Legion - Hacking Anonymous: Nachtzug nach Lwiw (3/6)
Anonymous hackt russische Medien, unter anderem die russischen Nachrichtenagentur TASS. Denn das Hacker-Kollektiv will der russischen Propaganda etwas entgegensetzen. Wir finden den Mann, der mutmaßlich hinter einem der großen Hacks steht und treffen ihn in der Ukraine.
Diese Geschichte entwickelt sich ganz anders, als wir es vermutet hatten: Wir stoßen auf eine Gruppe hochprofessioneller IT-Spezialist*innen, die in diesem Internetkrieg mitmischen.
In dieser Folge »Legion: Hacking Anonymous« geht es um staatlich finanzierte Hacking-Angriffe und die Frage, ob das Hacker-Kollektiv vielleicht nur eine Marke für die Medien ist. Anonymous, ein Hype?
Khesrau Behroz
Hey, bevor es losgeht: Das hier ist die dritte Episode von Legion: Hacking Anonymous. Ich würde Euch empfehlen, zunächst die ersten beiden Folgen zu hören - dann kommt Ihr hier besser mit. Ihr findet sie in der ARD Audiothek, auf Spotify, Apple und wo auch immer Ihr sonst Eure Podcasts hört. Und jetzt geht es los.
Sylkes Reise
Khesrau
Du bist an der Grenze, betrittst die Grenze mit deinem Schweizer Pass, betrittst quasi jetzt dieses Land, was wir in den Nachrichten in den letzten Wochen so intensiv verfolgt haben. Jetzt bist du plötzlich da, was waren so deine ersten Eindrücke vielleicht. Was hast du gehört?
Sylke
Es war der Abendzug Richtung Lwiw und es war klar, dass kein Licht angemacht werden sollte im Zug, dass wir verdunkelt fahren. Also lichtlos. Und du fährst ja auch durch ein lichtloses Land, weil alles dunkel ist.
Khesrau
Stockdunkel.
Sylke
Zumindest ist der Versuch, nicht erkennbar zu sein, für möglich, als mögliches Angriffsziel für russische Artillerie zum Beispiel. Und dann hörst du natürlich einfach dieses Rattern des Zuges, der stoppt und wieder anfährt und es knarzt und knirscht über diese Schienen. Und draußen ist es stockdunkel, drinnen ist es stockdunkel. Und es ist auch nicht so, dass da natürlich geschnattert wird oder gelacht wird. Das ist, dass es eine fröhliche Fahrt ist, sondern auch im Zug ist es ruhig. Natürlich gab es auch Kontrollen zwischendurch. Das ukrainische Militär ist dann durchgelaufen, hat noch mal Pässe kontrolliert, ein Grenzer, eine Grenzerin. Aber irgendwann waren wir dann in Lwiw.
Die Stimme, die wir gerade gehört haben, das ist die Stimme von Sylke Gruhnwald. Sylke begleitet uns und diese Geschichte schon seit Tag eins. Sie lebt in der Schweiz. Eine erfahrene Krisenreporterin. Anfang April 2022, also rund sechs Wochen nach dem russischen Angriff auf die Ukraine, da reist sie für uns mit dem Zug nach Lwiw, ganz im Westen der Ukraine, gleich hinter der polnischen Grenze. Sylke ist verabredet: Mit Roman. Er soll der Mann sein, der hinter einem der großen Anonymous-Hacks steht. Dem Angriff auf die staatliche russische Nachrichtenagentur TASS. Roman ist bereit, mit Sylke zu sprechen.
Ihr Treffpunkt: der Bahnhofsvorplatz von Lwiw.
Sylke
Can you come outside? I'm wearing a black. You got blue pants. I'm wearing a black long jacket. Can you say you're out?
Roman
Okay, I'm out. Okay, I see you. I see. I think I see you. Nice to meet you. I’m Roman
Sylke
Hi.
Für rbb, NDR und Undone: Ich bin Khesrau Behroz. Und das ist: Legion. Hacking Anonymous. Episode 3: Nachtzug nach Lwiw.
Der Morgen – Luftalarm
Der erste Morgen in Lwiw beginnt für Sylke so, wie viele Morgen in der Ukraine zu der Zeit beginnen … mit einem Luftalarm. Sylke eilt durch den Hotelflur, durchs Treppenhaus, raus auf die Straße.
Sylke
Good morning, Sir.
