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Legenden halten sich hartnäckig, auch in Brandenburg an der Havel: der Volksaufstand am 17. Juni 1953 sei gesteuert gewesen von "westlichen Provokateuren", mehrere Busse mit gut gekleideten Provokateuren seien von West-Berlin nach Brandenburg gefahren, um die Arbeiter im Stahl- und Walzwerk und anderswo aufzuhetzen. Nur wenige Zeitzeugen erzählen, wie es wirklich war. Auch umfangreiche Dokumente des Landeshauptarchivs bestätigen, dass viele Menschen in der DDR die Nase voll hatten von Normerhöhungen und politischer Willkür der SED-Funktionäre.
Als sie geboren wurde, war der Aufstand schon vorbei: Constanze Kutschker, 27 Jahre.
Heute sucht sie in Brandenburg an der Havel die Spuren jenes 17. Juni.
Constanze Kutschker, Volontärin Museum im Frey-Haus, Brandenburg
„Vielleicht ist es auch eine Chance, dass es schon 50 Jahre her ist. Und es ist eine Chance, dass ich eben die Hälfte meines Lebens in der DDR verbracht habe, die Hälfte meines Lebens in der Bundesrepublik. Und das birgt für mich die Chance, vielleicht eher mit einem freieren Blick reinzugehen. Nicht in Grabenkämpfe verstrickt zu sein.“
Fürs städtische Museum hat Constanze Kutschker eine Ausstellung vorbereitet. Sie wollte wissen: was war an diesem Tag wirklich los in der Stadt. Über 10.000 Demonstranten sollen unterwegs gewesen sein - doch nur 12 Zeitzeugen folgten ihrem Aufruf, von damals zu berichten.
Einer von ihnen: Ullrich Tettenborn.
22 Jahre war er - und frischgebackener Ingenieur im Stahl- und Walzwerk Brandenburg.
Am 17. Juni ging er morgens wie immer in sein Büro im Stahlwerk. Doch schon nach einer halben Stunde informierte ihn seine Mutter: draußen ist die Hölle los, die Leute wollen streiken.
Ullrich Tettenborn, 1953 Stahlwerker im SWB
„Dann bin ich rausgegangen, habe das gesehen – habe diese gewisse Unordnung, dieses Durcheinander gesehen und habe gesagt: hier muss ein Signal gesetzt werden. Hier muss irgendjemand etwas tun, sonst formieren die sich nicht und marschieren nicht los.“
Die Werksirene - Tettenborn wollte sie anwerfen, rannte los, auf der Suche nach dem Alarmknopf. Er kam nach oben, auf die sogenannte Ofenbühne – und wurde sofort festgenommen. Mit dabei: FDJ und FDGB-Funktionäre des Werks.
Ullrich Tettenborn
„ Die waren alle hier oben, die haben sich ja unten zum Volk nicht getraut!
Wie verlief Ihre Festnahme denn?
Ja, die haben mich bespuckt und noch schönere Dinge mit mir gemacht .
Was?
Ja, der FDJ-Funktionär hat mich vollgepinkelt.“
Tettenborn wurde in den Knast geprügelt. Zunächst ins Werksgefängnis, dann in den Keller des Brandenburger NKWD, schließlich nach Potsdam ins Stasi-Gefängnis.
Er sollte gestehen, vom Westen instruiert worden zu sein, das Stahl- und Walzwerk zu zerstören. Vier Wochen Prügel, Schlafentzug, Verhöre – und noch andere Foltermethoden.
Ullrich Tettenborn
“Ich kann mich erinnern, auf einen Tisch gestellt worden zu sein, um den Hunde – Schäferhunde – herumlagen. Sie müssen sich vorstellen, ich hatte tagelang nicht richtig geschlafen. Die Hunde sprangen hoch, wenn ich nur den Körper bewegte und umzufallen drohte, dann waren die Hunde da. Und das hält man eine Zeitlang durch. Zum Schluss sagt man sich: es ist alles egal.“
Wegen Boykotthetze wird Ullrich Tettenborn zu einem Jahr und 6 Monaten Zuchthaus verurteilt. Doch er kommt frei und geht in den Westen.
