Interview - Gedächtnistraining: Kampf um die Erinnerung
Rund 1,5 Millionen Menschen in Deutschland sind an Demenz erkrankt. Jedes Jahr werden rund 40.000 Menschen neu mit der Diagnose konfrontiert und die Angst davor ist groß: Erinnerungen formen wer wir sind; das Gedächtnis macht uns selbstständig - wie kann man diese Fähigkeiten erhalten? Und vernachlässigen wir das Gedächtnis, wenn wir auf Google, Wikipedia & Co. zurückgreifen?
Am Berliner Krankenhaus Bethel will man Interessierte genau darüber informieren - und den Geist trainieren. Wie das geht und was Erinnerungstraining bewirkt, darüber haben wir mit dem Gedächtnistrainer Michael Schmid gesprochen.
Das Gedächtnis entsteht ja aus einem komplizierten kognitiven Zusammenspiel - wie trainiert man da was genau?
Das kommt ganz auf die Zielsetzung an es gibt bestimmte Übungen, die einzelne Regionen eher ansprechen und andere, die eher "global" das Gedächtnis trainieren. Es kommt also auf die Schwerpunkte der Trainerstunde an. Aber es ist nie so, dass man nur eine Hirnregion trainiert, weil alles nur miteinander funktioniert. Genau das ist der Unterschied zwischen "normalem Gedächtnistraining" oder Hirnjogging und ganzheitlichem Gedächtnistraining, was ich z.B. mache. Beim ganzheitlichen Training wird der ganze Mensch angesprochen, nicht nur die kognitive Ebene, sondern zum Beispiel auch der Körper, Gefühle, Seele.
Wie bedeutend ist denn Bewegung aus Ihrer Sicht für das Gedächtnistraining?
Das spielt eine große Rolle! Und das ist auch wichtig darauf hinzuweisen, denn viele Leute kennen Hirnjogging oder Gedächtnisapps, Computerprogramme - die versprechen die tollsten Dinge und das ist irreführend, denn ein echtes Gedächtnistraining kann man nicht erreichen durch ein paar Klicks und spaßige Spiele. Das ist zu einseitig und das Gehirn kontrolliert alles - auch Bewegung z.B. und das kann man nicht außen vor lassen, sonst steigert man seine Gedächtnisleistung langfristig nachweislich nicht. Außerdem können z.B. auch viele Demenzpatienten in fortgeschrittenem Stadium noch ganz viel in Sachen Bewegungsgedächtnis machen - weil die Plaques ein wichtiges Bewegungszentrum, das Kleinhirn, weniger befallen. So können auch schwer Demenzkranke zum Beispiel noch Tanzschritte lernen - mit viel Freude und auch das ist Hirntraining.
Vokabeln lernen, Kreuzworträtsel lösen oder Sudoku - die Menschen versuchen ja viel, um sich vor Demenz zu schützen. Aber ist das, was der einzelne subjektiv als geistige Herausforderung empfindet auch wirklich Training für's Hirn?
Natürlich bringt das schon etwas - man kann nicht sagen: Sudoku ist quatsch. Aber: Das Gehirn ist eben sehr faul und wenn es herausgefunden hat, wie bestimmte Prozesse ablaufen, dann muss es nicht mehr so aktiv sein - es kennt die Aufgabe, auch wenn die im Einzelnen bei jedem Spiel ein bisschen anders ist. Sobald sich eine Routine einstellt, sucht das Hirn nach Abkürzungen - und dann passiert eigentlich nicht mehr viel in Sachen Training. Dieser Punkt ist schnell erreicht - Leute die ständig Kreuzworträtsel lösen beispielsweise kennen dann irgendwann alle Antworten, aber trainieren ihr Gedächtnis damit nicht mehr wirklich. Auch bei Schach - so kompliziert das auch ist - ist das so. Gedächtnistraining kann sich also auch "abnutzen". Man muss deshalb darauf achten sich ständig neue echte Herausforderungen zu suchen - Dinge, die man noch nicht kennt. Darauf setzt auch das ganzheitliche Gedächtnistraining.
Wie ist das denn dann beim Multitasking? Da muss das Hirn doch schnell hintereinander immer wieder umschalten - ist das eher trainierend oder schädlich?
