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Wer in dieser Stadt unterwegs ist, weiß: Hier steigen die Menschen eher trotz der Verkehrspolitik aufs Rad, aber nicht deswegen. Dennoch brüstet sich die Senatsverwaltung für Staatentwicklung.
Anmoderation
Morgen soll's wieder wärmer werden. Da haben uns die Meteorologen bis zu 19 Grad versprochen. Und das heißt: Viele Berliner werden wieder aufs Fahrrad umsteigen. Und das ist auch gut so: Weil das Radfahren umweltverträglicher ist als Autofahren, lärmärmer und schlichtweg gesünder. Umso ärgerlicher, dass sich die Verkehrspolitik immer noch nicht auf die zunehmende Zahl von Radfahrern eingestellt hat. Ein klares fahrradpolitisches Konzept ist mehr als überfällig, wie Helge Oelert zeigt.
Radfahrer im täglichen Straßenkampf mit dem Auto.
Wer in dieser Stadt unterwegs ist, weiß: Hier steigen die Menschen eher trotz der Verkehrspolitik aufs Rad, aber nicht deswegen. Dennoch brüstet sich die Senatsverwaltung für Staatentwicklung.
Christian Gaebler (SPD)
Senatsverwaltung für Staatentwicklung
"Berlin ist eine Fahrradstadt, weil inzwischen 15 Prozent der Verkehrswege mit dem Fahrrad zurückgelegt werden mit deutlich steigender Tendenz."
Das erzählt man auch gern den Touristen...
Internetfilm
"Berlin ist ein Eldorado für Fahrradfahrer.“
Mit diesem Filmchen präsentiert sich die Stadt im Internet
Internetfilm
"Ein großzügig angelegtes Radwegenetz durchzieht die Stadt und verbindet alle wichtigen Orte.“
Doch die Realität sieht anders aus. Alle zwei Stunden verunglückt in Berlin ein Radfahrer, 14 starben im vergangenen Jahr.
In einer Rangliste der fahrradfreundlichsten deutschen Städte Deutschlands landete Berlin abgeschlagen auf Platz 24. Willkommen in der Wirklichkeit.
Gerade sollten die Mittel wenigstens auf bescheidene 4 Millionen angehoben werden – da blockierte selbst das der Hauptausschuss. Die Experten sind einer Meinung:
Marion Laube
Verkehrsclub Deutschland
"Das ist ein Witz, die sind aus der Portokasse."
Tilman Bracher
Institut für Urbanistik
"Die Verwaltungsprobleme führen dazu, dass der Aufbruch, den wir alle erhoffen, in den Mühlen der Verwaltung und der Politik hängen bleibt."
Benno Koch
Verkehrsjournalist
"Aus diesem Betroffenheitsmodus der 90er Jahre müsste man mal rauskommen und sagen, jetzt machen wir mal richtig Fahrradpolitik."
Benno Koch kennt sich aus im politischen Betrieb, er war von 2003 bis 2009 ehrenamtlicher Fahrradbeauftragter von Berlin: Mit viel Detailwissen musste er alle Verwaltungsentscheidungen überprüfen, ob sie dem strategischen Ziel dienen, den Radverkehr zu fördern. Doch seit drei Jahren gibt es diesen Posten nicht mehr – der Staatssekretär hält so was in Berlin für überflüssig.
Christian Gaebler (SPD)
Staatssekretär Senatsverwaltung Staatentwicklung
"Wir haben viele Fahrradbeauftragte, nämlich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich jeden Tag damit beschäftigen. Es macht auch keinen Sinn, jemanden zu haben, der alle Vorlagen nochmal anguckt und dann meint, er hat ein Entscheidungsrecht darüber. Am Ende entscheide im Zweifelsfall ich, ob was passiert, insofern bin ich auch Fahrradbeauftragter."
Benno Koch
Verkehrsjournalist
"Also wir haben hier in dieser Stadt viele Tausend Probleme zum Thema Fahrradverkehr, und die müssten systematisch abgearbeitet werden. Und das kann man nicht ehrenamtlich machen, und das kann man auch nicht mal so nebenbei machen als Staatssekretär. Und es ist also lächerlich zu behaupten, dass wir Fahrradverkehr hier ernsthaft fördern."
Und Detailarbeit wäre dringend nötig.
Stichwort Verkehrsfluss:
Ampeln lassen Radfahrer an fast jeder Kreuzung halten. Die Phasen sind allein auf Autofahrer ausgerichtet. Das verlockt zu rüpelhaftem Verhalten. Dabei haben Wissenschaftler vom Institut für Urbanistik längst Konzepte, die moderne Verkehrslenkung ermöglichen.
