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Deutschland zählt zu den reichsten Industrieländern der Welt. Doch Grund, sich entspannt zurückzulehnen, ist das noch lange nicht. Die neueste Studie von UNICEF zeigt Beschämendes über unser soziales Gefüge: Jeder sechste Deutsche ist von Armut bedroht. Ein Trend, den wir gerade auch in Berlin beobachten: Die Zahl der Sozialhilfeempfänger ist so hoch wie seit Jahren nicht mehr. Und immer häufiger geraten Menschen in die Obdachlosigkeit – und zwar, weil sie die steigenden Mieten nicht mehr zahlen können.
Es ist der Alptraum für jede Mutter, in den Corinna W. vor drei Monaten unerwartet gerät: Nach einem Streit setzt ihr Partner sie plötzlich vor die Tür. Von einem Moment zum nächsten steht sie mit ihren Kindern auf der Straße. Sie hat panische Angst.
Corinna W.
wohnungslose Mutter
"Was passiert, wenn keine Unterkunft gefunden wird? Was passiert mit den Kindern? Werden sie mir weggenommen? Werde ich sie vielleicht gar nicht mehr haben?"
Die Chance, auf dem heutigen Wohnungsmarkt ein neues Zuhause zu bekommen ist gleich null. Denn aus einem alten Mietverhältnis schleppt sie noch Schulden mit sich herum.
Corinna W.
wohnungslose Mutter
"Ich schäme mich dafür, dass es so weit gekommen ist, dass Sachen, die man früher falsch gemacht hat, einem noch so lange nachhängen. Dass man durch alte Mietschulden keine neue Wohnung findet."
In dieser Unterkunft für Wohnungslose soll sie mit ihren Kindern ein Zimmer beziehen. Ein runter gekommenes Haus, unter einem Dach mit Menschen, die oft soziale und psychische Probleme haben – Corinna W. weiß nicht, wie ihre Kinder hier klarkommen sollen.
In ihrer Verzweiflung wendet sie sich an eine Beratungsstelle. Doch auch hier sind die Sozialarbeiter überfordert. Denn seit etwa eineinhalb Jahren kommen immer mehr Familien, obwohl das gesamte Hilfesystem eigentlich auf die klassische Obdachlosenklientel ausgelegt ist: alleinstehende Männer mit Suchtproblemen.
Sandra Burow
Sozialarbeiterin von Corinna W.
"Die Verzweiflung ist besonders groß und es ist für uns auch besonders schwierig, da eine adäquate Hilfe anzubieten. Wir sind spezialisiert auf eine Hilfe für Menschen, die erwachsen sind, und sind keine Familienhilfe."
Viele soziale Träger erleben zurzeit dieses Phänomen: immer mehr einkommensschwache Familien landen auf der Straße. Ein Grund: Vermieter haben heute ein Interesse, Altverträge zu kündigen. Bei neuen Abschlüssen können sie erheblich höhere Quadratmeterpreise erzielen. Deshalb steigt die Bereitschaft zu Räumungen: Früher hat man sich lange mit säumigen Mietern auseinander gesetzt. Doch heute, stellen Soziologen fest, ist die Versuchung groß, kurzen Prozess zu machen und nach einer Räumungsklage die Leute per Gerichtsvollzieher vor die Tür zu setzen…
Andrej Holm
Stadtsoziologe der Humboldt-Universität
"Das Interesse ist tatsächlich darauf gerichtet, dass ich die Wohnung neu vermieten will. Die Spanne zwischen Bestandsmiete und den möglichen Neuvermietungsmieten ist so groß, dass es ein Anreiz ist für viele Eigentümer, alles Mögliche zu versuchen, um ihre Altmieter vor allem los zu werden. Und damit trifft es dann auch Leute, die gar nicht in das klassische Obdachlosenprofil passen."
Längst ist das Problem nicht mehr auf die Innenstadt beschränkt: In Hennigsdorf stand Susann Schönborn nach einer fristlosen Kündigung samt Sohn auf der Straße. Weil sie als Hartz IV-Empfängerin nichts fand, zog sie zu ihrer Mutter. Ein Jahr ist das jetzt her. "Versteckte Wohnungslosigkeit" nennt man das: Zu dritt in zweieinhalb Räumen, der Fünfjährige muss mit der Oma im Doppelbett schlafen.
