rbb PRAXIS Interview -
Genauso wie der Weihnachtsbaum, die Kerzen und die Geschenke, wird häufig auch noch etwas anderes mit Weihnachten verbunden: Stress. Der Diplompsychologe und systemische Familientherapeut Nikolai Geils-Lindemann über die Ursachen und mögliche Lösungsansätze:
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Familien-Beratungsstellen melden an Weihnachten erhöhten Zuspruch. Die Polizei oder Notärzte müssen ausrücken, weil es eine gestiegene Zahl von Fällen häuslicher Gewalt oder Prügeleien gibt. Haben Sie an Weihnachten auch mehr zu tun?
Nein, zumindest nicht, weil die Klienten sich vermehrt streiten oder in ernsthafte Krisen geraten. Im Gegenteil. Wir arbeiten ja viel mit Jugendlichen und Kindern, zu Weihnachten haben sie Schulferien, damit fällt schon ein großer Konfliktherd weg. In den Familien kehrt also eher Ruhe ein, man rauft sich zusammen.
Wie lässt sich aber der Generationenkonflikt bewältigen? Die Alten wollen essen, die Jungen endlich mal ihrs machen?
Auch hier kommt es auf kleine Dinge an. Wenn die Jugend abends beispielsweise etwas vorhat, kann sie vielleicht vorher mehr Zeit einplanen, um mit den Eltern zusammen zu sein. Wenn der Wunsch nach Verständigung da ist, sollten Jung und Alt sich "gemeinsam auf den Weg machen" und schauen, was jedem Einzelnen wichtig ist und wie sie miteinander dorthin kommen.
Wie kann man sich an diesen wertvollen Tagen Freiraum schaffen, ohne den Rest der Sippe vor den Kopf zu stoßen?
Sicher sollte man sich fragen, ob es nicht auch besser für das Weihnachtsfest wäre, wenn man sich auch unter dem Jahr mal trifft. Sonst sind die Freiräume für den Einzelnen an den Feiertagen begrenzt, alles muss in der kurzen Zeit abgehandelt werden. Sieht man sich hingegen auch mal im Sommer oder Herbst oder am Wochenende, sind die Themen nicht so gedrängt und Weihnachten ist "nur" ein Treffen unter vielen.
Wie sollten Eltern damit umgehen, wenn ihre Kinder lieber mit Freunden verreisen, statt zuhause auf der heimischen Couch zu sitzen?
Geils-Lindemann: Natürlich wäre es hilfreich, wenn die Eltern ihren Wünschen an ein gemeinsames Weihnachtsfest Ausdruck verleihen und über die damit verbundenen Gefühle zu sprechen, anstatt beleidigt zu sein und Vorwürfe zu machen. Wenn die Kinder spüren, dass die Eltern ihre Abwesenheit wirklich trifft, können sie deren Enttäuschung womöglich besser nachvollziehen. Letztendlich gibt es kein Patentrezept – jede Familie ist anders.
Also alles eine Frage der Kommunikation?
Nicht nur, manchmal hilft auch eine langfristige Planung. Wenn die Kinder zum Beispiel planen, über Weihnachten zu verreisen, wäre es vermutlich gut, wenn sie die Eltern rechtzeitig darauf vorbereiten würden. Dann bliebe den Eltern mehr Zeit, um sich darauf einzustellen, mit den Kindern zu verhandeln und eine gemeinsame Lösung zu finden.
Was für eine Bedeutung haben Geschenke?
Geschenke gehören aus der Tradition heraus zum Ritual. Insofern sind sie nicht unwichtig. Die Kommerzialisierung, die heute damit verbunden ist, finde ich persönlich übertrieben. Dies schürt eher noch die hohen Erwartungen an ein perfektes Weihnachtsfest. Es lohnt sich genauer hinzuschauen – auch die gemeinsam verbrachte Zeit und die Mühe, die sich die Familie macht, um das Fest gemeinsam auszurichten, ist ein Geschenk.
Was bietet die systemische Familientherapie anderes als die Verhaltenstherapie oder Psychoanalyse?
Anders als die beiden klassischen Verfahren arbeiten wir nicht störungsorientiert, sondern fragen eher: Wofür ist das Problem ein Hinweis, für welchen Lösungsversuch könnte es stehen? Wir unterstützen die Klienten dabei, ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Dazu erarbeiten wir zunächst, wie das Ziel überhaupt aussieht. Woran würde man merken, dass sich eine erste Verbesserung eingestellt hat? Wie sähe eine Verbesserung für andere Familienmitglieder aus? Die systemische Therapie begreift den Menschen und seine "Wirklichkeit" als Ergebnis seiner Beziehungen zu seiner Umwelt. Daher interessieren uns im Therapieprozess besonders die (Aus-)Wirkungen des Verhaltens der Familienmitglieder auf den jeweils Anderen. Das bedeutet, selbst wenn wir nur mit einer einzelnen Klientin arbeiten, sehen wir sie immer auch als Teil ihrer Familie, als Teil ihres Systems und ihrer Beziehungen. Die Klienten selbst sind für mich als systemischer Therapeut die Experten ihres Lebens, sie tragen die Lösung in sich und sie entscheiden, wo es hingeht und was hilfreich ist.
Herzlichen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Beate Wagner.