Computeranimation für Schmerzen an verschiedenen Körperteilen (Quelle: imago/Science Photo Library)
Bild: imago/Science Photo Library

Interview | Hilfestellung für Schmerzpatienten - Mit einem Onlineportal gegen chronische Schmerzen

Seit Anfang Juli gibt es das Onlineportal mein-schmerz.de. Das Ziel: chronischen Schmerzpatienten im Umgang mit ihren Schmerzen Hilfestellung zu geben. Schmerztagebücher und Fragebögen gab es schon einige. Was "mein-schmerz.de" mehr leisten will, darüber sprach rbb Praxis mit Dr. Michael A. Überall, dem Präsidenten der Deutschen Schmerzliga, die das Onlineportal ins Leben gerufen hat.

Wann spricht man überhaupt von chronischem Schmerz?

Zahlen des Bundesversicherungsamtes zufolge gab es 2015 in Deutschland 3,8 Millionen Menschen mit einer chronischen Schmerzkrankheit. Von chronischem Schmerz spricht man, wenn Schmerzen über drei bis sechs Monate unverändert anhalten. Man muss unterscheiden zwischen Patienten, die zum Beispiel aufgrund einer Arthrose immer mal wieder Schmerzen haben und denjenigen, bei denen sich der Schmerz "verselbstständigt" hat und zunehmend Raum im Leben der Betroffenen einnimmt. Häufig ist bei diesen Patienten die eigentliche Schmerzursache gar nicht mehr feststellbar und sind die typischen Befunde unauffällig. In solchen Fällen sprechen wir von Menschen mit einer chronischen Schmerzkrankheit. Diese Patienten wandern oft von Arzt zu Arzt, finden keine ausreichende Hilfe und ziehen sich dann mitunter völlig aus dem Alltagsleben zurück.

Wie ist die Idee für das Portal entstanden?

Letztlich durch die chronischen Schmerzpatienten, die sich an die Deutsche Schmerzliga gewendet haben. Sie berichten immer wieder davon, dass Ärzte sehr auf Untersuchungsberichte, bildgebende Verfahren und bestimmte Körperfunktionen fokussiert sind, dabei aber außer Acht lassen, was der chronische Schmerz für den einzelnen Menschen bedeutet. Sogenannte biopsychosoziale Faktoren wie Arbeitsbedingungen, psychische Gesundheit oder soziale Kontakte werden in der Behandlung von chronischen Schmerzpatienten häufig vernachlässigt. Das soll das Onlineportal ändern, weil es neben den körperlichen Beschwerden gezielt auch diese Faktoren mit erfasst und auswertet.

Es gibt ja schon Schmerztagebücher und auch den Deutschen Schmerzfragebogen. Was soll der Mehrwert von mein-schmerz.de sein?

Das stimmt, es gibt schriftliche Fragebögen und auch Apps, die es Patienten ermöglichen, das eigene Schmerzempfinden und den Einfluss bestimmter Faktoren darauf, zu dokumentieren. Was mein-schmerz.de mehr leistet, ist, dass es bestimmte Themen, wie etwa die Einflussfaktoren von Angst, Depression und Stress, aber auch die schmerzbedingten Beeinträchtigungen im alltäglichen Leben bündelt und die Antworten Betroffener bewertet. Das geschieht mit Hilfe aufwendiger mathematischer Verfahren, wobei die Daten dann mit den Normdaten gesunder Menschen verglichen werden, so dass man eine Aussage darüber machen kann, inwieweit diese Faktoren bei dem betroffenen Schmerzpatienten eine Rolle spielen. Mit dieser Auswertung kann er dann zu seinem Arzt gehen und ihm quasi einen "Fingerzeig" geben, wo die Ansatzpunkte einer Behandlung liegen könnten. Gerade diese komplexen Zusammenhänge von biopsychosozialen Faktoren und Schmerz, überfordern viele Ärzte und da kann mein-schmerz.de eine wichtige Hilfe sein.

Wie kann mein-schmerz.de ganz konkret chronischen Schmerzpatienten helfen?