Unidentified
Thank you.
Sie tut, was der Luftalarm befiehlt, sucht einen Luftschutzraum auf. 20 bis 30 Leute sind schon da, sie tragen Daunenjacken und Mützen. Es ist Anfang April, also noch ziemlich kalt.
Sylke
May I sit next to you? Hi. What's your name?
Sylke sucht sich einen Platz neben einer jungen Frau. Sie alle sitzen auf grünen Stühlen, eigentlich für Grundschüler:innen, viel zu klein für Erwachsene.
Sylke
Männer, Frauen, Kinder. Junge Frauen. Ein Mops ist auch dabei. Ja, jetzt warten wir.
Lwiw gilt bis dahin als verhältnismäßig sicher - im zweiten Monat des Krieges. Die Stadt liegt fast an der polnischen Grenze. Aber sicher - was heißt das schon, mitten im Krieg? Einige Wochen zuvor sind russische Raketen im Stadtgebiet eingeschlagen. Nachdem Sylke den Luftschutzbunker wieder verlassen darf, macht sie sich auf den Weg, um Roman zu treffen, der extra aus Kiew anreist.
Am Bahnhof - Die Begegnung
Der Bahnhof in Lwiw. Ziemlich schön: Weißer Sandstein, prächtige Kuppel. Ein großer Vorplatz voller Menschen. Einige sind auf der Flucht - und andere helfen ihnen.Einer von ihnen, mit so einer neongelben Jacke, verteilt Überraschungseier an Kinder. Sylke hält Ausschau nach Roman, ist gar nicht so leicht. Wir haben ein Bild von Roman, von seinem Telegram-Profil: Ein schmales Gesicht, schmale Lippen, hellbraune Haare, große, schwarze Brille. Ziemlich jung sieht er auf dem Foto aus. So um die 20 vielleicht.
Sylke
No, I don't see you.
Aber das Foto hilft jetzt kaum, ihn auf diesem sehr vollen Bahnhofsvorplatz zu finden. Aber dann …
Roman
I can see you. I see. I think I see you.
Steht eben jener Roman plötzlich vor Sylke. Er trägt eine knallblaue Hose. Ist viel älter als auf den Fotos, vielleicht eher Mitte 30.
Roman
Nice to meet you. Finally. Hi.
Sylke
So how are you doing?
Roman
Uh, as usual, a bit tired.
Roman sagt, er sei müde. Und das sieht man ihm auch an. Er ist mit dem Zug quer durch die Ukraine gefahren.
Roman
In Kiew, we had no, a lot of, you know, simple everyday things like sandwiches and beer.
Roman vermisst das normale Leben. Sandwiches. Bier. Ohne diese ganzen Luftalarme, die alles durcheinanderbringen. Ohne Angriffe der russischen Armee.
Roman
So I have a business trip to a normal life to Lwiw.
Für Roman sei diese Reise nach Lwiw also wie eine Dienstreise ins normale Leben.Er hält ein Taxi an, hält Sylke die Tür auf.
Sylke
Should we jump in?
Roman
Jump in.
Der Taxifahrer fährt los, über enge Straßen mit Kopfsteinpflaster, vorbei an aufgetürmten weißen Sandsäcken, die vor Raketen schützen sollen, Wohnungsfenster, die mit Holz verbarrikadiert sind. Ukrainische Flaggen. Unser Ziel ist ein Restaurant mitten in einem Park.
Sylke
That is the one, you know? What is that?
Roman
It's some nice place.
Zwischen hohen Bäumen steht ein Quader aus dunklem Holz, davor eine Veranda aus Glas. Das Restaurant nennt sich: Art of Rest. Sylke und Roman setzen sich auf die Veranda.
Roman
I wanted to do to have some fresh air and some sky and stuff.
Nur ein bisschen frische Luft und den klaren Himmel möchte er sehen, ein bisschen Normalität. Denn am Abend muss Roman zurück nach Kiew.
Roman
It's just unbelievable. I mean, it's like another planet.
Another Planet
Es ist ein ziemlich schickes Restaurant, dunkler Holzboden und Polstersessel. Draußen spielen Kinder. Seit ein paar Tagen darf auch wieder Alkohol verkauft werden – zu Kriegsbeginn war das verboten. Er könne sich eigentlich allein von Bier ernähren, sagt er. Und bestellt eines beim Kellner. Dazu ein Steak und grünen Spargel. Roman erinnert sich an den 23. Februar, also an den Abend vor dem Kriegsausbruch.