Tilman Bracher
Institut für Urbanistik
"Da könnte man auch über bessere Ampelschaltungen, grüne Welle, Induktionsschleifen, die erkennen, wie viele Radfahrer noch kommen, damit es grün bleibt bis der letzte durch ist, und solche Sachen nachdenken. Also da sind Kapazitätsprobleme, die führen heute dazu, dass halt welche auf den Gehweg ausweichen, andere weichen in die Gegenfahrbahn aus und wieder andere fahren bei Rot durch. Dieses schlechte Verkehrsregelklima hängt auch damit zusammen, dass wir einfach an manchen Stellen schon viel zu viel Radverkehr haben für die alte Infrastruktur, die noch aus dem letzten Jahrhundert stammt."
Stichwort Kompetenz:
Für den Ausbau der Radstrecken sind die Bezirke zuständig. Aber sie haben kaum noch Fachkräfte, die sich darum kümmern können. Hier hat die Stadt ihre Zukunftsfähigkeit regelrecht kaputt gespart, urteilt der Verkehrsclub Deutschland.
Marion Laube
Verkehrsclub Deutschland
"Es gibt zum Beispiel sehr wenig Verkehrsplaner eigentlich in den Bezirken. Das heißt also, die Gelder, die wir haben, lassen sich gar nicht 100 Prozent umsetzen. Und in den letzten Jahren ist es immer so gewesen, dass immer ein Teil der Gelder nicht ausgegeben werden konnte, wegen dieser Personalprobleme in den Bezirken."
Strichwort Diebstahl:
In vorbildlichen Fahrradstädten wie Münster gibt es an Bahnhöfen Radparkhäuser, wo Räder sicher aufbewahrt werden. In Berlin dagegen herrscht an S- und U-Bahnstationen meist Chaos. Und Kriminalität – jeden Tag werden 72 Räder geklaut.
Tilman Bracher
Institut für Urbanistik
"Das wäre also so 'ne strategische Geschichte. 50 Fahrradstationen an die Berliner Bahnhöfe, dann würde das Thema Bike and Ride auch noch mal richtig brummen."
Vor allem aber fehlen für den Aufbruch die großen Ideen, wie sie andere Städte haben. Für London etwa hat Norman Foster die Vision eines Netzes aus Fahrradhighways entworfen. Oder das 200.000 Einwohner-Städtchen Eindhoven:
Diese Überquerung einer viel befahrenen Straßenkreuzung war den dortigen Politikern 11 Millionen Euro wert – so viel, wie das rund 20 mal größere Berlin in fast drei Jahren für den gesamten Fahrradausbau investiert.
Bei uns lassen sich die großen Entscheider derweil in ihren großen Schlitten durch die Stadt kutschieren und planen große Autostraßen.
Während sich die Fahrradfahrer allzu oft auf schlechten und viel zu schmalen Wegen drängeln. Offenbar ist Radfahren für Berliner Politiker nicht sexy.
Benno Koch
Verkehrsjournalist
"Im Abgeordnetenhaus, wer sich dazu bekennt, und sagt: 'Wir wollen jetzt Fahrrad fördern', der ist ja dann der Fahrradheini, sag ich jetzt mal so, und das ist einfach nicht Mainstream zu sagen im Abgeordnetenhaus oder in den entsprechenden Gremien: 'Wir machen jetzt richtige Radverkehrspolitik'."
Und so lässt man sich den vermuteten Autofahrerinteressen ins Bochshorn jagen.
Christian Gaebler (SPD)
Senatsverwaltung für Staatentwicklung
"Sie können ja mal hier irgendwo klingeln und fragen: 'Gibt’s hier eigentlich zu viel Platz für Autos und zu wenig Platz für Fahrradfahrer? ' Da werden Sie sicherlich sehr unterschiedliche Antworten bekommen."
KLARTEXT
"Aber Sie haben ja die Steuerungsfunktion. Sie sind ja in der politischen Verantwortung. "
Christian Gaebler (SPD)
Senatsverwaltung für Staatentwicklung
"Ja, wir sind in der politischen Verantwortung, und müssen ja sehen, dass wir für die Stadtgesellschaft insgesamt Lösungen finden, mit denen die auch mitgehen können und wo sie sich auch auf Veränderungen auch einstellen können!"
Abmoderation
Da will sich der für Verkehr zuständige Staatssekretär offenbar nicht so weit aus dem Fenster lehnen. Schade eigentlich.
Beitrag von Helge Oelert