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Der Zweifel hat Einzug erhalten, nicht nur in den Bundestagswahlkampf. Kinder kommen aus der Schule und fragen ihre Eltern, ob sie jetzt bald abgeschoben werden. Menschen haben Angst, obwohl sie hier geboren sind oder seit Jahrzehnten hier leben, arbeiten und obwohl viele von ihnen einen deutschen Pass haben. Wenige Themen sind so verzerrt und vergiftet, wie die Debatte um die Migration. Was passiert gerade mit der politischen Kultur in Deutschland?
Mohammad Sarhangi kennt die Gefühle, die die Abstimmung im Bundestag wecken seit seiner Kindheit: die Angst, abgeschoben zu werden. Er war fünf, sein Bruder ein Baby, als die Eltern 1986 vor dem Krieg aus Iran fliehen. Die Asylanträge der Kinder wurden damals abgelehnt – sie würden ja nicht politisch verfolgt! Jahrelang fürchten die Eltern die Abschiebung ihrer Söhne. Und jetzt: Friedrich Merz gewinnt gemeinsam mit der in Teilen rechtsextremen AFD den Antrag auf eine weitere Verschärfung der Asylgesetze!
Mohammad Sarhangi, Historiker
"Ich versuche nicht zu verbittern, ich versuche nicht zu verzweifeln. Aber vor allem ist ein Gefühl ganz deutlich: mir ist übel."
Der Historiker Mohammad Sarhangi ist Deutscher, er kann nicht abgeschoben werden. "Jahre der Angst, Momente der Hoffnung" heißt sein sehr persönliches Buch, in dem er die emotionalen Folgen von Krieg, Flucht und von Exklusionserfahrungen untersucht. Wie ein Stich ins Herz jetzt der Tabu-Bruch: von AFD-Stimmen zu profitieren. Und all die vielen Deutschen, die dafür sind, Zuwanderung einzuschränken.
Mohammad Sarhangi, Historiker
"Ich versuche auch tatsächlich Mitgefühl für all die zu entwickeln, die gerade das Gefühl haben, dass die Migrationspolitik das größte Problem in Deutschland ist."
Tareq Alaows ist gerade in Syrien, als die AFD mit Merz stimmt. Als er 2015 nach Deutschland geflohen ist, wurde er willkommen geheißen. Inzwischen arbeitet er bei Pro Asyl, ist längst deutscher Staatsbürger – wie etwa 100.000 der geflüchteten Syrierinnen und Syrier. Die Abstimmung im Bundestag: für ihn ein "trauriger Moment".
Tareq Alaows, PRO ASYL
"Und ich bekam mehrere Nachrichten von Menschen aus Deutschland, die sagen: "hey, auch wenn es in Syrien nicht stabil ist, ich weiß nicht, ob ich eine Zukunft in Deutschland noch sehe"."
Mohammad Sarhangi und Tareq Alaows: zwei von 25 Millionen Menschen in Deutschland, die selbst oder deren Vorfahren zugewandert sind. Die Hälfte von ihnen hat einen deutschen Pass. In diesem Wahlkampf erleben sie, wie Vorurteile geschürt werden – dass viele Migration mit Kriminalität verbinden. Auch am Maxim Gorki-Theater – das Haus mit seinem internationalen Ensemble, das Vielfalt programmatisch untersucht und feiert – kommt diese Stimmung an.
Simon Meienreis, Dramaturg Maxim Gorki Theater
"Dadurch, dass meine Kolleg:innen sehr, sehr große Erfahrungen haben mit Rassismus, mit Antisemitismus, auch teilweise aus Ländern kommen, die in autoritäre Systeme abgedriftet sind oder das vielleicht auch überwunden haben, gibt es natürlich starke Sensibilitäten und Ängste – und Kolleg:innen werden von ihren Kindern gefragt, ob sie bald abgeschoben werden. Und das sind ganz reale Ängste!"
