rbb24 Reportage -
Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts muss in 455 Berliner Stimmbezirken in Rekordzeit eine Wahl für den Bundestag auf die Beine gestellt werden – mitten in der Legislaturperiode. Die Reportage blickt ins normalerweise unsichtbare Räderwerk der Demokratie. Bei allen Beteiligten ist vor allem eins zu spüren: Der Wille zu beweisen, dass Berlin es besser kann.
Fehlende Stimmzettel, Chaos vor Wahllokalen, Abstimmungen noch nach der Schließzeit: Was viele Wahlberechtigte im September 2021 erleben mussten, war ein Desaster - für Berlin, seine Verwaltung, und auch für das Vertrauen in die Demokratie. „Berlin 2021 war das größte organisatorische Versagen im Bereich Wahlen in der Geschichte der Bundesrepublik“, sagt Landeswahlleiter Stephan Bröchler.
Jetzt, mehr als zwei Jahre später, muss deshalb in 455 Stimmbezirken der Hauptstadt noch einmal gewählt werden. So hat es das Bundesverfassungsgericht beschlossen und den Verantwortlichen nur knapp 60 Tage Vorbereitungszeit gegeben. Eine Teil-Wiederholungswahl stemmen in Rekordzeit - wie funktioniert das? Wie wollen Stephan Bröchler und seine Leute sicherstellen, dass diesmal wirklich alles klappt? Die Reportage beobachtet die Vorbereitungen, die normalerweise im Verborgenen passieren, aus der Nähe.
Zum Beispiel im ehemaligen Ratskeller der Pankower Rathauses. Hier, im seit Jahren stillgelegten Schankraum, zählen Helfer und Helferinnen die Stimmzettel, bekleben Umschläge, falten Flaggen für die Wahllokale. Alles im Akkord, alles von Hand. Die Devise: zügig, aber sorgfältig. „Das ist eben Demokratie zum Anfassen“, sagt einer der Helfer. 38 Menschen hat das Pankower Bezirkswahlamt extra für die Wiederholungswahl eingestellt - zumeist befristet bis Ende März, wenn auch die letzten Nachbereitungen abgeschlossen sein sollen.
Dass es ohne diese Unterstützung nicht ginge, spürt auch Maren Kägeler täglich. Eigentlich arbeitet sie im Pankower Bürgerservice, jetzt aber kümmert sie sich ausschließlich um die Briefwahl. 35.000 Anträge allein in der ersten Woche - „Wenn das so weitergeht, sehe ich uns schon am Wochenende und im Drei-Schicht-Betrieb nachts arbeiten“ sagt Kägeler. Denn auch die Briefwahl ist komplett Handarbeit.
Kägeler und ihre Mitarbeitenden müssen zuerst checken, ob der Antragsteller überhaupt in Pankow wahlberechtigt ist, dann die Unterlagen. Die zurückkommenden verschlossenen Briefumschläge werden sortiert und in die jeweils richtigen Wahlurnen geworfen - alles per Hand, doppelt und dreifach überprüft.
Demokratie als Fleißarbeit. Und niemand kann vorhersagen, wann an welcher Stelle wieviel Hände gebraucht werden. „Professionell improvisieren“ nennt Marc Albrecht (kommissarischer Wahlamtsleiter) diesen Arbeitsmodus. Oberstes Ziel: ein erneutes Desaster um jeden Preis verhindern. Dafür hat Albrecht Ersatz-Urnen für die Wahllokale bestellt, dezentrale Materialdepots im Bezirk anlegen lassen - „falls am Wahltag irgendwo zum Beispiel Kugelschreiber fehlen“ - und Zehntausende Reserve-Stimmzettel in der Hinterhand. Wird so alles gut?
Dem Landeswahlleiter Stephan Bröchler, im Hauptberuf Professor für Politik- und Verwaltungswissenschaften, reicht das auf Dauer nicht. Er will prinzipielle Reformen: Bezirkswahlämter mit ständig Mitarbeitenden und eigenen Räumen, einheitliche Standards für alle - und auch mehr Befugnisse für sein eigenes Amt gegenüber den machtbewussten Bezirken. Im Moment aber kann der Landeswahlleiter nichts anordnen, steht völlig außerhalb von Hierarchien.
Für die rbb24 Reportage hat der Autor Stephan Bröchler über Wochen begleitet: Zu internen Sitzungen, Besuchen in Bezirkswahlämtern und der landeseigenen Druckerei - und an die Hochschule, an der er nach wie vor lehrt. Wie weit kommt er mit seinen Reformideen?
Film von Lars Seefeldt
Erstsendung: 10.02.2024/rbb