Interview | Diabetes - Kann man Diabetes wegessen?
Diabetes galt lange als unheilbar. Der Chefarzt für Diabetologie, Prof. Dr. Stephan Martin, möchte mit diesem Irrglauben aufräumen. Sein Ernährungsprogramm zeigt: auch, wer schon lange an Typ-2-Diabetes erkrankt ist, kann sie wieder loswerden – mit Protein-Shakes.
Herr Prof. Dr. Martin, was ist das Diabetes-Programm und für wen ist es geeignet?
Das Ernährungsprogramm, das wir entwickelt haben, ist speziell für Personen, die übergewichtig sind und Diabetes haben. Also für Typ-2-Diabetes-Patienten. Die Ursache für diese Krankheit ist der Lebensstil: Die Menschen bewegen sich zu wenig, sind zu übergewichtig. Wir wollen den Patienten zeigen, wie sehr Ernährung ihnen helfen kann.
Aus welchen Bausteinen besteht das Programm?
Das Programm besteht aus verschiedenen Säulen, am wichtigsten ist die radikale Ernährungsumstellung. Wir starten mit einer Formula-Diet, das heißt Mahlzeiten werden durch Protein-Shakes ersetzt. Damit können wir den Patienten zeigen, welches Potenzial in der Ernährung steckt.
Gleichzeitig sollen die Patienten ihren Blutzuckerspiegel messen, denn dieser Wert verändert sich ständig. Wenn ich eine Tafel Milchschokolade esse, schnellt auch bei mir als gesundem Menschen der Blutzuckerwert in die Höhe.
Außerdem sollen die Patienten einen Schrittzähler tragen, das motiviert, sich mehr zu bewegen. Das sind die wesentlichen Bausteine.
Welchen Vorteil bringt eine Diät mit Protein-Shakes?
Der Vorteil einer Shake-Diät ist, dass Patienten so eine proteinreiche, kohlenhydratarme Kost erlernen können. In der ersten Woche werden alle drei Mahlzeiten durch Shakes ersetzt. Das Pulver wird mit Wasser angerührt; wir empfehlen zwei bis drei Esslöffel Öl hinzuzufügen, beispielsweise Sonnenblumenöl, Nussöl oder Distelöl.
Dadurch, dass die Formula-Diät die Blutzuckerwerte nach unten bringt, starte ich auf einem niedrigen Blutzucker-Niveau und kann durch Messen nach Mahlzeiten genau nachvollziehen, wie der Körper auf das Essen reagiert. Wenn ich nur sage, eure Diabetes rührt daher, dass ihr euch falsch ernährt, dann glauben mir die Patienten das oft nicht. Wenn sie es aber selbst sehen, sind sie enorm baff und motiviert.
Wie geht es nach der ersten Shake-Phase weiter?
Der nächste Schritt ist, dass die Patienten das Prinzip der Ernährung, die quasi in diesem Shake drin steckt, auch in ihrer normalen Ernährung umsetzen: gut sind wenig Kohlenhydrate und mediterrane Kost.
In der Woche zwei, drei und vier, empfehlen wir den Patienten, zwei Mahlzeiten durch Shakes zu ersetzten und eine normale Mahlzeit zu essen – wahlweise Frühstück, Mittag- oder Abendessen. Bei diesem normalen Essen sollen die Patienten dann kohlenhydratarm essen, also beispielsweise einen griechischen Salat mit viel Olivenöl und Feta – aber ohne Brot. Oder beim Frühstück Rührei, vielleicht auch mit etwas Speck. Oder ein Joghurt mit Beeren und etwas Müsli – aber nur wenig und ohne Zuckerzusatz.
Wie lange geht das Ernährungsprogramm insgesamt?
Das Ernährungsprogramm ist für zwölf Wochen ausgelegt. Wenn der Patient dann den ersten Monat hinter sich hat, empfehlen wir nochmal für zwei bis drei Monate die abendliche Mahlzeit durch einen Shake zu ersetzen. So wird nach und nach die tägliche Kost wieder aufgebaut, aber eben eine neue Kost mit mehr Protein und weniger Kohlenhydraten – gerne auch viel pflanzliche Fette, die sättigen.
Niemand soll sich lebenslang von der Formula-Diät ernähren, sondern sie gelegentlich benutzen. Ich hatte eine Patientin, die nach einer 10-tägigen Kreuzfahrt mit viel Völlerei wieder katastrophale Werte hatte. Nach drei Tagen Formula-Diät war die Patientin dann aber wieder eingetaktet. Mit den Shakes haben die Patienten ein Steuerungsinstrument in der Tasche, das sie selbst einsetzen können, bevor die Insulintherapie erhöht werden muss.
Empfehlen Sie, sich dauerhaft low-carb zu ernähren?
Ja, absolut. Wenn Sie an den 27. Mai zurückdenken: Wer hat den DFB-Pokal gewonnen? Borussia Dortmund! Der Trainer der Mannschaft, Thomas Tuchel, hat damals bei seinem Amtseintritt dafür gesorgt, dass die Ernährung der Mannschaft auf low-carb umgestellt wird. Dass sie jetzt gewonnen haben ist schon ein Zeichen (lacht). Fakt ist: Der Körper wird auch low-carb mit allem versorgt, was wichtig ist. Man sollte nur darauf achten, dass man genug Gemüse isst – weniger Obst, denn das enthält viel Zucker.
Sollten sich die Patienten nicht nur kohlenhydratarm, sondern auch möglichst fettfrei ernähren?
Viele Leute denken: Fett macht fett und Fett macht Herzinfarkt. Das stimmt nicht. Die Gesellschaft ist erst mit industriellen Low-Fat-Produkten fett geworden. Denn gerade die sind voller Emulgatoren und Zucker.
Pflanzliche Öle sind dagegen sehr gesund, das hat jetzt auch eine großangelegte spanische Ernährungsstudie gezeigt: Bei der Gruppe, die sich fettarm, aber kohlenhydratreich ernährt hatte, kam es zu so vielen Schlaganfällen und Herzinfarkten, dass die Studie nach 4,5 Jahren abgebrochen werden musste. Die Gruppen, die weniger Kohlenhydrate und dafür täglich fettreiche Nüsse beziehungsweise Olivenöl zu sich genommen hatten, profitierten gesundheitlich. In der Olivenöl-Gruppe kam es sogar zu weniger Diabetes-Neuerkrankungen.
Was kann mit dem Diabetes-Programm erreicht werden?
Das Programm richtet sich an Personen, die übergewichtig sind und eine Erkrankung haben – vor allem also an Diabetes-2-Typen mit einem deutlich erhöhten Body Mass Index (BMI). Eine Diabetes-Vorstufe kann mit dem Programm wieder behoben werden. Wenn jemand seit weniger als vier Jahren Diabetes hat, liegt die Wahrscheinlichkeit, sie wieder loszuwerden bei 90 Prozent. Voraussetzung ist, dass derjenige konsequent dranbleibt.
Wie sehr hilft eine Ernährungsumstellung Patienten, die schon lange an Diabetes leiden?
Auch bei Patienten, die bereits elf Jahre Diabetes haben, kann das Programm einen vergleichbaren Erfolg erzielen wie moderne Medikamente – manchmal können die Medikamente auch komplett abgesetzt werden. Wir wollen deshalb den Menschen die Botschaft mitgeben: Du kannst deine Erkrankung zurückdrängen oder sogar besiegen!
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Prof. Dr. Martin.
Das Interview führte Ariane Böhm.