Je emotionaler das Thema ist, desto größer die Verantwortung, Menschen zu beruhigen, so Michel Friedman. Gerade ist er aus der CDU ausgetreten. Die Mehrheitsbeschaffung durch die "Partei des Hasses" – wie er sagt – kann er mit seinem Gewissen nicht vereinbaren. Schwer erträglich findet er auch, dass Merz von "Ohnmacht" spricht, den Staat "überfordert" sieht.
Friedrich Merz
"Vor die Wahl gestellt, weiter ohnmächtig zuzusehen, wie die Menschen in unserem Land bedroht, verletzt und ermordet werden…."
Michel Friedman, Publizist
"Deutschland ist nicht ohnmächtig. Und apropos Messerattacken: das machen auch deutsche Bürger, die seit sieben Generationen hier sind. Das Wort "Überforderungen" kann ich nicht hören. Wenn Politik Angst macht, vor allem die totalitären Parteien, aber auch die demokratischen - das sind auch Sprachfragen. Da sind wir wieder in der Kultur… Sprach-Ästhetik: Es sind Worte, die Pfeile sein können. Die Frage ist: Wie wird das kommuniziert? Als "Abwehr" – oder als eine Willkommenskultur, die geregelter wird?"
Mohammad Sarhangi, Historiker
"Das Gesetzespaket, was verabschiedet wurde von der Ampelregierung, gehört mit zu den schärfsten Regeln. Das, was irreguläre Migration genannt wird, ist um dreißig Prozent, wenn ich die Zahl richtig in Erinnerung habe, zurückgegangen. Abschiebungen sind, wenn ich mich richtig erinnere, um zwanzig Prozent hochgegangen. Das Gefühl ist aber gerade trotzdem da, dass die Migration das größte Problem ist. Sie können, wenn ein Gefühl sich erstmal festgesetzt hat, es nicht mit Fakten hinfortwischen."
Sarhangi erschreckt die Kälte in den Herzen, wie er sagt - nur um im Wahlkampf Stimmen holen. Und Tareq Alaows fordert, psychosoziale Betreuung zu stärken, statt Menschenrechte abzuschaffen oder Abschiebung in unsichere Länder zu fordern – so wie der CDU-Politiker Jens Spahn, kurz nach dem Sturz des Assad-Regimes.
Tareq Alaows, Pro Asyl
"Der Vorschlag ist an sich realitätsfern, erstmal so zu sagen, wir schicken Menschen in ein Land zurück, wo über achtzig Prozent der Bevölkerung auf humanitäre Hilfe angewiesen ist, weil alles teuer ist und keine Infrastrukturen existieren, wo Strom nur vier Stunden am Tag kommt. Das ist komplett realitätsfern."
Diese Vier kämpfen für ein offenes Deutschland. Doch welchen Weg findet das Land jetzt in der Migrationspolitik? Es ist – war nie einfach! Auch im Gorki-Theater, dieser "kleinen Welt" werden Konflikte verhandelt. Auf der Bühne – und dahinter.
Simon Meienreis, Dramaturg Maxim Gorki Theater
"Wir haben ja nicht alle die gleiche Meinung zu verschiedenen Themen und schon gar nicht zu politischen, tagespolitischen Themen. Aber trotzdem ist das alles in einem gewissen Grundkonsens, einer gewissen Grundsolidarität und einer Zugewandtheit, in der man einander auch zuhören will und zuhören kann. Und das ist halt der große Unterschied zu politischen Debatten, die man im Moment sieht. Also es ist ja ein wahnsinniger Rückgang, eine wahnsinnige Trauer um politische Kultur zu erleben."
Der Ton ist scharf, das Land scheint gespalten. Michel Friedman aber entdeckt einen Hoffnungsschimmer.
Michel Friedman, Publizist
"Eigentlich bin ich gerade sehr glücklich. Das mag paradox klingen, aber in einer Zeit, in der sich so viel verändert, das ist auch die Zeit, in der du mitgestalten kannst. Die einen gestalten gegen den Menschen, die anderen gestalten für den Menschen. Ich habe diese zweite Linie sehr viel lieber."
Autorin: Petra Dorrmann