Pflegekongress in Berlin | Interview: Interkulturelle Pflege - "Die Hürden bestehen auf beiden Seiten"
Bis zum Jahr 2030 steigt die Gruppe der über 65-Jährigen mit Migrationshintergrund auf bis zu drei Millionen Menschen. Sie brauchen Unterstützung oder müssen gepflegt werden. Doch sind wir auf den Anstieg pflegebedürftiger Zuwanderer eingestellt? Und lässt sich der Mangel an Pflegepersonal wiederum durch Zuwanderer decken?
rbb Praxis sprach mit Thomas Kobalz, Pflegedirektor des Vivantes Klinikums Kaulsdorf.
Herr Kobalz, kultursensible Pflege ist eines der Schwerpunkt-Themen auf dem 6. Berliner Pflegekongress stattfindet. Was genau ist kultursensible Pflege?
Das Thema umfasst zwei Entwicklungen: Zum einen müssen wir uns darauf einstellen, zukünftig vermehrt Zuwanderer zu pflegen und dabei ihre kulturellen Hintergründe zu berücksichtigen und zu respektieren. Zum anderen werden zukünftig mehr Menschen mit Migrationshintergrund im Kranken- und Pflegebereich arbeiten. Die Pflege wird also bunter – und zwar auf beiden Seiten.
Warum haben Sie das Thema für den Kongress aufgegriffen?
Als wir uns Anfang des Jahres trafen, um den Kongress 2016 vorzubereiten, standen wir noch unter dem Eindruck der steigenden Flüchtlingszahlen des vergangenen Sommers. Gleichzeitig sind die oben genannten Entwicklungen hin zu mehr kultureller Vielfalt in der Pflege bereits Teil unseres Alltags. Nicht zuletzt sind für uns vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels Zuwanderer als Arbeitskräfte sehr interessant.
Welche Chancen haben Flüchtlinge hierzulande in der Pflege zu arbeiten?
Hier klaffen Wunsch und Wirklichkeit noch weit auseinander. Bislang ist es nur vereinzelt gelungen, Flüchtlinge als Pflegepersonal einzusetzen. So hat beispielsweise heute ein junger syrischer Mann sein Pflegepraktikum bei uns im Klinikum angefangen. Dass es bislang nicht mehr sind, hat vor allem bürokratische Gründe. Viele der Geflüchteten sind zunächst zum Nichtstun verdammt: Die Menschen warten auf ihre Arbeitserlaubnis, ihnen fehlen anerkannte Zeugnisse und sie sprechen zu wenig deutsch. Ich möchte dennoch jeden ermuntern, sich in den Berliner Kliniken für ein Praktikum oder für einen Pflegebasiskurs bei Vivantes zu bewerben. Die Teilnehmer des Kurses lernen parallel die Sprache.
Wie könnte der Weg eines Flüchtlings in die deutsche Pflege aussehen?
Der erste sinnvolle Schritt ist ein Pflegepraktikum. Diese Zeit brauchen die Leute erfahrungsgemäß, um den Pflegealltag in Deutschland kennenzulernen und besser Deutsch zu lernen. Sehe ich dann, dass derjenige pflegerische Vorkenntnisse hat, kann ich ihn als Pflegehelfer einstellen. Ansonsten gibt es verschiedene Möglichkeiten der Qualifizierung. Um als vollwertige Alten- oder Krankenpflegekraft zu arbeiten, muss man – sofern keine entsprechenden Zeugnisse vorliegen – eine Ausbildung machen.
Nicht nur wertvolle Arbeitskräfte strömen in unser Land – in den kommenden Jahren werden mehr Menschen mit Migrationshintergrund alt und pflegebedürftig. Woher stammen sie?
In Berlin sind das vor allem die türkischen, italienischen und griechischen Gastarbeiter, die seit den 1950er Jahren zu uns kamen und blieben. Sie erreichen jetzt das Rentenalter. Mit etwa 200.000 Türken ist Berlin die größte türkische Community außerhalb der Türkei. Die meisten von ihnen leben nach wie vor im Westteil der Stadt; aufgrund der steigenden Mietpreise vor allem in Kreuzberg siedeln sie sich heute auch in den Ostbezirken an.