Roman
I wasn't scared, it wasn't frightened.
Er hatte keine Angst.
Roman
It was like waiting for a storm.
Eher so ein Gefühl, dass ein Sturm aufzieht. Am nächsten Morgen versteht er: Russland greift die Ukraine an. Und Roman fühlt sich nun wie in einer belagerten Burg.
Roman
I felt like in a surrounded castle and I'm trying to do to fight back.
Und in diesem Belagerungszustand muss er zurückkämpfen. Roman hat einen Doktortitel in Informatik, hat in Berlin und Brüssel gearbeitet. An Forschungseinrichtungen und mit Start-Ups. Jetzt arbeitet er mit anderen Tech-Leuten in Kiew. Am Morgen des Kriegsbeginns ruft er sie zusammen. Sie besprechen die Lage - was können sie jetzt tun? Was müssen sie tun? Um sich zu schützen? Um sich zu wehren?
Sie beraten sich auch mit russischen Programmierer:innen. Die Nachrichten aus Russland, ja, schlecht, die Invasion in vollem Gange. Die Lage im Land spitzt sich zu. Roman richtet sich sowas wie einen IT-Krisenstab ein. Alle Kanäle laufen heiß.
Roman
Signal, WhatsApp, dark web stuff, IRC channels and Discord.
Und dann entscheiden sich Roman und seine Kolleg:innen: Sie wollen Kiew verlassen - und in ein nahegelegenes Dorf fliehen.
Roman
Near Vasyl Kiev. It's like 60 kilometers from Kiev. It's a village village, you know?
Ein richtiges Dorf, Dorf, also umgeben von Feldern, ein paar Seen, Häusern mit Enten und Ziegen. Als Roman, gemeinsam mit seinen Freund:innen und Kolleg:innen, mit seinem Team, als sie endlich im Dorf ankommen trifft eine russische Rakete das nahegelegene Öldepot.
Roman
The whole whole sky was black and it was, you know, the first picture of the war I had seen.
Der ganze Himmel: schwarz, Rauch steigt auf. Feuer. Bis dahin besteht der Krieg für Roman nur aus dem Geräusch von Schüssen und Raketen. Jetzt hat er ein Bild dazu.
Roman
It was just awesome sounds. And that was a picture.
Der schwarze Himmel über diesem idyllischen Dorf, die Raketenstreifen. Sie schaffen eine neue Realität. Machen Roman und seinen Freund:innen klar: es ist wirklich ernst, es ist Krieg.
Roman
It's not about, somebody being right, it's not about somebody having more money.
Hier geht es nicht mehr darum, Recht zu haben, nicht darum, mehr Geld zu verdienen oder gar mehr Instagram Likes zu sammeln. Jetzt geht es einfach nur darum, zu überleben - und anderen dabei zu helfen.
Roman
It's about being alive. And that's it.
Roman und seine Mitstreiter:innen fangen also an, das zu tun, was sie am besten können: programmieren. Und zwar alles Mögliche. Erst einen Bot, der Informationen über russische Truppenbewegungen sammelt, dann eine Webseite, eine App, die Menschen an der Kriegsfront mit Menschen verbindet, die sie mit Essen oder Medikamenten versorgen. Die Familien bei der Flucht vor dem Krieg helfen. Sie greifen russische Webseiten an. Mit DDoS-Attacken.
Roman
The simplest thing to do to break think is to just DDoS it.
Roman berichtet von einem Angriff nach dem anderen, einer Anwendung nach der anderen. Aber eigentlich ist Sylke hier, um von einer ganz anderen Attacke zu hören. Nämlich auf TASS, die russische staatliche Nachrichtenagentur.
Sylke
We have now to focus on that defacement of TASS.
Roman
OK, let's go there.
TASS ist eine Nachrichtenagentur, auf der Website sind also Nachrichten zu lesen, auch andere russische Medien nutzen diese Nachrichten für ihre eigene Berichterstattung. TASS ist staatlich. Also, die russische Regierung finanziert die Arbeit. Und nimmt auch Einfluss auf sie, verbreitet darüber Propaganda und Falschinformationen über den Krieg. Also entscheiden sich Roman und sein Team, sich Zugang zum Redaktionssystem zu verschaffen. Um Informationen über den Krieg nach Russland zu bringen. Über die Opfer zum Beispiel, auf beiden Seiten.
