Interview l Frühjahrsmüdigkeit - Was macht uns müde, wenn alles erwacht?
Krokusse und Narzissen brechen durch kahle Böden, Vögel zwitschern: Im Frühling erwacht die Natur zum Leben. Aber viele Menschen spüren gerade jetzt bleierne Müdigkeit. Schätzungen gehen davon aus, dass jeder zweite Deutsche zwischen März und Mai unter der "Frühjahrsmüdigkeit" leidet. Ist sie gefährlich? Wie kann man ihr am besten begegnen? Fragen an Dr. med. Alexander Blau vom Schlafmedizinischen Zentrum der Charité.
Herr Dr. Blau, Frühjahrsmüdigkeit – woher kommt der Begriff eigentlich?
Im Frühjahr berichten manche Leute, dass sie sich schlapp, abgeschlagen und kraftlos fühlen. Meist beginnt die große Schläfrigkeit, wenn es ein paar Tage hintereinander warm war. Daher der Name. Wir Schlafmediziner kennen das Phänomen übrigens auch aus dem Herbst, wenn die Tage wieder kürzer werden, und sprechen deshalb lieber von saisonalen Erscheinungen.
Worüber beschweren sich die Leute denn so?
Sie klagen über Kreislaufbeschwerden, Müdigkeit, Abgeschlagenheit, Wetterfühligkeit, Gereiztheit, erhöhte Anfälligkeit für Erkältungen, Schlafstörungen, Schwindel, Kopfschmerzen, Leistungsschwäche – also alles unspezifische Symptome, die keinem Krankheitsbild genau zuzuordnen sind.
Wie kommt es dazu?
Wissenschaftler sehen die jahreszeitenabhängige Schläfrigkeit vor allem in einer Hormonumstellung begründet: Der Organismus produziert durch die zunehmende Helligkeit weniger Melatonin, das normalerweise für Ruhe und Entspannung sorgt. Dieses so genannte Schlafhormon reichert sich vermehrt an, wenn es dunkel ist. In den Wintermonaten ist die Ausschüttung also besonders hoch.
Im Frühjahr fährt der Körper durch die zunehmende Helligkeit die Produktion von Serotonin hoch. Serotonin ist für die Aktivierung des Körpers und für gute Stimmung zuständig. Der Organismus produziert den Botenstoff unter dem Einfluss von Licht. Bei der Frühjahrsmüdigkeit handelt es sich also um eine Umstellungsreaktion und damit um einen zeitweiliges Ungleichgewicht zwischen dem Schlafhormon Melatonin und dem Glückshormon Serotonin.
Gibt es da noch andere Ursachen?
Die Kälte weicht wärmeren Temperaturen und daran muss sich der Körper langsam gewöhnen. Wärme ist immer mit Müdigkeit verbunden. So fühlen wir uns im Sommer bei großer Hitze häufiger schlapp. Auch wenn wir schlafen wollen, kuscheln wir uns schön warm ein. Jeder kennt das: Kalte Füße hindern am Einschlafen.
Wenn mit dem Frühling die Temperaturen steigen, stellen sich die Blutgefäße weit. Das Blut weicht in die Peripherie und der Blutdruck kann leicht sinken. Das macht müde und kann zu Schwindelgefühlen führen.
Spüren alle Menschen die lähmenden Glieder?
Es berichten überdurchschnittlich oft diejenigen, dass sie frühjahrsmüde sind, die sich selbst als wetterfühlig bezeichnen. Schlapp und schläfrig fühlen sich auch jene, die von Natur aus einen niedrigen Blutdruck haben. Das betrifft eher Frauen als Männer. Auch ältere Menschen sind im Frühjahr eher kaputt.
Wie begegne ich einer Frühjahrsmüdigkeit am besten?
Ich empfehle, sich viel an der frischen Luft zu bewegen, damit sich der Körper möglichst rasch umstellen kann. Tanken Sie Licht und Sonne, wann immer sich die Möglichkeit bietet! Ausgedehnte Spaziergänge und Ausdauersportarten wie Joggen, Radfahren oder Walking eignen sich dafür besonders gut. Draußen sein vertreibt nicht nur die Müdigkeit, sondern füllt die Vitamin D-Speicher auf, die nach dem Winter leer sind.
