Interview | psychiatrisch-psychotherapeutische Hilfe - Ruhestands-Krise ernst nehmen
Endlich nicht mehr arbeiten! Was für ein Glück, denken die meisten. Doch der Ruhestand ist nicht für alle ein Segen. Viele rutschen mit dem Ende der Arbeitswelt in eine Krise: in die Ruhestands-Krise. Eine psychiatrisch-psychotherapeutische Hilfe kann den Übergang in den Ruhestand erleichtern.
Wir sprachen darüber mit Dr. Christian Kieser, dem Leiter und Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik am Potsdamer Klinikum Ernst-von Bergmann.
Warum kann der Übergang in den Ruhestand zu gesundheitlichen Problemen führen?
Der Eintritt in den Ruhestand bedeutet eine radikale Umstellung des Lebens. Dazu gehört, dass sich bisherige Lebensinhalte, Aufgaben und Schwerpunkte auflösen oder verändern. Ein zentraler Punkt ist aber sicherlich, dass mit der Arbeitsstelle auch der soziale Status erst einmal verloren geht. Somit müssen ganz neue Lebensinhalte gefunden werden, durchaus auch eine neue Sinngebung. Deshalb kann man den Übergang vom Berufsleben in den Ruhestand wirklich als tiefgreifende Veränderung betrachten, die mitunter zu einer krisenhaften Zuspitzung führen kann.
Es gibt Menschen, die das gut verkraften, aber auch viele andere, die das nur schlecht bewältigen und dadurch seelisch in Not geraten können. Betroffen sind dabei nicht nur diejenigen, die schon vorher unter Depressionen gelitten haben, sondern oft auch Menschen, die ihr gesamtes Leben bis zum Ruhestand gesund und tatkräftig gestaltet hatten. Gerade die sind dann oft völlig überrascht, wie heftig die Krise über sie hereinbricht.
Die Midlife-Crisis ist jedem ein Begriff, aber kaum einer spricht von der Ruhestands-Krise. Woran liegt das?
Unseren Patienten fällt es oft schwer, sich einzugestehen, dass der Ruhestand bei ihnen eine solche Reaktion, ja eine Krise ausgelöst hat. Wir haben heute eine deutlich höhere Lebenserwartung als in früheren Generationen. Somit markiert heute der Renten-Start nicht gleichzeitig den Beginn des Abschnitts kurz vor Lebensende, sondern das genaue Gegenteil ist der Fall. Mit dem Eintritt in den Ruhestand beginnt etwas Neues. Und diese Herausforderung gilt es zu meistern.
Wir müssen als Gesellschaft lernen, dass der Eintritt in den Ruhestand eine Phase ist, die jeden in besonderem Maße fordert. In dieser Zeit kann psychiatrisch-psychotherapeutische Hilfe durchaus hilfreich sein. Wir wissen alle, dass Veränderungsprozesse immer auch schwierig sind - Pubertät, der Eintritt ins Berufsleben oder auch eine Familiengründung. Heute wissen wir: auch der Übergang ins Rentendasein gehört zu diesen herausfordernden Prozessen.
Was sind denn typische Beschwerden beim Übergang in die Rente?
Patienten erzählen uns oft, dass sie das Gefühl haben, in ein Loch zu fallen. Sie berichten von Traurigkeit, Hoffnungslosigkeit, Angst, Schlafstörungen oder Antriebslosigkeit. Manche fühlen sich innerlich leer, haben keine Energie mehr und schaffen es kaum, ihren Alltag zu bewältigen.
Wie können Sie den Patienten helfen?
Wir entwickeln grundsätzlich individuelle Therapien, abhängig vor allem von Diagnose und Alter des Patienten. Ein paar Beispiele: Manche Patienten kommen regelmäßig ein oder zwei Mal die Woche in unsere Institutsambulanz, wieder andere gehen täglich in unsere Tagesklinik, in der es verschiedene Angebote gibt: Dazu gehören Einzelgespräche, Gruppenangebote, kreativtherapeutische Maßnahmen wie zum Beispiel Gestalt-Therapie, Ergotherapie, Musiktherapie, Tanztherapie oder Kunst-Therapie. Die Patienten kommen tagsüber zu uns und gehen am Abend wieder nach Hause, können also die therapeutische Erfahrung gleich zu Hause anwenden. Das ist uns sehr wichtig. Wir wollen unseren Patienten Anregungen geben, die sie direkt in ihrem Alltag umsetzen können. Das ist ein Kerngedanke unserer Arbeit.
Wie lange dauert die Therapie?
Die Behandlungsdauer in der Tagesklinik liegt in der Regel zwischen vier und sechs Wochen, bei Bedarf kann anschließend eine ambulante Therapie fortgeführt werden. Natürlich entwickelt sich jeder Behandlungsverlauf anders. Trotzdem können wir beobachten, dass unsere Patienten oft schon bald neue Impulse bekommen und, dass sie für sich neue Lebensinhalte definieren. Viele suchen sich ein Ehrenamt oder beginnen andere Aktivitäten, die sie ausfüllen und wieder zufrieden machen.
Wir wissen auch, dass nicht alle Menschen, die Hilfe benötigen würden, eine therapeutische Hilfe auch in Anspruch nehmen. Denn die Krisen beim Eintritt in den Ruhestand sind vergleichbar mit psychischen Erkrankungen gesellschaftlich noch immer schambesetzt. Vor allem für Menschen, die im Beruf sehr erfolgreich waren, ist es oft schwierig, sich einzugestehen, dass sie es alleine nicht schaffen.
Ist die Ruhestands-Krise einfacher zu bewältigen, wenn man schon früher in Rente geht, also in den Vorruhestand?
Aus psychiatrischer Sicht ist ein Vorruhestand in der Regel nicht unbedingt empfehlenswert, da die Arbeit in unserer Leistungsgesellschaft eine ganz zentrale Rolle spielt und der Wegfall von Arbeit daher immer auch einen Risikofaktor darstellt. Natürlich gibt es Lebensläufe von Patienten, die aus nachvollziehbaren Gründen in den Vorruhestand gehen. Begleiten wir diese Patienten dann über einen längeren Zeitraum, sehen wir jedoch, dass auch sie sich mit den gleichen Frage beschäftigen: Was mache ich jetzt mit meiner Zeit? Welche Inhalte will ich meinem Leben geben? Sie erleben also die gleiche Problematik, nur zeitlich etwas nach vorne verschoben.
Brauchen wir einen anderen Umgang mit dem Ruhestand?
Der Übergang in die Rente sollte flexibler gestaltet werden, mit mehr Raum für jeweils individuelle Lösungen. Auch bedarf es einer gesellschaftlichen Debatte, die Zeit nach dem Berufsleben mit einer eigenständige Bedeutung und Wertschätzung aufzuwerten. Schon die Begrifflichkeit Ruhestand ist meines Erachtens heute nicht mehr zeitgemäß.
Vielen Dank für das Gespräch, Dr. Christian Kieser.
Das Interview führte Angelika Wörthmüller