Interview | Zehn Jahre vertrauliche Geburt - "Es sind in der Regel Mütter, die aus prekären Lebensverhältnissen stammen"

Mi 01.05.24 | 13:43 Uhr
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Symbolbild: Hebamme versorgen einen Säugling im Kreißsaal(Quelle: dpa/Sina Schuldt)
Bild: dpa/Sina Schuldt

Seit zehn Jahren ermöglicht die vertrauliche Geburt Müttern, unter Pseudonym zu entbinden und das Kind zur Adoption freizugeben. Mit 16 können diese ihre Herkunft erfahren. Ein Berliner Seelsorger erzählt, warum manche Frauen sich so entscheiden.

rbb|24: Herr Rösler, Sie arbeiten als Seelsorger im Zehlendorfer Krankenhaus Waldfriede. Wie melden sich Frauen wegen einer vertraulichen Geburt bei Ihnen und was ist dann das Vorgehen?

Gersom Rösler: Die Frauen, die den Wunsch haben vertraulich oder im weitesten Sinne anonym zu gebären, melden sich bei uns per Telefon direkt bei der Seelsorge. Denn bei uns im Krankenhaus sind die vertraulichen und anonymen Geburten bei der Seelsorge angesiedelt. Wir hören den Frauen zunächst einmal zu. Dann laden wir sie, wenn es ihnen möglich ist, zu einem Erstgespräch ein – unter Wahrung der vollständigen Anonymität.

Zur Person

Sie beraten die Frauen dann ja auch zu den verschiedenen Möglichkeiten – und da gibt es ja nicht nur die vertrauliche Geburt.

Genau. Neben der vertraulichen Geburt gibt es auch die vollständig anonyme Geburt. Sie wurde in der Vergangenheit seltener gewünscht. Denn die vertrauliche Geburt ist im Rahmen der Anonymität da eher ein Schritt weiter. Denn die Mütter haben in der Regel schon den Wunsch, die Möglichkeit zu haben, irgendwie Kontakt zu ihrem Kind aufnehmen zu können. Das ist den meisten schon wichtig. Gerade weil es sich häufig um Frauen handelt, die selbst aus einer Situation kommen, in der ihre Herkunftsfamilie unklar war.

Das heißt, viele Frauen wollen gar nicht unbedingt dem Kind gegenüber anonym bleiben, sondern vielleicht eher den Behörden?

Richtig. Viele der Frauen kommen, weil sie das Gefühl haben, dass sie das Kind nicht angemessen versorgen können. Sie möchten es aber trotzdem austragen und in eine Adoptionsfamilie geben. Es gibt aber auch Frauen, die versuchen, die Schwangerschaft heimlich auszutragen. Das sind dann oft Frauen in äußert prekären Situationen.

Wollen viele der Frauen wissen, welchen Weg ihr Kind weiter nimmt?

Im Grunde ja. Diese Frage gerät den Frauen nach der Geburt stärker in den Blick. Vor der Geburt geht es häufig eher darum, das Kind möglichst gesund und oft auch zügig auf die Welt zu bringen. Viele denken zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht so sehr an die Zeit danach. Es ist auch gar nicht immer einfach, die Zeit nach der Geburt mit den werdenden Müttern zu besprechen. Aber wir sind auch nach der Geburt noch da, um mit den Frauen in Kontakt zu bleiben. Und das sind wir an dieser Stelle auch nicht alleine, denn wir arbeiten mit unterschiedlichsten Beratungsstellen zusammen und vermitteln die Frauen auch weiter.

Bei den letzten beiden vertraulich-anonymen Geburten, die wir im Krankenhaus Waldfriede hatten, waren das Frauen, die in der Praxis, in der die Abtreibung vorgenommen werden sollte, kehrtgemacht haben

Gersom Rösler

Gibt es auch Frauen, die sich erst mit einsetzenden Wehen melden oder zu ihnen kommen?

Das ist auch schon vorgekommen. Da kamen Frauen zur Geburt, die sich vorher gar nicht bei uns gemeldet haben. Aber wir weisen das ja auch so aus, dass man zu uns auch unter diesen Umständen kommen kann, um zu gebären. Das ist dann natürlich möglich. Wir tun dann alles, was notwendig ist, um die Frauen psychosozial aufzufangen und das Kind zu versorgen.

Wie viele der Frauen, die sich bei Ihnen melden, entscheiden sich nach den Gesprächen dann für eine vertrauliche Geburt?

Der überwiegende Teil der Frauen entscheidet sich für die vertrauliche Geburt. Jede Frau, die zu uns kommt, möchte zunächst anonym bleiben. Da aber die Vertraulichkeit die Möglichkeit birgt, dass zumindest das Kind im Alter von 16 Jahren seine Herkunft erfahren kann und die Mutter in ihrer Anonymität geschützt bleibt, entscheiden sich die meisten Frauen dafür. Bei vollständiger Anonymität gibt es ja keinen standesamtlichen Herkunftsnachweis. Da ist es dann später sehr viel schwieriger, das Kind jemals wieder aufzufinden und in Kontakt zu kommen.