Vor 50 Jahren lief Helga Schmidt hier nicht allein entlang, sondern mit tausenden Demonstranten. 15 Jahre war sie alt und sie kam gerade aus der Schule.
Helga Schmidt, 1953 Schülerin in Brandenburg
17. Juni, später Vormittag. Herbert Mehrwald war unterwegs zum Gericht in der Steinstraße. Er fuhr einen Rot-Kreuzwagen und hatte den Auftrag, Verletzte zu bergen
Die Stimmung vorm Gericht war aufgeheizt. Seit Stunden versuchten die Demonstranten, Häftlinge zu befreien. Schließlich stürmte die aufgebrachte Menge das Gericht und das dahinterliegende Gefängnis. Dort befand sich auch der Richter Harry Benkendorff. Er gab später zu Protokoll:
Zitat Harry Benkendorff:
„Als die Aufrührer nun begannen, die Eingangstür einzudrücken, wurden ... endlich die ersten Warnschüsse abgegeben. ... Als ich mit meiner Pistole nach vorn kam, brach bereits die Tür ein.“
Benkendorff wurde von den Aufständischen gefangengenommen.
Herbert Mehrwald, 1953 Rot-Kreuz-Fahrer in Brandenburg
„Und da kamen sie raus. Vorneweg die Meute und zwischen drinnen der Richter Benkendorff. Gefesselt mit den Händen nach vorne. Und die Meute hat gerufen: Aufhängen, aufhängen.“
Lynchjustiz lag in der Luft. Fast wäre ihr der systemtreue Richter zum Opfer gefallen.
Doch Mehrwald folgte der aufgebrachten Menge mit seinem Rot-Kreuzwagen bis zum Neustädter Markt. Dort sollte der Richter an einem Gerüst erhängt werden.
Herbert Mehrwald
„Ich habe Angst gehabt, dass man muss das ansehen, wie sie einen Menschen hier aufhängen, und habe dann meinen Mut geäußert, indem ich gesagt habe; wir haben kein Recht, einer den anderen umzubringen. Das steht uns nicht an. Und wenn er soll etwas begangen haben, einen Menschen so hart verurteilt haben, wie es hier erzählt wird, dann wird doch eine andere Regierung kommen und die werden ihn dann verurteilen, aber wir können doch nicht einer den anderen umbringen, das steht uns nicht zu.“
Mehrwald hat den Richter rettet: er brachte ihn in eine nahegelegene Arztpraxis und dann ins städtische Krankenhaus.
Er wollte seine Erinnerungen nicht veröffentlicht sehen im Museum: Paul Schulze, 82 Jahre alt. Seit 55 Jahren ist er Parteimitglied: erst SED, jetzt PDS. Unter den alten Genossen kursieren weiter die alten Gerüchte vom ferngesteuerten Aufstand.
Teilgenommen hat Schulze damals nicht – obwohl er in der Stadt war.
Paul Schulze, 1953 Lehrer in Brandenburg
„Na ja, es gab da vorher da irgendwelche Unruhen, das habe ich mitgekriegt, aber ohne was Konkretes dabei zu denken, denn ich war ja eigentlich nicht betroffen von Normerhöhung als Lehrer. Wir hatten auch nicht den Auftrag, jetzt mehr Stunden zu erteilen.“
Wut, Hoffnung und Verzweiflung des 17. Juni – bis heute haben sie Paul Schulze nicht erreicht. Er bleibt dabei: den Streik im Stahl- und Walzwerk haben Agenten aus dem Westen angezettelt, nicht die Stahlarbeiter. Von den Stahlarbeitern selbst sei er nicht ausgegangen.
