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Sie sind der Inbegriff der sogenannten "Hamburger Schule" in der Popmusik, in den vergangenen 30 Jahren sind auf in ihren Songs die großen persönlichen und gesellschaftlichen Themen zu Musik geworden. Das ist bis heute so geblieben, nur Hamburg haben Tocotronic gegen Berlin getauscht. Heute zählen die vier Musiker um Dirk von Lotzow zu den erfolgreichsten Bands der Republik. Die Geschichte von Tocotronic erzählt jetzt der Podcast "This Band is Tocotronic" in der ARD Audiothek. Mit Dirk von Lotzow und Jan Müller sprechen wir über die Anfänge im Hamburger Underground, politische Kunst und die Zukunft der Popmusik.
"So jung kommen wir nicht mehr zusammen."
Jan Müller Bassist von "Tocotronic"
"Ich finde es ein Riesen-Riesen-Riesenglück, dass wir jetzt 30 Jahre das so zusammen machen, ohne uns zerstritten zu haben oder auch nur auseinandergelebt und so, dass dieses, das diese Band uns auch so zusammengehalten hat. Also ich habe jetzt wenig Freunde, die ich schon so lange kenne."
Das sind Tocotronic. Vor 30 Jahren.
Jan Müller Bassist von Tocotronic
"Es ist ja auch was Seltsames eigentlich, dass man so in der Öffentlichkeit älter wird und größer wird und anders wird, und man wird sich schon dessen, je länger das ist, mehr bewusst, was für ein großes Glück das ist."
Ein Glück, dass es sie gibt. Für sie. Und für uns. Wer sonst hätte uns Zeilen geschenkt wie "Pure Vernunft darf niemals siegen"? Denn ja – ihr wichtigstes Instrument war immer: Die Sprache. Es begann 1993 in Hamburg: Drei Jungs erfinden sich eine Band. Tocotronic ist für sie ein Gesamtkunstwerk: Musik, Haltung, Stil. Der Look aus Trainingsjacken und Cordhosen.
Und Lieder, die "Ich" sagen. Auf deutsch. Dabei hatte Sänger Dirk von Lowtzow, gerade aus Baden nach Hamburg gezogen, bis dahin immer auf englisch getextet.
"…was nicht ist kann niemals sein."
Dirk von Lowtzow, Sänger von Tocotronic
"Als ich dann nach Hamburg kam und Arne und Jan kennenlernte und dachte: Wow, die sind so super cool und die aber eben meinten: Bei uns wird hier aber auf Deutsch getextet, da wusste ich so, ich kann hier mit meinem Kram..."
Jan Müller Bassist von Tocotronic
"So haben wir das gesagt?"
"Implizit vielleicht…"
Dirk von Lowtzow, Sänger von Tocotronic
"Ja… Und eine wirkliche Initialzündung war - wir waren bei einem Konzert von Bernd Begemann. Und das war was ganz anderes, weil er sang plötzlich über Dinge, die einem vertraut waren, über Orte und Nichtorte, über Weggabelungen, über Strommasten auf dem Feld und so, und das war mir erst so ein bisschen unheimlich. Und ich weiß noch, dass ich dann nach Hause gelaufen bin, ich hatte den Nachtbus verpasst, und war auch schon betrunken, fing total an zu weinen und dachte so, dass alles, was ich bis jetzt gemacht habe, ist ja alles Mist – das ist "the real thing"! Und dann habe ich angefangen, Songs, die ich in der Schublade schon hatte, einfach zu übersetzen. Und dabei ist was ganz Tolles passiert, nämlich Humor ist reingekommen. Und die habe ich dann Arne und Jan vorgespielt, oder? So war das."
"Ich weiß nicht, wie konnte das geschehen / Die Welt kann mich nicht mehr verstehen/ Ich bin heute morgen aufgewacht / Und es war noch mitten in der Nacht…"
Im rauhen Punk-Sound von der eigenen Verletzlichkeit singen: Ihre poetischen Parolen machen Tocotronic Mitte der Neunziger zur Stimme einer ganzen Generation.
"Ich weiß nicht wie konnte das geschehen…"
Ihre ersten drei Alben erscheinen binnen eines Jahres. Aus den kleinen Clubs geht es auf die großen Bühnen. Ein Aufbruch wie im Rausch.
"Ich möchte alle meine Freunde sehen…"
Jan Müller Bassist von Tocotronic
"Wir waren schon sehr getrieben, glaube ich. Das war aber auch total toll. Weil wir uns so gefunden hatten und ich glaub bei uns allen dreien gab es so Außenseiter-Zeiten, und als wir dann eben diesen Resonanzboden fanden und Plattenfirma, Bookingagentur, all das, dann dachten wir: Ja, das muss jetzt befeuert werden."
Dirk von Lowtzow
"Und gleichzeitig war es natürlich auch schon so ein bisschen manisch und auch Ausdruck einer gewissen Unsicherheit oder so eines Zweifels, weil ich immer das Gefühl hatte, man muss das Bild geraderücken. Die letzte Platte ist irgendwie doch falsch verstanden worden. Jetzt müssen wir eine machen, um die vorherige wieder zu revidieren oder so."
"Im Zweifel für den Zweifel, das Zaudern und den Zorn…"
"Im Zweifel fürs Zerreißen / der eig‘nen Uniform": Als sie das singen, haben sie sich auch selbst schon "gehäutet": Tocotronic sind nun zu viert. Und tragen statt Trainingsjacken – Oberhemden.
"Ich mag den Weg / ich mag das Ziel…"
Die Suche nach einem neuen Ausdruck treibt sie an.
Sie singen immer noch "Ich", aber nach Tagebuch klingt es nicht mehr.
"Aber hier leben / nein danke"
Jan Müller Bassist von Tocotronic
"Wir hatten auch Angst, so zum Klischee, zum Abziehbild zu werden. Wenn man sich sowas wie wir so einen Dresscode überlegt, Stichwort Cordhosen, Trainingsjacken, dann wird man irgendwann darauf festgelegt. Und wenn man dann merkt, ah, das kommt gut an, dann denkt man doch aber ich will jetzt nicht irgendwie jetzt hier für den Rest meines Lebens in so einer Verkleidung rumlaufen und auch auf die Musik bezogen."
Anfang 50 sind sie jetzt. Aus dem Traum von einer Band wurde ein Leben in der Musik. Tocotronic haben das Älterwerden mit uns geteilt, und manchmal auch die Ratlosigkeit.
"Ich weiß nicht weiter / ich will mich nicht verändern / doch wie fang ich‘s an? Ich habe dich vielleicht belogen…"
Zweifeln und Suchen – nach einem Weg, mit den Verwundungen des Lebens umzugehen. Nach einer Haltung zur Welt. Auch das sind Tocotronic.
"…und Zärtlichkeit"
Jan Müller Bassist von Tocotronic
"Natürlich als Rockband, wo das Alter eigentlich gegen einen arbeitet, wird auch der Gedanke stärker: Ist das noch relevant? Und das ist… treibt einen aber natürlich auch an!"
Dirk von Lowtzow
"Man muss arbeiten und darf nicht jammern. Das ist das Einzige, was man, was man machen kann."
"In die Unendlichkeit…"
"In jedem Ton liegt eine Hoffnung", auch das ist eine Zeile von Tocotronic. So ziehen sie weiter, raus ins Offene. Es ist ein Glück, dass es sie gibt.
Autor: Tim Evers