Jede Frau bringt da ja ihr individuelles Schicksal und eine offenkundig ausweglose Situation mit. Gibt es dennoch etwas, was alle Frauen, die sich melden, eint?

Es sind in der Regel Mütter, die aus prekären Lebensverhältnissen stammen. Viele brauchen selbst Hilfe und nehmen diese auch in Anspruch. Manche der Frauen sind auch schon Mütter und können aufgrund ihrer Lebenssituation kein weiteres Kind versorgen – selbst, wenn sie es wollten. Ich habe es bisher nicht erlebt, dass eine der Frauen aus einer gehobenen Bildungsschicht kam. Solche Frauen würden wahrscheinlich dann eher eine offene Adoption anstreben.

Erleben Sie Leichtfertigkeit bei den Frauen?

Ganz und gar nicht. Häufig ist es sogar eher so, dass die Frauen sich in dem Moment, in dem sie ihre Schwangerschaft bemerken, sehr genau überlegen, welchen Weg sie gehen wollen. Viele der Frauen sind, bevor sie zu uns kommen, schon in einer Schwangerschafts-Konfliktberatung gewesen. Einige schrecken auch davor zurück, das Kind abzutreiben, selbst, wenn sie eine Indikation für eine Abtreibung bekommen haben. Bei den jüngsten beiden vertraulich-anonymen Geburten, die wir im Krankenhaus Waldfriede hatten, waren das Frauen, die in der Praxis, in der die Abtreibung vorgenommen werden sollte, kehrtgemacht haben. Die Mutter wollte dem Kind das Leben schenken.

Wie viele vertrauliche Geburten gibt es bei Ihnen im Jahr ungefähr?

Das sind etwa vier im Jahr. Es gibt ja noch mehr Krankenhäuser in Berlin, die vertrauliche Geburten durchführen. Wir haben im Krankenhaus Waldfriede seit dem Jahr 2000 auch eine sogenannte Babywiege [Anm. d. Redaktion: auch unter dem Begriff Babyklappe bekannt]. Das letzte Mal hatten wir im Jahr 2015 ein Kind darin liegen. Seit dieser Zeit gehen die Frauen eher und bewusster den Weg einer vertraulichen Geburt.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Sabine Priess.

Infobox

Symbolbild: Blick in die Babyklappe eines Gesundheitszentrums. (Quelle: dpa/J. Woitas)
dpa/J. Woitas

- Vertrauliche Geburt

Im Mai 2024 feiert das Gesetz zum Ausbau der Hilfen für Schwangere und zur Regelung der vertraulichen Geburt sein zehnjähriges Bestehen. Zwischen Mai 2014 und Februar 2024 haben sich deutschlandweit 1.166 Schwangere für die Möglichkeit entschieden, ihr Kind unter einem Pseudonym auf die Welt zu bringen und zur Adoption freizugeben. In Berlin waren es zwischen 2014 und 2022 (neuere Zahlen liegen laut Senatsverwaltung nicht vor) 70 Kinder.

Bei der vertraulichen Geburt nennt die Mutter ihren tatsäch­lichen Vor- und Nach­namen, ihr Geburtsdatum und ihre Adresse ein einziges Mal, und das nur gegenüber ­einer beratenden Person. Anschließend wird sie mit ­einem selbst gewählten Namen, einem Pseudonym, angesprochen. Niemand sonst, der sie durch Schwangerschaft, Geburt und Adop­tionsfreigabe begleitet, erfährt ihre Identität.

Die beratende Person behandelt die Angaben der Mutter strikt vertraulich und hinterlegt sie beim Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben. Wenn das Kind 16 Jahre alt ist, hat es den rechtlichen Anspruch, herauszufinden, wer seine leibliche Mutter ist.

In Berlin gibt es zudem an fünf Orten Babyklappen, in Brandenburg gibt es in Potsdam eine Babyklappe.

12 Kommentare

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  1. 12.

    Ein sehr guter informativer Artikel zu einem tief berührenden ernsten Thema.

  2. 11.

    Einfach mal mitdenken. Dass die Frau das Kind nicht "normal" unter Angabe ihrer Daten zur Adoption freigibt, sondern erst mal anonym bleiben will, wird ja Gründe haben - sehr wahrscheinlich, dass ihre persönliche Situation eben nicht zulässt, dass sofort Kontakt zum Kind besteht (sittenstrenge Familie, gewalttätiger Parter o.ä.)
    Die anonyme Geburt hat ja das Ziel, dass das Neugeborene nicht in der Mülltonne endet aus Verzweiflung.