Multitasking ist eigentlich einer der großen Mythen unserer Zeit, denn kein Mensch - weder Frau noch Mann - kann wirklich Multitasking. Wir meinen, dass wir das können, aber das Gehirn kann echte volle Aufmerksamkeit so nicht verteilen. Was man gut gleichzeitig machen kann, sind Dinge, die über Automatismen ablaufen, so eine Art abgespeicherte Muster im Hirn: Fahrradfahren oder Bügeln. Dazu kann dann noch eine Aufgabe kommen, die echte Konzentration erfordert, aber das war es dann meistens, sonst wird das Ergebnis eher schlecht aussehen. Das hat auch Effekte auf das Gedächtnistraining: dafür sollte man sich auf eine Sache voll konzentrieren und dann die nächste machen. Beim Multitasking ist das Hirn immer hin und her gerissen, weiß gar nicht: worauf soll ich mich denn konzentrieren? Und davon ist auch das erinnern betroffen, es bleibt weniger hängen.
Vernachlässigen wir das aktive Gedächtnis auch durch smarte technische Hilfe, wie die Google-Suche, eingespeicherte Kontakte oder das Dauernachschlagen bei Wikipedia?
Da streitet sich die Forschung noch ein bisschen - die technischen Entwicklungen sind oft auch noch zu frisch, um da Langzeitwirkungen zu untersuchen. Aber es wird daran sehr intensiv geforscht und es gibt auch Hirnforscher, die dazu veröffentlicht haben und auf unverkennbare Gefahren hinweisen. Für das Gehirn gilt, ähnlich wie bei einem Muskel: man muss es trainieren und wenn uns immer mehr abgenommen wird an Erinnerungsleistung, dann verlernt man, es selber zu machen. Das fängt mit dem Orientierungssinn schon an, wenn man viel mit Navigationssystemen unterwegs ist. Es gibt Studien, in denen untersucht wurde, dass die Orientierungsleistungen abnehmen. Manche Menschen finden ohne Navi ihr eigenes Haus nicht mehr, obwohl sie Straße und Hausnummer etc. natürlich wissen. Und auch die Orientierungsleistung ist letztendlich eine Gedächtnisleistung. Mit Google genauso: Weil man die Antworten ständig leicht bekommt, verlernt man auch, Informationen tatsächlich konzentriert aufzunehmen, auch in die Tiefe zugehen, Recherche zu betreiben, das verändert sich momentan.
Inwiefern spielt da das Belohnungssystem eine Rolle? Das hat ja auch Einfluss auf das Erinnerungsvermögen.
Eine große, ja. Gerade in Sachen "Glückshormone", Serotonin oder Endorphine zum Beispiel - die werden auch aus Freude darüber ausgeschüttet, dass man was geleistet hat. Das hat natürlich Einfluss auf die Merkfähigkeit, auch Motivation - das kennt man auch von Lernerfolgen in der Schule zum Beispiel. Wenn das Finden einer Antwort aber gar kein Erfolg mehr ist oder man das nicht mehr so wahr nimmt und diese Hormone nicht ausgeschüttet werden, dann merkt man sich Dinge weniger bis gar nicht. Dazu kommt: Wenn man nur auf einen Bildschirm schaut, ist das sehr eindimensional und aus dem Gedächtnistraining wissen wir, dass mehrdimensionales Lernen, mit allen Sinnen, vor allem die Gedächtnisleistung fördert. Vielleicht kann man an dem Punkt aber später mal mit VR-Technik ansetzen (VR=Virtuelle Realität).
Gefühle haben ja auch laut vieler Studien großen Einfluss auf die Gedächtnis-Fitness. Aber wie steht es um den Faktor Gemeinschaft? Kann man allein oder im Duo überhaupt so effizient trainieren, wie in der Gruppe?
Also bestimmte Dinge kann man nur in sozialer Interaktion oder sogar in der Gemeinschaft trainieren - absolut. Die Erfahrung, die Kreativität, die aus der Lösung einer Aufgabe in der Gruppe entsteht - das macht eine Übung besonders, verknüpft sie auch mit Emotionen und spricht dann das Gedächtnis an. Wir arbeiten deshalb sehr viel mit Gruppenaufgaben - den Effekt kann man gar nicht alleine oder als Trainer alleine mit dem Patienten simulieren. Menschen sagen mir auch immer wieder, dass sie sich an Dinge erinnern konnten, weil sie ein anderer aus der Gruppe auf eine ganz bestimmte Weise gesagt hat - das sind dann die tollen Momente, wo ich mir auch denke: das kann kein Computerprogramm. Das ist was Wunderbares.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Lucia Hennerici