Viertel Neun - Filme aus Ost und West -
Ein Portemonnaie verfolgt das finanzielle Wohl und Wehe einer dreiköpfigen (West-)Berliner Durchschnittsfamilie mit Durchschnittseinkommen. Heiter-satirische Alltagsbetrachtung aus dem Jahr 1960.
Familie Schulze lebt in einem Mietshaus irgendwo in (West-)Berlin 1960. Zu ihr gehören Vater Erwin, Mutter Dorette, ihr halbwüchsiger Sohn Männekin und Hund "Nauke". Eine kleine Familie, in der wie in allen Familien mal mehr, mal weniger Harmonie herrscht. Ein Diskussionspunkt ist immer wieder das liebe Geld. Bringt Erwin es zum Monatsende nach Hause, wird es von Dorette in einem stets wiederkehrenden Ritual genau eingeteilt für den nun kommenden Monat.
Da gibt es natürlich das Taschengeld für Männekin, aber da sind auch die Kosten für Miete, Strom, Gas und Radio. Schulden beim Kaufmann müssen auch zurückgezahlt werden. Außerdem verteilt Dorette nach einem ausgeklügelten Kaffeetassen-System, dass nur sie versteht, Geld in eine Kohlenkasse, eine Kleiderkasse und eine Reisekasse. Am Ende sind von 469,50 Mark noch 229 Mark übrig. Die müssen reichen bis zum Monatsende.
Ganz wichtig aber: Familie Schulze hat noch ein fünftes Mitglied: Das Portemonnaie, ein Werbegeschenk aus Rindsleder. Es ist eigentlich die Hauptperson, denn ihm wird schließlich das Budget für den ganzen Monat anvertraut. Und so nimmt das Portemonnaie das Publikum an die Hand und lässt es aus seiner Perspektive teilhaben an einem - mehr oder weniger - typisch-turbulenten Monat der Familie Schulze.
Der vom Sender Freies Berlin produzierte Film aus dem Jahr 1960 ist überraschend aktuell, mit dem kleinen Unterschied, dass jetzt viele Menschen den Euro zweimal umdrehen müssen und nicht mehr die Mark und er ist ein filmisches Kabinettstück ganz eigener Art: Sei es der Vorlese-Abend, bei dem der Fortsetzungskrimi an der spannendsten Stelle abbricht. Sei es der Versuch von Erwin, einen stabilen Pflanzenständer zu bauen. Sei es die völlig aberwitzige Szene, in der Dorette versucht, Erwin endlich das Tassen-System begreiflich zu machen. Das Vergnügen beim Publikum ist vorprogrammiert. Absolut sehenswert ist auch Männekin, der Junge trifft genau den echt berlinischen Ton. Grandios als Sprecher des Portemonnaies: Günther Lüders. Er kommentiert das Familiengeschehen trocken-ironisch-geistreich. Günter Pfitzmann und Wolfgang Gruner vervollkommnen mit ihren Kurzauftritten das Vergnügen.
Die eindrucksvolle Wirkung des Films beruht einerseits auf dem Wortwitz. Andererseits wird die in Schwarzweiß gedrehte, heiter erzählte Geschichte durch eine außergewöhnliche Kameraführung verstärkt. Die Perspektive des Portemonnaies als Ich-Erzähler wird in einigen Szenen auch bildlich aufgegriffen. So wird der Zuschauer im Einkaufsnetz mit auf den Wochenmarkt genommen oder kann die amüsanten Gespräche der Familie Schulze von der Ablage des Küchenschranks aus beobachten.
Ich, die Hauptperson
30 Tage aus dem Leben eines Portemonnaies
Fernsehfilm Deutschland 1960
Erwin Schulze (Jochen Schröder)
Dorette (Inken Deter)
Männekin (Jens-Peter Erichsen)
Sprecher des Portemonnaies (Günther Lüders)
Der Ausrufer (Günter Pfitzmann)
Der Vertreter (Wolfgang Gruner)
Die Obstfrau (Erna Haffner)
Nachbar (Erich Fiedler) u.a.
Musik: Olaf Bienert
Kamera: Werner Lenz
Buch: Detlef Müller
Regie: Dieter Finnern