Achtsamkeit ist nicht die Lösung für alles - Achtsamkeit: Was kann dieser Trend, was nicht?
Achtsamkeit für Mamas, Achtsamkeit für Manager, Achtsamkeit für Sportler – die Achtsamkeitspraxis erlebt seit einiger Zeit einen Boom. Ursprünglich spielte die Achtsamkeit in der buddhistischen Lehre und Meditation eine zentrale Rolle. Das Ziel: Im Hier und jetzt verankert sein. Warum viele Menschen heutzutage Achtsamkeit praktizieren und ob diese Technik genutzt werden kann, Probleme zu verdrängen, erklärt die rbb-Praxis.
Achtsamkeit scheint mittlerweile ein Modewort zu sein. Viele kennen es, praktizieren es oder wollen es unbedingt probieren. Der Gedanke dahinter hört sich relativ simpel an: Man lenkt seine Aufmerksamkeit ins Hier und Jetzt, das heißt auf die Gedanken, Gefühle, den Körper und den Atem. Das hat zur Folge, dass Gefühle und Bewertungen deutlicher werden und die Reaktionen darauf bewusster ablaufen. Einfach ist das allerdings nicht. "Wir werden gedanklich immer wieder in die Zukunft und die Vergangenheit reingezogen. Wenn ich Achtsamkeit praktiziere, steige ich da immer wieder bewusst aus diesem Weggezogen werden vom Hier und Jetzt aus", sagt Johannes Michalak von der Universität Witten-Herdecke.
Den Stresspegel reduzieren, mehr seelisches Wohlbefinden spüren und sogar Schmerzen abbauen – mit diesem Ziel hat Ende der 70er Jahre der emeritierte Professor Jon Kabat-Zinn am University of Massachusetts Medical Center die Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion oder Mindfulness-Based Stress Reduction (MBSR) entwickelt. In einem meist 8-wöchigen, wissenschaftlich fundierten Kurs vermitteln ausgebildete Trainer, wie sich die Teilnehmer mit Meditation, Yogaübungen und anderen Techniken ihrem Körper und ihren Gedanken bewusst werden. Dadurch entkommt man dem gedanklichen Hamsterrad und kann wieder entscheidungsfähiger werden. "Vielleicht hilft es in einer anderen Art und Weise, man könnte zur Entscheidungsfindung auch eine Liste machen mit Vor- und Nachteilen. Das wäre eine rationale Entscheidung. Achtsamkeit kann intuitive Prozesse mit einbeziehen. Ich höre nach innen und nehme mein Bauchgefühl wahr. Man muss nicht immer auf dieses Bauchgefühl hören, aber es ist wichtig, es zu kennen", sagt der Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie, Johannes Michalak.
Auch negative Gedanken sind Teil der Achtsamkeitspraxis
Achtsamkeit ist allerdings kein Wellnessprogramm. Denn während der Übungen wird man nicht nur mit Schönem konfrontiert: Wer achtsam ist, der spürt sich selbst, und das kann auch unangenehm sein. Wer also denkt, dass er damit die negativen Gefühle im Job oder die Sorgen aus der Zukunft vergessen kann, hat weit gefehlt. "Es ist ein Missverständnis, dass man glaubt, wenn man achtsam ist, könne man nicht auch in die Zukunft schauen. Ich kann auch bewusst in die Zukunft schauen und dabei im Hier und jetzt verankert sein, in dem ich wahrnehme, was lösen die Gedanken an die Zukunft im Hier und Jetzt bei mir aus, wie fühlt sich das an", sagt der Achtsamkeitsforscher Johannes Michalak.
Achtsamkeit ersetzt keine gute Unternehmenskultur
Klar ist: Die Welt wird immer schneller, das Arbeitspensum immer dichter und die Anforderungen immer höher. Problematisch kann es werden, wenn Achtsamkeit zur Leistungssteigerung eingesetzt wird. Das heißt, wenn der Chef zum Beispiel ein Achtsamkeitstraining sponsert, damit die Mitarbeiter mit dem Druck umgehen können. "Es kann schon eine Gefahr sein, wenn man jetzt denkt, wir machen hier im Unternehmen Achtsamkeit, damit die Mitarbeiter besser mit dem Stress in der Firma zurechtkommen. Im Zusammenhang mit einem umfassenden Gesundheitsmanagement kann Achtsamkeit aber sehr sinnvoll sein. Eine gute Unternehmenskultur kann es allerdings nicht ersetzen."
In eine falsche Richtung kann es auch gehen, wenn man unter einem Leben im Hier und Jetzt versteht, Alltagsprobleme verdrängen zu wollen. "Achtsamkeit könnte dazu missbraucht werden, vor allen Herausforderungen, die das Leben bringt, zu flüchten. Also sich nichts mehr zu stellen und nur noch zurückzuziehen. Es kommt bei der Achtsamkeit auf die richtige Balance zwischen der Ermöglichung von Rückzug und dem sich der Welt Zuwenden an", sagt Johannes Michalak.