Interview - 'Wir brauchen mehr Pflegepersonal'
Seit knapp 20 Wochen gelten viele Inhalte des Pflegestärkungsgesetzes. Reicht diese Zeit, um erste Veränderungen zu spüren? Kathrin Leffler hat der rbb Praxis erzählt, wie sie das neue Gesetz erlebt. Die 52-Jährige ist Pflegedirektorin des Vivantes-Auguste-Viktoria-Klinikum (AVK) und hat selbst einen pflegebedürftigen Vater.
Mit der Pflege und ihren Gesetzen sind wir im AVK vor allem dann konfrontiert, wenn Menschen durch eine akute Erkrankung sehr plötzlich pflegebedürftig werden. Schlaganfall, Herzinfarkt, Oberschenkelhalsbruch – mit einem Mal ist ein einst vitaler Senior auf fremde Hilfe angewiesen. Das stellt alle vor große Probleme. Die Angehörigen können auf die Schnelle oft gar nicht überblicken, welche Versorgungsangebote der pflegebedürftige Mensch jetzt braucht – und woher sie diese von jetzt auf gleich bekommen. Hier sind Sozialdienst und Pflegeabteilung unserer Klinik gefordert, welche die Menschen auch kurzfristig beraten.
Mehr häusliche Pflege – aber wie?
Ein Ziel des Gesetzes ist es, häufiger als bisher Betroffenen die Pflege zu Hause zu ermöglichen. Menschen geht es in ihrem vertrauten Umfeld oft länger gut. Hier haben sie emotionale Bindungen, kennen sich aus und kommen – mit entsprechender Unterstützung – noch eine gewisse Zeit gut klar. Das Pflegeheim ist dagegen für viele gleichbedeutend mit dem Verlust ihrer Selbstbestimmung, und sie sehen es oft als „Endstation“. Zu wissen, dass sie dahin sollen, entmutigt die Betroffenen – und macht den Angehörigen ein schlechtes Gewissen. Auch bei uns in der Klinik bemühen wir uns deshalb mit verschiedenen Therapieansätzen darum, dass die Patienten zurück nach Hause können. Die Aussicht darauf wirkt sich positiv auf den Behandlungserfolg aus.
Kostenübernahme lange ungeklärt
Doch wer bezahlt die Pflege in den eigenen vier Wänden? Die Zusage durch den Kostenträger dauert mitunter Monate – vor allem jetzt, wo sich durch die neuen Gesetze die Anträge bei den Leistungsträgern stapeln. Solange der Gutachter den Pflegebedürftigen nicht vor Ort gesehen hat, können sie nicht in die Pflegegrade eingestuft werden. Und ohne Einstufung gibt es kein Geld. Das löst bei vielen ein ungutes Gefühl aus: Die Hauskrankenpflege kommt zwar bereits seit Wochen täglich ins Haus. Aber welchen Pflegegrad bekomme ich letzten Endes? Welche Leistung übernimmt die Pflegekasse, und was muss ich selbst bezahlen? Gerade für ältere Menschen ist diese Ungewissheit oft schlecht auszuhalten. Solange die Finanzierung unklar ist, trauen sie sich auch nicht, weitere, neue Versorgungsangebote anzunehmen.
Krankenhäuser übernehmen unfreiwillig
Am schwierigsten ist die Situation für diejenigen, die einen schwankenden Pflegebedarf haben, denen es mal besser geht und mal weniger gut. Kommt der Gutachter an einem Tag, an dem die Pflegebedürftigen gut drauf sind, also ein paar Schritte mit Gehhilfe laufen können, hellwach und orientiert wirken, wird der Gutachter die Bedürftigkeit entsprechend niedrig einschätzen. Da können Angehörige noch so viel reden, wie schlecht es der Mutter gestern und vorgestern ging, es bleibt bei der eingeschätzten Tagesform. Die Pflegebedürftigen bekommen eine geringere Einstufung, die den tatsächlichen Bedarf an Pflegeleistungen nicht abdeckt. Die Unterversorgung führt dann dazu, dass sie eher mal ins Krankenhaus eingewiesen werden – nicht, weil sie akut krank sind, sondern um eine angespannte Pflegesituation zu überbrücken. Wir müssen die Patienten allerdings innerhalb weniger Tage wieder entlassen, da wir für die Akutversorgung zuständig sind. Dann geht das ganze Dilemma von vorn los.
Demente früher berücksichtigt
Eins muss allen klar sein: Trotz des neuen Pflegestärkungsgesetzes sollen die Pflegeleistungen insgesamt nicht mehr kosten. Die Kosten werden also lediglich verschoben. Einige Menschen werden durch die neuen Gesetze besser gestellt, andere verlieren Leistungen. Von den Behindertenverbänden kommt beispielsweise große Kritik zum neuen Pflegegesetz, da Behinderte durch die Neuregelungen zum Teil deutlich weniger Leistungen finanziert bekommen. Dafür ist es jetzt für demente Patienten einfacher, überhaupt Leistungen aus der Pflegversicherung zu bekommen. Da gab es früher eine Gesetzeslücke. Wenn man noch laufen konnte und körperlich gut drauf war, was ja viele Demente sind, gab’s eben keine Leistung – obwohl vielleicht eine Rundum-Betreuung notwendig gewesen wäre. Betroffenen und Angehörigen empfehle ich, sich vor der Begutachtung die Diagnose Demenz durch einen Facharzt sicher nachweisen zu lassen.
Alles hängt am Personalmangel
Am meisten treibt uns in Deutschland der Mangel an Pflegepersonal um. Verfügbarkeit und Bedarf bilden hier eine immer größer werdende Schere. Das merken wir auch in der Klinik! Wenn es in Richtung Wochenende geht, häufen sich die Einweisungen aus stationären Pflegeeinrichtungen. Sobald es den Heimbewohnern etwas schlechter geht, werden sie – weil das Personal am Wochenende besonders knapp ist – in die Klinik geschickt. Auch in der Klinik haben wir übrigens immer größere Probleme, offene Stellen mit qualifiziertem Pflegefachpersonal zu besetzen. Wenn wir das Thema "Personalmangel in der Pflege" in den nächsten Jahren nicht in den Griff bekommen, nutzen uns all die schönen Gesetze nichts, weil wir niemanden haben werden, der die beschlossenen Mehrleistungen erbringt. Wir brauchen noch mehr Anreize für die Menschen, die sich für diesen Beruf interessieren oder ihn bereits ausüben.