rbb PRAXIS Interview -
Genauso wie der Weihnachtsbaum, die Kerzen und die Geschenke, wird häufig auch noch etwas anderes mit Weihnachten verbunden: Stress. Der Diplompsychologe und systemische Familientherapeut Nikolai Geils-Lindemann über die Ursachen und mögliche Lösungsansätze:
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Die Besinnlichkeit der Weihnachtszeit ist in unserer westlichen Gesellschaft für viele verloren gegangen und dem Rummel gewichen. Was macht den Stress in den Familien aus?
Wenn zu Weihnachten die Familie aufeinandertrifft, sind das ja immer mehrere "Familien"; die Herkunftsfamilie, die neue eigene Familie, vielleicht kommen noch entfernte Angehörige dazu oder Angeheiratete aus anderen Kulturen. Man trifft sich also zwar in der Großfamilie, es ist aber dennoch ungewohnt miteinander, schließlich sieht man sich das Jahr über sonst nur selten oder gar nicht.
Was passiert dann?
Es kommt häufig zu Konflikten, denn jeder bringt seine Vorstellungen und Erwartungen mit. Und es ist Zeit da, die Konflikte flammen nicht nur auf, sie können auch ausgelebt werden. Aber schauen wir doch einmal von der anderen Seite: Stress oder eine anstrengende Stimmung entsteht doch unter anderem, weil sich die Familienmitglieder eigentlich sehr nahe sind. Stress zeigt, dass die Themen oder Atmosphäre den Beteiligten etwas bedeuten, dass also eine Beziehung zwischen den Menschen besteht, die da an Weihnachten zusammenkommen.
Stress gehört also zu Weihnachten?
Ja, wenn Menschen Gefühle füreinander haben, bleibt Stress nicht aus. Daher wäre es ratsam, das nicht so übermäßig zu bewerten, sondern Stress als naturgegeben hinzunehmen. Wenn wir anerkennen, dass er dazugehört, können wir besser mit ihm umgehen.
Warum ist uns Weihnachten denn so wichtig, dass wir das Fest am liebsten perfekt erleben wollen?
Weihnachten ist ein Ritual, das uns miteinander verbindet und den familiären Zusammenhalt stärkt. Der Mensch braucht Rituale, sie stärken ihn und festigen ihn in der Gemeinschaft.
Was können Sie raten, wenn aus einem Konflikt ein handfester Familienzank entsteht?
Ein großer Familienstreit entsteht ja oft dann, wenn es beispielsweise Unstimmigkeiten darüber gibt, wie das Fest ablaufen soll. Wenn mir ein Klient das in der Praxis berichtet, würde ich ihn zunächst fragen, wie er sich den Ablauf denn persönlich vorstellt und woran er merken würde, dass es ein bisschen besser laufen würde, als letztes Jahr. Oft wird dann klar, dass er darüber noch gar nicht nachgedacht hat. Wir haben also alle unbestimmte Bilder von dem perfekten Fest im Kopf - wie das ganz konkret aussehen soll, wissen wir indes oft selbst nicht.
Und was machen die zerstrittenen Familienmitglieder dann?
Wir arbeiten mit dem sogenannten lösungsorientierten Ansatz. Das bedeutet, dass wir gemeinsam mit unseren Klienten eigene Lösungs- bzw. Veränderungsideen entwickeln. In unserem Beispiel würde das möglicherweise bedeuten, dass sich der Klient fragt, was er selber dazu beisteuern kann, dass der Ablauf des Festes so wird, wie er und die anderen Familienmitglieder es sich vorstellen. Im besten Fall strahlt das auf die anderen Familienmitglieder ab – wenn er sich plötzlich ungewohnt anders verhält, werden auch andere Familienmitglieder dazu eingeladen etwas anders zu machen.
Was wären denn optimale Bedingungen, unter denen die Familien zusammenkommen könnten?
Gut wäre es sicher, wenn wir unsere teils hohen Erwartungen reduzieren könnten. Der Druck, alles perfekt zu machen, führt bei den Beteiligten zu Spannungen und Ärger. Wie wäre es denn mal, stattdessen Wert auf die vermeintlich kleinen Dinge zu legen und Veränderungen im Zusammensein auszuprobieren? Das könnte auch bedeuten, nicht permanent zusammen zu sein, sondern sich zwischendurch auch mal ein paar Stunden Pause voneinander zu erlauben.