Wie unterscheidet sich die Pflegebedürftigkeit von der von Nicht-Migranten?
Statistisch gesehen ist es so: Pflegebedürftige Migranten sind im Durchschnitt etwa zehn Jahre jünger als pflegebedürftige Nicht-Migranten, und sie beanspruchen vermehrt die höchste Pflegestufe III. Sie sind also früher kränker. Die hohe Pflegestufe erklärt sich unter anderem daraus, dass die Pflege von Migranten zunächst lange durch die Familie geleistet wird. Erst wenn es gar nicht mehr geht, holen sich die Angehörigen professionelle Hilfe. Dass sie vergleichsweise jung pflegerisch versorgt werden müssen, mag auch daran liegen, dass sie unter schlechteren Bedingungen schwerer gearbeitet haben.
Insgesamt ist der Anteil an pflegebedürftigen Migranten dennoch vergleichsweise gering; wie kommt das?
Wie gesagt, viele werden lange von den eigenen Familien versorgt. Außerdem verfügen sie nicht im gleichen Maß über den Zugang zu gesundheitlicher Versorgung: Gerade die Älteren sprechen mitunter nicht gut Deutsch. Das zieht weitere Barrieren mit sich. Die Menschen wissen zu wenig über die Möglichkeiten der Altenhilfe in Deutschland, oder sie können die notwendigen Anträge nicht ausfüllen. Außerdem scheuen sich viele davor, zu einem Arzt zu gehen, vor allem, wenn dieser nicht aus dem eigenen Kulturkreis stammt.
Welche Hürden gibt es bei der Pflege von Migranten aufgrund ihrer anderen Kultur?
Die Hürden bestehen auf beiden Seiten. Das Pflege-Personal ist häufig noch nicht vertraut genug mit anderen Kulturen. So gebietet es beispielsweise der islamische Glaube, dass der Körper unter fließendem Wasser gereinigt wird, ein nasser Waschlappen reicht da nicht. Muslimische Frauen wiederum können nur schwer akzeptieren, dass sie ein männlicher Pfleger versorgt. Beide Seiten müssen also lernen, die Perspektive der jeweils anderen einzunehmen.
Welche Angebote macht beispielsweise Vivantes, um solche Barrieren zu überwinden?
Aktuell bilden wir Pflegekräfte aus 28 Nationen in unserer Klinikgruppe aus; jeder dritte Azubi hat einen Migrationshintergrund. In den ersten vier Wochen absolvieren die Schülerinnen und Schüler unseres "Instituts für berufliche Bildung im Gesundheitswesen", unserer Krankenpflegeschule, ein Diversity Training. Es hilft, die Unterschiedlichkeit untereinander zu akzeptieren – und ist der erste Schritt, kulturelle Vielfalt unter den Patienten zu tolerieren. Außerdem können Vivantes-Fachkräfte eine hauseigene Weiterbildung besuchen, die interkulturelle Kompetenzen vermittelt. Für neu Zugewanderte bieten wir wie andere Kliniken in Berlin auch einen sechsmonatigen Pflegebasis-Kurs mit Deutschunterricht an. Das Ziel ist ein Abschluss als Pflegehelfer oder eine weiterführende Ausbildung.
Welche persönliche Vision haben Sie von kultursensibler Pflege hierzulande, wenn Sie 10, 20 Jahre in die Zukunft blicken?
Viele Hürden werden dann überwunden sein, weil kulturelle Vielfalt noch selbstverständlicher sein wird. Als ehemaliger Ostberliner kannte ich als Junge neben Deutschen nur Vietnamesen und Russen. Meine Kinder haben Freunde, die aus der ganzen Welt stammen. Sie öffnen uns die Augen und sind eine wunderbare Inspiration.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Kobalz.
Das Interview führte Constanze Löffler