Paul Schulze
„Es sind in die Abteilungen Leute reingekommen und haben gesagt: los, raus, wir demonstrieren. Die haben in den Abteilungen gar nicht daran gedacht.“
„Ich halte das Einwirken, den Versuch des Einwirkens von Ost-Büro der SPD für gegeben.“
Ullrich Tettenborn
“Von meinem Wissen, von der ganzen Situation: da war keine Organisation, da war kein Zusammenhang mit irgendwelchen westlichen Agenten. Dann hätte es viel besser klappen müssen.“
Heute sucht sie in Brandenburg an der Havel die Spuren jenes 17. Juni.
Constanze Kutschker, Volontärin Museum im Frey-Haus, Brandenburg
„Vielleicht ist es auch eine Chance, dass es schon 50 Jahre her ist. Und es ist eine Chance, dass ich eben die Hälfte meines Lebens in der DDR verbracht habe, die Hälfte meines Lebens in der Bundesrepublik. Und das birgt für mich die Chance, vielleicht eher mit einem freieren Blick reinzugehen. Nicht in Grabenkämpfe verstrickt zu sein.“
Fürs städtische Museum hat Constanze Kutschker eine Ausstellung vorbereitet. Sie wollte wissen: was war an diesem Tag wirklich los in der Stadt. Über 10.000 Demonstranten sollen unterwegs gewesen sein - doch nur 12 Zeitzeugen folgten ihrem Aufruf, von damals zu berichten.
Einer von ihnen: Ullrich Tettenborn.
22 Jahre war er - und frischgebackener Ingenieur im Stahl- und Walzwerk Brandenburg.
Am 17. Juni ging er morgens wie immer in sein Büro im Stahlwerk. Doch schon nach einer halben Stunde informierte ihn seine Mutter: draußen ist die Hölle los, die Leute wollen streiken.
Ullrich Tettenborn, 1953 Stahlwerker im SWB
„Dann bin ich rausgegangen, habe das gesehen – habe diese gewisse Unordnung, dieses Durcheinander gesehen und habe gesagt: hier muss ein Signal gesetzt werden. Hier muss irgendjemand etwas tun, sonst formieren die sich nicht und marschieren nicht los.“
Die Werksirene - Tettenborn wollte sie anwerfen, rannte los, auf der Suche nach dem Alarmknopf. Er kam nach oben, auf die sogenannte Ofenbühne – und wurde sofort festgenommen. Mit dabei: FDJ und FDGB-Funktionäre des Werks.
Ullrich Tettenborn
„ Die waren alle hier oben, die haben sich ja unten zum Volk nicht getraut!
Wie verlief Ihre Festnahme denn?
Ja, die haben mich bespuckt und noch schönere Dinge mit mir gemacht .
Was?
Ja, der FDJ-Funktionär hat mich vollgepinkelt.“
Tettenborn wurde in den Knast geprügelt. Zunächst ins Werksgefängnis, dann in den Keller des Brandenburger NKWD, schließlich nach Potsdam ins Stasi-Gefängnis.
Er sollte gestehen, vom Westen instruiert worden zu sein, das Stahl- und Walzwerk zu zerstören. Vier Wochen Prügel, Schlafentzug, Verhöre – und noch andere Foltermethoden.
Ullrich Tettenborn
“Ich kann mich erinnern, auf einen Tisch gestellt worden zu sein, um den Hunde – Schäferhunde – herumlagen. Sie müssen sich vorstellen, ich hatte tagelang nicht richtig geschlafen. Die Hunde sprangen hoch, wenn ich nur den Körper bewegte und umzufallen drohte, dann waren die Hunde da. Und das hält man eine Zeitlang durch. Zum Schluss sagt man sich: es ist alles egal.“
Wegen Boykotthetze wird Ullrich Tettenborn zu einem Jahr und 6 Monaten Zuchthaus verurteilt. Doch er kommt frei und geht in den Westen.
Vor 50 Jahren lief Helga Schmidt hier nicht allein entlang, sondern mit tausenden Demonstranten. 15 Jahre war sie alt und sie kam gerade aus der Schule.