Roman
Change something in Russians perception.
Sie wollen Einfluss nehmen auf die Wahrnehmung in Russland.
Roman
We will just break things.
We were sitting in dark room. It was early night.
Und so: Roman sitzt spät am Abend im Haus, wenig Licht. Draußen im Dorf brennt noch immer das Öldepot, das von russischen Raketen getroffen wurde. Da schickt ihm ein Kollege ein Bild. Es ist eine Grafik.
Roman
First thing I thought, it's so out of style.
Ein bisschen altmodisch sieht das aus und schlecht aufgelöst.
Roman
I mean, too big, in low resolution.
Diese Grafik, wollen sie auf die Startseite der staatlichen russischen Nachrichtenagentur setzen.
Roman
But I thought: wow, everybody sees, that's cool. Go fuck them.
Russische Kolleg:innen, so erzählt es Roman, helfen ihnen dabei. Sie organisieren den Admin-Zugang.
Roman
And so they managed to get an admin access to to do what they post. So basically, we could change it,
Und dann: Veröffentlichen sie diese Grafik auf der Startseite der TASS. Wir sehen, eine russische Fahne, darauf ein Grabstein mit einer Botschaft, gerichtet an die russische Bevölkerung: 5.300 russische Soldaten sind in der Ukraine in 4 Tagen gestorben. Und da drüber steht auf Englisch:
Roman
Dear citizens, we urge you to stop this madness.
Stoppt diesen verrückten Krieg. Er ist nicht unserer. Und da drunter: ein Anonymouslogo. Die Seite der staatlichen russischen Nachrichtenagentur zeigt jetzt also keine Nachrichten mehr. Sondern die Botschaft von Roman und seinen Mitstreiter:innen. Sie stellen die TASS öffentlich bloß. Wenige Tage nach Beginn des Krieges. Roman erzählt Sylke das alles sehr detailliert, mit einer Mischung aus Freude und Wut. Diese Botschaft, diese Grafik auf der Startseite der Nachrichtenagentur ein kleiner Moment des Triumphs.Und dann sagt Sylke, OK, und dann habt Ihr natürlich noch Euer Anonymous-Logo einfach drunter gesetzt.
Sylke
And then you added Anonymous.
Roman
They added themselves. It's not me.
Das Anonymouslogo, der Anzugmann ohne Kopf, mit Fragezeichen. Vor der Weltkugel. Der Schriftzug Anonymous.Das sei er gar nicht gewesen. Das Logo das hätte Anonymous einfach selbst hinzugefügt. Und er sei gar kein Anon.
Khesrau
Und von unserer Ausgangsfrage. Wer hat diesen Anonymous Hack, der ja auch weltweit berichtet wurde, also ziemlich prominent, wer hat diesen Hack gemacht? Das ist ja jetzt schwer zu verstehen. Er trifft dich, er steht hinter diesem Anonymous Hack auf Tass, mit seinem Team, und dann sagt er am Ende, ja ich war das gar nicht, mit dem Anonymous Logo.
Sylke
So wie er es berichtet. Oh, es ist wahnsinnig schwierig, das zu verifizieren. Das ist sein Bericht, sein Bericht lautet, den er mir mitgegeben hat, Anonymous, eine Person, eine Personengruppe, wir wissen es nicht, hat einen Kollegen kontaktiert und dieser Kollege hat das Logo genommen und auf diese Texttafel draufgepackt. Das war's.
Das war’s nicht wirklich. Aber das wissen wir da noch nicht. Denn gut einen Monat später werden wir Roman wieder begegnen. Weil Romans Kontakt zu Anonymous uns rätselhaft bleibt und wir verstehen wollen, wie der überhaupt zustande kam. Wie konnte Anonymous, wie Roman sagt, ihr Logo am Ende einfach so daruntersetzen? Und wie kam sie, also wie kam die Person von Anonymous auf diese Gruppe ukrainischer Hacker:innen?
Vika
Und dann habt ihr angerufen.
Das ist Vika. Ihr habt sie hier im Podcast schon gehört. Sie studiert in Berlin, ist in Kiew geboren. Ihre Familie lebt noch dort. Und als der Krieg beginnt, rufen wir sie an.
Vika
Und ich glaube, meine erste Gedanke war cool, ich kann Kohle verdienen, das brauche ich jetzt.