Auch Wechselduschen machen munter: nach dem warmen Duschen einfach kurz das kalte Wasser aufdrehen. Und wer gern schwimmt, kann das mit Wechselbädern und Saunagängen kombinieren. Leichte Kost mit viel Obst und Gemüse unterstützt den Umstellungsprozess. Reichlich Flüssigkeit wie Kräutertees und Mineralwasser verhindern Müdigkeit und Konzentrationsstörungen.
Sollte ich denn auch extra viel schlafen, um der Frühjahrsmüdigkeit entgegenzuwirken?
Wer der körperlichen Umstellung mit einem Mittagschlaf nachgibt, der kann oft nachts schlechter schlafen. Deshalb rate ich davon ab, zwischendurch zu schlafen. Wenn überhaupt, sollten Sie wirklich nur kurz ruhen, also maximal 20 Minuten. Der Körper wird es Ihnen in der Nacht danken.
Was ist noch Frühjahrsmüdigkeit und ab wann wird die Müdigkeit krankhaft oder gefährlich?
Die Frühjahrsmüdigkeit dauert glücklicherweise meist nur kurze Zeit an und das "Gegensteuern" ist oft einfach möglich. Der Körper braucht in der Regel zwei bis vier Wochen, um sich umzugewöhnen und ein neues hormonelles Gleichgewicht zu finden. Gefährlich ist dies in der Regel nicht.
Falls die Beschwerden jedoch anhalten oder die beschriebenen Maßnahmen nicht wirken, sollten Sie einen Arzt aufsuchen, der das weiter abklärt. Andauernde Schlafstörungen können auch mal ein Anzeichen für eine Schilddrüsenunterfunktion oder eine Depression sein.
Woran erkenne ich denn eine echte Schlafstörung?
Wir sprechen von einer abklärungsbedürftigen Schlafstörung, wenn Ein- und Durchschlafstörungen länger als drei Wochen anhalten und die Betroffenen am Tage deutlich weniger leistungsfähig sind. Denn die fehlende nächtliche Erholung hat Folgen wie Nervosität, innere Unruhe, Konzentrationsstörungen und Vergesslichkeit.
Oder noch gefährlicher: Die Leute schlafen am Tag plötzlich unfreiwillig ein, beispielsweise bei Verrichtungen im Haushalt oder im Straßenverkehr. Auf Dauer machen Müdigkeit und Erschöpfung regelrecht krank: Betroffene haben häufiger Infekte sowie mehr Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Depressionen und Ängste.
Wie oft treten Schlafstörungen auf?
Sie zählen zu den häufigsten gesundheitlichen Beschwerden überhaupt. Etwa jeder zweite Deutsche leidet ab und an daran, jeder zehnte erlebt seinen Schlaf dauerhaft als nicht erholsam. Unser Schlaf besteht aus mehreren Phasen, die unterschiedlich tief und lang sind. Nur wenn diese Phasen nachts mindestens drei bis fünfmal ungestört durchlaufen werden, ist Schlaf wirklich erholsam.
Was kann man gegen Schlafstörungen tun?
Es gibt verschiedene Möglichkeiten der Verhaltensänderung, die sich bei Schlafstörungen positiv auswirken und Ihnen zu einem erholsamen Schlaf verhelfen:
· Stehen Sie möglichst regelmäßig zur gleichen Zeit auf und gehen Sie zur gleichen Zeit ins Bett.
· Verzichten Sie auf einen längeren Mittagschlaf.
· Vermeiden Sie Nachtschichten vor dem Computer, Fernseher oder Tablet. Das blaue Licht der Bildschirme suggeriert, dass es Tag ist und hält uns wach.
· Vermeiden Sie aufregende Filme, laute Musik, heftigen Streit oder anstrengenden Sport in den Stunden vor der Schlafenszeit.
· Essen Sie am Abend leicht verdauliche Speisen.
· Trinken Sie ab 16 Uhr möglichst keine stimulierenden Getränke wie Kaffee, Tee, Cola oder Mate. Auch Alkohol sollte zur Nacht nicht übermäßig getrunken werden.
· Lüften Sie das Schlafzimmer täglich vor dem Schlafengehen. Achten Sie auf eine Raumtemperatur von 18 bis 21 Grad Celsius und eine ausreichende Luftfeuchtigkeit. Dunkeln Sie das Zimmer ab.
· Gönnen Sie sich eine geeignete Matratze und Bettwäsche, die gut die Feuchtigkeit reguliert.
Herr Dr. Blau, vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Constanze Löffler