geschichte einer staatlich erzwungenen Fiktionalisierung.
Hoffen auf ein Sommer ohne Schmerzen
Chatellerault, ein paar Blocks, eine Brasserie, ein Kebabladen und ein Bus, der zwischen Krankenhaus und Wald, einem Naherholungsgebiet vor der Stadt pendelt.
Hier lebt Zohra Hamadi, 32, deren Sommer mit dem Ende einer langen Krankengeschichte beginnt. Zum ersten Mal in ihrem Leben kann Zohra aufrecht gehen, fast schmerzfrei - sie könne ab jetzt ein ganz normales Leben führen, sagt der Arzt, dem sie ihre körperliche Freiheit verdankt. Ein ganz normales Leben – in Europa.
Von der Geflüchteten zur Flüchtigen
Es ist Sommer, und ganz Frankreich bereitet sich auf die Ferien vor. Zohra braucht nur noch die Verlängerung ihrer Aufenthaltsgenehmigung, dann wird sie aufbrechen, um ein paar Wochen mit ihrem Verlobten in den algerischen Bergen zu verbringen. Doch die Verlängerung bleibt aus: Mit dem Ende ihrer Behandlung verliert Zohra ihr Aufenthaltsrecht. Sie wird - für ihr Umfeld wie für die Zuschauer - zu einer in die Unsichtbarkeit verbannten Protagonistin.
Familie und Freunde brechen auf, sie bleibt allein zurück. Diese entleerte Welt wird für Zohra, ausgestattet mit einer Handvoll Schlüssel für die Wohnungen der anderen, zur Bühne. Sie wird sichtbar, indem sie ihre Zukunft erfindet. Ihre Fiktionen, mal subtil, mal anmaßend bürgerlich, ziehen uns in ein Verwirrspiel parallel sich entfaltender Realitäten. Dadurch bekommt sie etwas Transparentes, Geisterhaftes - aus der Flüchtenden wird eine Flüchtige, die sich dem systematischen Griff der staatlichen Gewalten entzieht.
Dokumentarischer Spielfilm mit Laiendarstellern
„Europe“ ist ein dokumentarischer Spielfilm mit Laiendarstellern – die Übergänge zwischen Film und Wirklichkeit verschwimmen. Die Basis dieses Films ist eine dokumentarische Recherche, die sich an der Biografie von Rhim Ibrir orientiert. Die Auseinandersetzung mit ihrer Lebensrealität führte zwangsweise in Richtung Fiktion. Aus Rhim Ibrir wird Zohra Hamadi, „Schauspielerin“ und Charakter durchdringen einander. Rhim Ibrir über ihrer Rolle als Zohra Hamadi: „Sie spielt all das, aber es ist kein Spiel für sie. Für sie ist es wahr, was sie spielt. Der Film hört nicht auf. Selbst wenn sie den Film verlässt, lebt sie immer noch das, was sie gespielt hat.“
Der Film wird zum „Internationale Tag der Migranten“ gezeigt, der UNO-Welttag soll auf die Situation der Menschen mit Migrationshintergrund hinweisen.
Film von Philip Scheffner
Erstsendung: 18.12.2024/rbb