Seither ist Vika Teil unseres Teams.
Vika
Ich wollte immer Geheimagentin werden. als Kind. Ich habe sogar auch diese Spionagezeugs von meinen Eltern zum Geburtstag bekommen. Aber dann habe ich in Filmen immer gesehen, dass ich so viel laufen, so sportlich sind und ich dachte: nee, nicht mit meiner sportlichen Vorbereitung, das passt mir nicht.
Geheimagentin ist Vika also nicht geworden. Aber: Sie studiert Journalismus - und hat tatsächlich so etwas wie eine Superpower für uns: Russisch und Ukrainisch sind ihre Muttersprachen. Also hilft sie uns, mit Hacker:innen ins Gespräch zu kommen, Quellen zu übersetzen.Und Anfang Mai, Kiew ist von der russischen Belagerung befreit, da will Vika in ihre Heimatstadt reisen und ihre Familie besuchen - zum ersten Mal seit Monaten. Und wir sind uns schnell einig: Das ist unsere Chance, nochmal Roman zu treffen - und ein paar offene Fragen zu klären.
Vika
Ich sitze jetzt schon gerade im Zug von Przemysl nach Kiew. Irgendwie fühlt es sich unglaublich toll, nach Hause jetzt zu fahren, obwohl ich weiß, dass die Reise jetzt gefährlich ist.
Vika reist mit dem Zug nach Kiew: Besucht ihre Oma, ihren Bruder. Es ist eine Reise in ihr altes Leben, zu ihrer Familie.
Vika
14. Mai, 11:00 nach Kiewer Uhrzeit, gestern war ich den ganzen Tag spazieren mit meiner Familie in meinem Bezirk. Aber heute Morgen bin ich von dem Luftalarm aufgewacht. Und das ist immer noch dieses kontrastes Gefühl, dass das Leben weiterläuft. Und dieser Kontrast lässt mich irgendwie nicht in Ruhe.
Am zweiten Tag in Kiew: Roman ruft Vika an. Sie verabreden sich in einem usbekischen Restaurant. Es ist ziemlich hip, laute Musik. Vor der Tür stehen Menschen an: Das Restaurant verteilt jetzt, im Krieg, Essen an Bedürftige. Vika sitzt drin und wartet. Roman verspätet sich fast eine halbe Stunde. Er hatte noch etwas zu tun: Er hat einigen “Jungs”, so sagt er das, er hat einigen Jungs geholfen, nicht zur Armee zu müssen. Sie sollen keine Gräben ausheben, sondern mit Daten kämpfen.
Es seien begabte Programmierer, IT-Spezialisten. “Wir können sie gut gebrauchen", sagt er. Und Vika fragt: Wer ist denn eigentlich wir?Und dann erzählt Roman lange die - so hört sich das damals zumindest an - ganze Geschichte.
Inzwischen leitet Roman eine Art Cyber-Eliteeinheit - ein Team aus Programmier- und Grafiker:innen, aus IT- und Marketing-Spezialist:innen. Über 1000 kämpfende Cyber-Freiwillige seien das. Ihr Name: IT Stand for Ukraine. Roman, den wir eigentlich nur kennengelernt haben, weil wir in ihm die Person vermutet haben, die hinter den Anonymous-Angriffen auf TASS steckt.
Dieser Roman ist nun Chef einer ganzen digitalen Freiwilligen-Armee. Roman bezeichnet sich selbst als “Vater” dieser Organisation. Und dann zeigt Roman Vika einen Vertrag. Den er soeben erst unterzeichnet hat. Einen Vertrag zwischen seiner Organisation – und dem ukrainischen Verteidigungsministerium.
Der listet Dinge auf, die Roman dem Verteidigungsministerium liefern soll: Tools gegen russische Propaganda, aber auch ein Programm, das Attacken auf russische Seiten vereinfachen soll. Roman leitet also sowas wie eine Eliteeinheit von über 1000 Leuten, Grafiker:innen, Programmierer:innen, IT-Fachleute, die die Ukraine im Cyberraum unterstützen. Vieles davon sei rein defensiv, sagt Roman. Und: Diese Gruppe ist direkt verbunden mit dem ukrainischen Verteidigungsministerium - laut Vertrag. Roman hatte uns aber versprochen, etwas Klarheit in die Frage zu bringen:
Was ist seine Verbindung zu Anonymous? Bzw. wie kam “Anonymous” auf seine Gruppe, auf deren TASS-Hack?
