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Je älter wir werden, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir Medikamente schlucken müssen. Wer mehrere Wirkstoffe einnimmt, für den besteht die Gefahr, dass diese auf unerwünschte Weise miteinander reagieren. Ab fünf Präparaten kann es gefährlich werden, sagt Professor Martin Wehling. Der Direktor der klinischen Pharmakologie Mannheim der Universität Heidelberg kämpft seit Jahren die Verbesserung der Medikamenten-Versorgung älterer Menschen.
rbb PRAXIS: Herr Prof. Wehling, warum treten bei älteren Menschen Arzneimittelnebenwirkungen häufiger auf?
Prof. Wehling: Auf der einen Seite sind Ältere per se kränker und müssen deshalb auch mehr Medikamente schlucken. Herzschwäche, Bluthochdruck und Diabetes mellitus, aber auch psychiatrische Erkrankungen wie Demenz erfordern eine lebenslange Medikamenteneinnahme. Auf der anderen Seite funktionieren die Organe nicht mehr so gut wie bei den Jüngeren: Die Niere filtert weniger, und die Leber baut die Wirkstoffe langsamer ab. Dadurch häufen sich diese an und sorgen für mehr Komplikationen.
rbb PRAXIS: Wann muss man als Patient Nebenwirkungen durch einen Medikamentencocktail in Kauf nehmen?
Prof. Wehling: In manchen Fällen lassen sich Nebenwirkungen nicht vermeiden, beispielsweise wenn es wie bei vielen Tumorerkrankungen keine gut verträglichen Alternativen gibt. Doch in den meisten Fällen ist ein Austausch der Wirkstoffe möglich. Beispiel Bluthochdruck: Die anfängliche Gabe von Alphablockern sollte man wegen ausgeprägter Blutdruckregulationsstörungen bis hin zu Ohnmachtsanfällen vermeiden, und den Patienten stattdessen zuerst ACE-Hemmer oder bestimmte Kalziumantagonisten geben.
rbb PRAXIS: Zu den Nebenwirkungen einiger Medikamente zählen auch Übelkeit und Schwindel. Sie mögen die Lebensqualität des Einzelnen einschränken, wirklich bedrohlich klingen diese Symptome aber nicht.
Prof. Wehling: Wenn Sie durch den Schwindel stürzen und zum Pflegefall werden, können auch solche Nebenwirkungen ein Riesenproblem sein. In der Tat sind arzneimittelinduzierte Symptome ein häufiger Grund für Krankenhauseinweisungen: Wir gehen davon aus, dass achtzig Prozent der älteren Patienten nicht optimal mit Arzneimitteln eingestellt sind. Außerdem sprechen wir in im Zusammenhang mit Arzneimittelnebenwirkungen und -Interaktionen von 20.000 Arzneimittel-Toten pro Jahr in Deutschland. Vergleichen Sie das mal mit den 5.000 Verkehrstoten.
rbb PRAXIS: Abgesehen von der Vielzahl der Medikamente, gibt es weitere Probleme bei der Medikation älterer Menschen?
Prof. Wehling: Ihnen gelingt es oft nicht, ihre Arznei verlässlich einzunehmen. Einerseits, weil sie es schlichtweg vergessen, andererseits, weil sie nicht genug darüber aufgeklärt sind, wie wichtig ihre Medikation ist. Gerade Ältere brauchen deshalb eine gute, praktikable Anleitung und verständliche Aufklärung über Sinn und Gefahren der Therapie, am besten zusammen mit ihren Angehörigen. Doch das kostet Zeit.
rbb PRAXIS: Ist es nicht die Aufgabe des Hausarztes, Wechselwirkungen von Medikamenten auszuschließen?
Prof. Wehling: Zunächst wissen viele Hausärzte gar nicht, was ihre Patienten alles nehmen. Vielleicht waren sie zwischendurch im Krankenhaus. Der Arztbrief ist verlorengegangen. Oder während der Kur hat man ihnen noch ein Schlaf- und ein Schmerzmittel verschrieben, was der Patient beim nächsten Hausarztbesuch aber vergisst zu erwähnen. Auf der anderen Seite ist die Medikamentenfülle eine große Herausforderung für die Ärzte: Bei zehn, fünfzehn Wirkstoffen rechnet Ihnen der Computer zwar alle möglichen Wechselwirkungen aus, aber welche davon sind für diesen Patienten relevant? Oft bleibt auch in der Fünf-Minuten-Praxis von heute einfach nicht die Zeit, sich damit länger auseinanderzusetzen.
rbb PRAXIS: Ein lebensgefährliches Dilemma für den Patienten. Was müsste aus Ihrer Sicht verändert werden?
Prof. Wehling: Es gibt kaum Daten zur Arzneimitteltherapie älterer Patienten, da sie aus Zulassungsstudien für Arzneimittel häufig ausgeschlossen werden. Doch angesichts der zunehmenden Anzahl älterer Patienten und der anspruchsvollen Therapiebedingungen ist dies ein gravierender Mangel, der energischer angegangen werden muss.
rbb PRAXIS: Welche wirksamen Ansätze gibt es schon heute?
Prof. Wehling: Generell sollten Ärzte und Patienten stutzig werden, wenn sie mehr als fünf Medikamente bekommen. Hier besteht der Verdacht auf eine Übertherapie, und jedes Medikament sollte sehr kritisch geprüft werden. Ärzte können sich mit Listen über die Notwendigkeit und Altersverträglichkeit der Arzneimittel informieren. Medikamente, die ältere Patienten nicht bekommen sollten, stehen auf der so genannten PRISCUS-Liste. Die FORTA (fit for the aged)-Einteilung ist umfassender und berücksichtigt auch Wirkstoffe, die dem älteren Patienten wirklich nützen.
rbb PRAXIS: Wie kann sich der Patient selbst helfen?
Prof. Wehling: Die Patienten sollten jedes (neue) Medikament kritisch hinterfragen. Gleichzeitig gilt es, sich selbst zu beobachten, um Nebenwirkungen besser zu bemerken. Um diese zu kennen, müssen sich die Patienten über die Nebenwirkungen (z.B. "Bauchschmerzen“ bei Schmerzmitteln) jedoch erst informieren. Damit steht das Gespräch mit dem Hausarzt, das Nachfragen, im Zentrum. Wem eine Auskunft nicht reicht, der kann sich auch eine "zweite Meinung“ bei einem anderen Arzt einholen.
Das Gespräch führte Constanze Löffler