Helga Schmidt, 1953 Schülerin in Brandenburg
17. Juni, später Vormittag. Herbert Mehrwald war unterwegs zum Gericht in der Steinstraße. Er fuhr einen Rot-Kreuzwagen und hatte den Auftrag, Verletzte zu bergen
Die Stimmung vorm Gericht war aufgeheizt. Seit Stunden versuchten die Demonstranten, Häftlinge zu befreien. Schließlich stürmte die aufgebrachte Menge das Gericht und das dahinterliegende Gefängnis. Dort befand sich auch der Richter Harry Benkendorff. Er gab später zu Protokoll:
Zitat Harry Benkendorff:
„Als die Aufrührer nun begannen, die Eingangstür einzudrücken, wurden ... endlich die ersten Warnschüsse abgegeben. ... Als ich mit meiner Pistole nach vorn kam, brach bereits die Tür ein.“
Benkendorff wurde von den Aufständischen gefangengenommen.
Herbert Mehrwald, 1953 Rot-Kreuz-Fahrer in Brandenburg
„Und da kamen sie raus. Vorneweg die Meute und zwischen drinnen der Richter Benkendorff. Gefesselt mit den Händen nach vorne. Und die Meute hat gerufen: Aufhängen, aufhängen.“
Lynchjustiz lag in der Luft. Fast wäre ihr der systemtreue Richter zum Opfer gefallen.
Doch Mehrwald folgte der aufgebrachten Menge mit seinem Rot-Kreuzwagen bis zum Neustädter Markt. Dort sollte der Richter an einem Gerüst erhängt werden.
Herbert Mehrwald
„Ich habe Angst gehabt, dass man muss das ansehen, wie sie einen Menschen hier aufhängen, und habe dann meinen Mut geäußert, indem ich gesagt habe; wir haben kein Recht, einer den anderen umzubringen. Das steht uns nicht an. Und wenn er soll etwas begangen haben, einen Menschen so hart verurteilt haben, wie es hier erzählt wird, dann wird doch eine andere Regierung kommen und die werden ihn dann verurteilen, aber wir können doch nicht einer den anderen umbringen, das steht uns nicht zu.“
Mehrwald hat den Richter rettet: er brachte ihn in eine nahegelegene Arztpraxis und dann ins städtische Krankenhaus.
Er wollte seine Erinnerungen nicht veröffentlicht sehen im Museum: Paul Schulze, 82 Jahre alt. Seit 55 Jahren ist er Parteimitglied: erst SED, jetzt PDS. Unter den alten Genossen kursieren weiter die alten Gerüchte vom ferngesteuerten Aufstand.
Teilgenommen hat Schulze damals nicht – obwohl er in der Stadt war.
Paul Schulze, 1953 Lehrer in Brandenburg
„Na ja, es gab da vorher da irgendwelche Unruhen, das habe ich mitgekriegt, aber ohne was Konkretes dabei zu denken, denn ich war ja eigentlich nicht betroffen von Normerhöhung als Lehrer. Wir hatten auch nicht den Auftrag, jetzt mehr Stunden zu erteilen.“
Wut, Hoffnung und Verzweiflung des 17. Juni – bis heute haben sie Paul Schulze nicht erreicht. Er bleibt dabei: den Streik im Stahl- und Walzwerk haben Agenten aus dem Westen angezettelt, nicht die Stahlarbeiter. Von den Stahlarbeitern selbst sei er nicht ausgegangen.
Paul Schulze
„Es sind in die Abteilungen Leute reingekommen und haben gesagt: los, raus, wir demonstrieren. Die haben in den Abteilungen gar nicht daran gedacht.“
„Ich halte das Einwirken, den Versuch des Einwirkens von Ost-Büro der SPD für gegeben.“
Ullrich Tettenborn
“Von meinem Wissen, von der ganzen Situation: da war keine Organisation, da war kein Zusammenhang mit irgendwelchen westlichen Agenten. Dann hätte es viel besser klappen müssen.“