Vika
Also wir haben jetzt eben aufgehört zu reden, uns verabschiedet.
Diese Sprachnachricht schickt Vika uns - nach dem Treffen mit Roman.
Vika
Er überlegt noch bis heute Abend, ob er den Kontakt mir geben will. Er will abschätzen, inwiefern es vielleicht gefährlich sein kann. Und er wird auch ein Treffen für mich mit dem wichtigsten Hacker, deren Organisation bis Freitag noch arrangieren.
Aber erstmal meldet sich Roman einige Tage gar nicht mehr. Und Vika läuft durch Kiew. An Orte ihrer Kindheit.
Vika
15. Mai, 11:00 Uhr morgens. Ich war gestern mit meinem Bruder im Zentrum spazieren und das Zentrum in Kiew ist einfach sehr schön.
Kurz vor 6 Uhr abends. Ich befinde mich jetzt gerade direkt vor dem Spielplatz, wo ich es als Kind gemocht habe zu spielen.
Wir haben das mit eigenen Augen gesehen, wie es aussieht, wenn eine Rakete in dein Haus reinfliegt und es ein Feuer entsteht. Weil es befindet sich in der Nähe von meinem Haus. Deswegen. Es ist beängstigend.
Der Krieg: Überall spürbar. Und auch: Angriffe auf digitale Infrastruktur - z.B. beim Ticketkauf für Züge und Nahverkehr.
Vika
Es hat sich festgestellt, dass online lassen sie sich sehr schwer kaufen, weil ständig Cyberangriffe auf die Webseite durchgeführt werden. Deswegen musste ich wie im Mittelalter die Tickets einfach in einem Reisezentrum am Hauptbahnhof kaufen.
Und dann ruft doch Roman wieder an. Er entschuldigt sich für die lange Funkstille, viel zu tun. Dann verspricht er Belege: Und schickt nach dem Gespräch tatsächlich eine Kopie des Vertrags mit dem Verteidigungsministerium: Er ist 12 Seiten lang, datiert auf den 27. April 2022, Unterschrift und Stempel. Die NGO IT Stand for Ukraine arbeitet damit offiziell mit der ukrainischen Regierung zusammen.
Roman nennt Kontaktpersonen, die uns seine Geschichte verifizieren. Und dann vermittelt er einen Hacker, der für die Attacke auf TASS besonders wichtig gewesen sei. Sein Name: EvilSpirit. Der könnte weitere Details nennen.
Treffen mit Evil Spirit
Vika trifft Evil Spirit, das ist ganz offensichtlich sein “Hackername” in einer Bar. Sie sprechen Russisch, es ist für beide eine ihrer Muttersprachen. Für das Interview wechseln sie auf Englisch. EvilSpirit ist ziemlich groß, lange Haare, so Mitte zwanzig. Das ganze Gespräch über trägt er die Kopfhörer um den Hals. Er ist Programmierer, seit Jahren in der Hackercommunity in Kiew unterwegs. Die Geschichte, die er erzählt, ähnelt der von Roman: Am Tag des Kriegsausbruchs fragt er sich: Was kann ich tun?
EvilSpirit
I’m much more effective with a keyboard.
Kurz nach Beginn des Krieges stößt er auf einen Aufruf von IT Stand with Ukraine. Romans Organisation. Er schließt sich ihr an. Übernimmt einige Aufgaben. Er bestätigt, was Roman gesagt hatte: Er war bei dem TASS-Angriff dabei. Neben anderen Gruppen, die auch mitgewirkt haben.
Und Anonymous? Über deren Beteiligung hat Roman uns bis heute keine Belege zukommen lassen. EvilSpirit sagt: Dass Anonymous am Ende den Hack für sich beansprucht habe: Das sei letztlich nur eine Medienstrategie.
EvilSpirit
Anonymous are cool fairy tale for media. But from my point of view it is just a hype.
Ein Hype. Der sich eben gut verkaufen lasse. Anonymous, das sei eben ein Name, den alle verstehen. Selbst ukrainische Politiker:innen würden Anonymous danken für ihre Hilfe. Aber er, EvilSpirit und seine Hackerfreund:innen, die würden die wahren, wichtigen Angriffe machen. Anonymous hingegen:
EvilSpirit
And in anonymous community is just 100.000 of people and maybe 2-3 real hackers.