Es gibt ja verschiedene Möglichkeiten, dieses Portal zu nutzen. Man kann sich registrieren und damit seine Daten online archivieren oder nicht. Man kann 24-Stunden Protokolle erstellen oder eine Langzeitbeobachtung machen. Letztlich haben wir mit dem Portal ein von Experten geprüftes Erhebungsinstrument geschaffen, das die Anforderungen der "Qualitätssicherungsvereinbarung für spezielle Schmerztherapie" erfüllt und welches nicht einfach nur dokumentiert, sondern auch auswertet. Damit kann der Patient zu seinem Arzt gehen und bestimmte Probleme gezielt ansprechen. Was ganz wichtig ist bei chronischen Schmerzpatienten ist das, was wir "Empowerment" nennen, also das Übernehmen von Verantwortung für das eigene Leben. Vielen Schmerzpatienten geht das verloren, weil sie keine Hilfe bekommen haben und irgendwann frustriert aufgeben. Hier kann das Portal ein Neuanfang sein, weil es Schmerzpatienten in die Lage versetzt, selbst etwas zu tun und Einsicht in das eigene Schmerzempfinden zu gewinnen.  Damit kann natürlich in keinem Fall das Arzt-Patienten-Gespräch ersetzt werden.

Was kann das Portal in der Zusammenarbeit mit dem behandelnden Arzt bringen?

Wir haben in Deutschland zu wenige Fachärzte für Schmerzmedizin und nicht jeder chronische Schmerzpatient hat ein Schmerzzentrum in seiner Nähe. Die Schmerzfragebögen, die durch die Angaben des Patienten bei mein-schmerz.de entstehen und die der Nutzer ausdrucken und zu seinem behandelnden Arzt mitbringen kann, liefern auch weniger spezialisierten Ärzten wichtige Anhaltspunkte für die Behandlung dieses Patienten. Spielt zum Beispiel der schon erwähnte Komplex von Depressivität, Angst und Stress eine bedeutende Rolle für das Schmerzempfinden eines Patienten, hilft es wenig, die Dosierung der Schmerzmedikamente zu erhöhen. Wichtiger wäre es in diesem Fall, einen Psychotherapeuten hinzuzuziehen oder andere Behandlungsmaßnahmen zu ergreifen. Auf der anderen Seite gibt es bei mein-schmerz.de auch die Möglichkeit, dass Ärzte, die bei dem Dokumentationssystem "iDocLive" registriert sind, Daten derjenigen Patienten, die dem explizit zugestimmt haben, auch elektronisch übernehmen und nutzen können. Das betrifft im Moment vor allem die 106 Schmerzzentren in Deutschland mit rund 400 Ärzten und noch einmal 400 nicht-ärztlichen Therapeuten wie Physiotherapeuten und Psychotherapeuten, die dieses System bereits nutzen.

Wenn Daten auch ausgetauscht werden können, wie gewährleisten Sie den Datenschutz?

Nutzer des Portals können entscheiden, ob sie sich registrieren wollen oder nicht. Wer das Portal ohne Registrierung nutzt, dessen Daten werden auch nicht gespeichert und können somit auch nicht online archiviert werden. Ein solcher Nutzer sollte sich seine Auswertung ausdrucken, damit er überhaupt etwas in der Hand hat, bevor er das Portal verlässt. Wer sich registriert, kann seine Daten sammeln und Verläufe, zum Beispiel zur Wirksamkeit einer bestimmten Therapie, über einen längeren Zeitraum nachvollziehen. Gleichzeitig werden diese Daten anonymisiert an das "PraxisRegister Schmerz" der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin (DGS) e.V. weiter geleitet. Anonymisiert  heißt, dass weder über Antwortdetails im Fragebogen, noch über die Verknüpfung zu einem Arzt oder einem Schmerzzentrum Rückschlüsse auf die einzelne Person gezogen werden können. Diese anonymisierten Daten können dann aber genutzt werden, um die Versorgungsforschung im Bereich Schmerzmedizin zu verbessern. Denn da sind immer noch viele Fragen offen.

Wie können Sie sicherstellen, dass nicht zum Beispiel Pharmafirmen Zugriff auf diese sensiblen Daten erhalten?

Diese Daten können nicht einfach von anderen Akteuren als der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin (DGS) e.V., die das "PraxisRegister Schmerz" betreibt, genutzt werden. Auf der anderen Seite kann es natürlich auch sinnvoll sein, dass Pharmafirmen, aber auch Krankenkassen mehr über die Versorgung von Schmerzpatienten in Deutschland erfahren, um möglicherweise neue und bessere Therapien entwickeln oder anbieten zu können. Entsprechende Anfragen würden dann von einem Beirat der DGS entschieden werden, der unter anderem ethische Kriterien in seine Entscheidung mit einbezieht.

Wie viele Nutzer erwarten Sie?

Das Onlineportal ist erst seit wenigen Tagen verfügbar. Ich würde mich freuen, wenn am Ende der ersten Woche 1.500 bis 2.000 Nutzer diese Seite besucht hätten. Letztlich zählt aber jeder Betroffene, dem wir auf diesem Weg haben helfen können.
 
Vielen Dank für das Gespräch, Dr. Michael A. Überall.

Das Interview führte Ursula Stamm