  3. 10.

    Babyklappen und die Möglichkeit zur vertraulichen/anonymen Geburt sollte es in jedem Krankenhaus mit Kreißsaal geben. Warum dürfen die Kinder nicht früher Kontakt zur Mutti aufnehmen, sondern erst mit 16 Jahren? Die Kinder fragen viel früher nach ihrer Herkunft.

  4. 9.

    Zitat: "Vertrauliche, anonyme Geburten sind deutlich besser, als Schwangerschaftsabbrüche."

    Nun müsste Sie nur noch definieren, was für alle Beteiligten in jedem Fall "deutlich besser" bedeuten soll, Herr/Frau "Jedes Leben zählt".

  5. 8.

    Danke für den sachlichen und informativen Artikel.

  6. 7.

    "Vertrauliche, anonyme Geburten sind deutlich besser, als Schwangerschaftsabbrüche." Tatsächlich, ist das so? Wie geht es den Frauen, die die ungewollte Schwangerschaft austragen müssen? Die leben ja nicht bis zur Geburt auf einer einsamen Insel. Wie geht es den Kindern, die irgendwann erfahren, dass sie nicht gewollt waren? Sie sollten Ihre Meinung zu dem Thema nicht als Fakt darstellen. Die vertrauliche bzw. anonyme Geburt ist eine Möglichkeit, aber nicht zwingend die beste für Frau und Kind. Eine sachliche, unparteiische und vorurteilsfreie Beratung kann Frauen jedoch helfen, die beste Entscheidung für ihre persönliche Situation zu finden.

  7. 6.

    "Jedes Leben zählt" - für wen denn? Jede Frau hat das Recht, sich so zu entscheiden, wie sie möchte, eine Beratung in Anspruch zu nhemen, wenn sie es möchte. Der Beratungszwang ist in meinen Augen eine staatliche Bevormundung, für die es keinen Grund gibt. "Pro Leben" - wessen Leben denn? Das eines unerwünschten, "trotzdem geborenen" Kindes, oder einer Frau, die dann ihren selbst gewählten Weg weiter gehen kann? Ich bin für eine völlige Streichung des Paragraphen 218 und gegen jeden Zwang zu einer Beratung.

  8. 5.

    Es ist Ihr gutes Recht diese Praxis zu verteidigen. Ob es tatsächlich so schön ist für ein Kind zu wissen, die Eltern wollten es gar nicht oder waren mit seiner Existenz überfordert, das wage ich zu bezweifeln. Es ist also richtig, Schwangerschaftsabbrüche zu vereinfachen.

  9. 4.

    Dieser Leser stellt seine Behauptung als Wahrheit für alle hin - offensichtlich ohne auch nur den Funken einer Ahnung zu haben, wie es sich tatsächlich anfühlt, von völlig überforderten Teenager Eltern auf die Welt gebracht und dann wie ein Gegenstand behandelt zu werden, anstatt wie ein Kind mit Bedürfnissen und Gefühlen. Welches trotz aller einseitigen Anstrengungen, den Eltern nicht "zur Last" zu fallen, lebenslang nie so recht in das Leben der Eltern passt... ein Schwangerschaftsabbruch hätte mir viel Leid erspart und das lebenslange Gefühl nicht erwünscht zu sein und zu stören durch meine bloße Existenz. Ja, Sie lesen richtig, ich schreibe von mir als das Kind, das "trotzdem" geboren wurde, ich weiß also wovon ich rede, im Gegensatz zu manch anderen! Ich wünschte, solche Besserwisser wie dieser Leser mit dem selbstgewählten Namen "Jedes Leben zählt" würden aufhören für alle urteilen zu wollen und vorgeben zu wissen, was für alle Menschen vermeintlich richtig wäre!

  10. 3.

    Vertrauliche, anonyme Geburten sind deutlich besser, als Schwangerschaftsabbrüche. Hier werden Mütter & Kinder respektvoll und liebevoll geschützt. Darum spreche ich mich eindeutig dafür aus,vor einem möglichen Schwangerschaftsabbruch, eine gute und umfassende Beratung "pro Leben" durchzuführen. Jedes Leben zählt, auch das, des ungeborenen Kindes. Kinder müssen nicht bei der leiblichen Mutter aufwachsen. Ich bin gegen die "Vereinfachung und gegen längere Fristen" für Schwangerschaftsabbrüche.

  11. 2.

    Danke für das Interview, sehr interessant.

  12. 1.

    Zahlen sind eindeutig. Wer hätte ohne den letzten Abschnitt gedacht, dass es (so gut wie) nie vorkommt? Und sich dem anders stellen kann. Z.B. durch ein entsprechendes Bewusstsein von Ärzten und Hebammen schon in der Ausbildung.

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