Bei Anonymous gäbe es unter Hunderttausend vielleicht zwei bis drei echte Hacker, sagt er. EvilSpirit wirkt ziemlich verärgert und verbittert. Wegen des Krieges, ja, aber auch, weil ihn diese Fragen zu Anonymous nerven. Die ganze Aufmerksamkeit. Er spricht eine Stunde lang mit Vika - und geht dann wieder.
Vika
Ich kann nur sehr schwer vorstellen, dass tatsächlich bei TASS Anonymous mitgemacht haben, weil sonst wäre er nicht so skeptisch.
Vika verlässt dieses Gespräch etwas desillusioniert. Anonymous, dieses weltbekannte Hacker:innen-Kollektiv. EvilSpirit nach sind sie bei diesem Hack vor allem ein Name, ein Logo. Ein Marketingtool. Marketing für uns, also für die Leute im Westen, in Deutschland und dem Rest Europas. Damit sie verstünden, was hier in der Ukraine passiert.
Vika
Und in kurzem Moment hab ich gedacht, scheiße ich bin so dumm, dass ich daran geglaubt habe. Und jetzt habe ich komplett ein anderes Bild von Anonymous.
Wir sind - zweimal - in die Ukraine gefahren, um einen Hacker zu treffen. Einen Hacker, den wir hinter einer großen Anonymous-Aktion vermutet haben. Es stellt sich heraus: So einfach ist es nicht gewesen. Bis heute liefert Roman zwar viele Erklärungen, wie er mit seiner Gruppe im digitalen Krieg dabei ist - aber eben nicht dazu, wie seine Verbindung zu Anonymous aussieht.
Aber: Alle Schilderungen decken sich in einem: Maßgeblich vorangetrieben und durchgeführt wird der Hack auf TASS, die staatliche russische Nachrichtenagentur - von verschiedenen ukrainischen Hacker:innen-Gruppen. Die seit Kriegsbeginn auch sonst ziemlich aktiv sind - im Kampf gegen Russland. Ob diese ukrainischen Gruppen wirklich Kontakt zu Anonymous hatten oder nicht: Unklar.
Am Ende steht das Anonymous Logo prominent auf der TASS-Website. Und es sieht für die ganze Welt, auch für uns, so aus, als sei das eine große Anonymousaktion gewesen.Anonymous also einfach nur als Abstauber? Irgendwie enttäuschend.
Oder: Vielleicht ist es am Ende ja auch egal, wer was unter welchem Label macht. Für die verschiedenen Hacking-Gruppen geht es ja im Grunde um das Gleiche: Dass es Russland schadet. Aber die Frage ist: Tut es das überhaupt?
Maschmeyer
Ich sehe bis jetzt die Vorteile nicht für die Ukraine. Und die potenziellen Nachteile, denk ich, überwiegen.
Lennart Maschmeyer, Sicherheitsforscher an der ETH Zürich.
Und die Eskalation gerade jetzt im Krieg, Anonymous Rolle darin, die sieht er als Gefahr - vor allem wenn der Gegner Russland heißt.
Maschmeyer
Weil Russland bisher sehr viel aggressiver vorgegangen ist mit solchen Cyberoperationen, denke ich mal, ist es ein gefundenes Fressen für die russische Seite und wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit, bis es irgendwelche russischen Operationen gibt gegen die Ukraine oder gegen den Westen, wo es dann wo irgendeine Hacker Aktivistengruppe dafür die Verantwortung beansprucht.
Was, wenn Hacker:innen-Gruppen von Geheimdiensten unterwandert werden oder gar Anonymous, das Label, missbraucht wird? Von Staaten oder Geheimdiensten?
Maschmeyer
Kann natürlich auch sein, dass da westliche Geheimdienste mit dabei waren. Unter dem Mantel von Anonymous.
Patrick
Das höre ich innerhalb von zwei Tagen zum zweiten Mal. Für wie wahrscheinlich hältst du das?
Maschmeyer
Es macht ja Sinn, das ist ja. Es geht immer um plausible deniability bei solchen Operationen, also dass man irgendwie abstreiten kann, dass man in irgendwas verwickelt ist. Und das bietet natürlich jetzt, wo es Haktivisten gibt, einen perfekten Deckmantel für solche Operationen durchzuführen, also unter dem Deckmantel von Anonymous dann gezielt Spionage durchzuführen.
Nächste Woche bei: Legion. Hacking Anonymous