Gabriela Schönborn
"Man kriegt dann mal einen Fuß ins Gesicht oder eine Hand ins Gesicht. Wenn er sich einsam fühlt, kommt er kuscheln, er ist ja wärmer als eine Decke."
Um 300 Wohnungen hat sich Susann Schönborn beworben. Nur eine einzige Zusage hat sie bekommen. Doch die lag um wenige Euro über dem nach Hartz IV zulässigen Satz für die Miete. Das Jobcenter lehnte ab.
Susann Schönborn
wohnungslose Mutter
"Die Wohnung war 12,75 Euro zu teuer, ich hatte halt den Antrag gestellt, dass ich von meinem Geld 12,75 Euro dazuzahle, von meinem Hartz IV. Damit ich die Wohnung bekomme. Ich bin auch mit meiner Anwältin vor das Sozialgericht gegangen, aber selbst da gab es eine Ablehnung. Wegen 12,75 Euro!"
Behörden trifft oft eine Mitschuld an der Wohnungslosigkeit. In Härtefällen dürfen Mieten die vorgeschriebenen Sätze um 10 Prozent überschreiten. Doch dieser Ermessenspielraum wird selten ausgeschöpft. Dabei kostet die kleinliche Anwendung der Bemessungsgrenzen am Ende viel mehr, weil durch Wohnungsverlust immense Kosten entstehen, wie hier in Neukölln.
Bernd Szczepanski (Bü90/Grüne)
Sozialstadtrat Neukölln
"Wenn jemand seine Wohnung verliert und muss vom Sozialamt untergebracht werden in einem Heim – oft sind die Heimplätze heute schon überbelegt und wir sind übergegangen, sie in Hostels oder Ferienwohnungen unterzubringen – da kommen dann bei einer Familie schon mal locker vierstellige Beträge zusammen, so 3.000 Euro kommen da schon zusammen. Und das, weil jemand seine Wohnung verloren hat, weil die Miete vielleicht 100 Euro zu hoch war. Das steht in keinem Verhältnis zueinander."
Hinzu kommt, dass die eigentlich politisch Verantwortlichen nicht mal wissen wollen, wie groß das Problem wirklich ist: Der Senat sträubt sich, eine umfassende Wohnungslosen-Statistik zu erstellen – so wie es zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen üblich ist.
Dennoch gibt sich der Staatssekretär überzeugt, dass Wohnungsverluste durch Behördenversagen nur Einzelfälle sind.
Dirk Gerstle (CDU)
Sozialstaatssekretär Berlin
"Hier treten dann ja auch unsere präventiven Maßnahmen in Kraft eben mit dem Wohnungsbehalt, mit der Begleitung betroffener Personen."
KLARTEXT
"Durch die Sozialämter im Bezirk?"
Dirk Gerstle (CDU)
Sozialstaatssekretär Berlin
"Genau, durch die Sozialämter im Bezirk."
Doch was täglich in den Sozialämtern wie Neukölln passiert, ist eine andere Wirklichkeit. Den vermeintlichen Luxus "Prävention" leistet man sich hier schon lange nicht mehr.
Bernd Szczepanski (Bü90/Grüne)
Sozialstadtrat Neukölln
"Wir kümmern uns hauptsächlich um diejenigen, wo das Kind schon in den Brunnen gefallen ist auf Grund der Kapazitäten. Eine vorbeugende Maßnahme ist schwierig aufgrund der personellen Kapazitäten. Wir sind überlastet mit denjenigen, die schon keine Wohnung mehr haben oder aber kurz vor dem Wohnungsverlust stehen. Das sind schon so viele, dass wir diesen Ansturm kaum bewältigen können."
Corinna W. hatte Glück im Unglück– sie fand für sich und ihre Kinder ein Zimmer in einer anderen Mehrraumunterkunft. Für dieses eine Zimmer mit Gemeinschaftstoilette auf dem Flur zahlt der Staat jeden Monat 1.948,80 Euro.
Abmoderation
Über 1.900 Euro für ein Zimmer, das ist absurd. Bezahlbare Wohnungen zu stellen, an das Problem muss der Berliner Senat jetzt dringend ran. Vielleicht bringt der personelle Neuanfang mit einem Regierenden Bürgermeister Müller ja Schwung in die Sache.
Beitrag von Helge Oelert