Interview l Ohne Kasse zum Arzt - Hilfe für Menschen ohne Krankenversicherung
Etwa eine Million Menschen in Deutschland hat keine Krankenversicherung. Ihnen helfen die Sozialarbeiterinnen der Clearingstelle von der Berliner Stadtmission im Hauptbahnhof. Seit der Eröffnung vor fünf Wochen ließen sich dort über 100 Menschen beraten: Wo gibt es medizinische Hilfe? Wie kann man sich doch krankenversichern? Die rbb Praxis hat mit Gülnara Rödel von der Clearingstelle gesprochen.
Frau Rödel, Ihr letzter Klient – was hatte der für ein Anliegen?
Gestern Abend kam gegen 19 Uhr ein Mann rein, der Zahnschmerzen hatte. Er ist selbstständiger Kleinunternehmer und seit 1995 nicht mehr krankenversichert, kann also nicht einfach zum nächsten Zahnarzt marschieren.
Und konnten Sie ihm helfen?
Ich musste ihm erst mal klar machen, dass wir hier nicht behandeln, sondern beraten. Ich gab ihm eine Liste mit ehrenamtlichen Zahnärzten, bei denen er sich am Morgen melden konnte. Wenn das nicht klappt, sollte er mich noch mal anrufen. Und ich habe ihm angeboten, sich von uns beraten zu lassen, ob er in seine Krankenversicherung zurückkehren kann.
Wahrscheinlich hat er Angst vor den Beitragsschulden, die sich dort angesammelt haben.
Das ist eine häufige Befürchtung unserer Klienten. Dazu kann ich beruhigend sagen: Ansprüche auf Beiträge verjähren sich nach vier bis fünf Jahren. Für die Beiträge, die sich angesammelt haben, können wir mit den Kassen und Versicherungen Ratenzahlungen vereinbaren. Das sind dann 20, 30 oder 50 Euro monatlich. Nach einer gewissen Zeit werden auch die noch verbleibenden Restschulden gestrichen. Zusätzlich vereinbaren wir Stundung, so dass keine weiteren Mahnbescheide oder eine Vollstreckung drohen. Sollten in der Zeit der Nichtversicherung keine Behandlungen angefallen sein oder hat derjenige sie bereits gezahlt, wird für den Zeitraum oft nur ein anteiliger Beitrag berechnet.
Wer ist denn nicht krankenversichert?
Man denkt immer, das sind Obdachlose oder Illegale, also Menschen ohne gültige Papiere. Aber aus dem System fallen auch Selbständige und Rentner – einfach, weil sie die Beiträge nicht mehr aufbringen können. Viele kommen finanziell gerade so über die Runden; die 300 Euro Mindestbeitrag in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) können sie nicht mehr zahlen. Also scheiden sie aus der Krankenversicherung aus.
Wie sieht es mit Ausländern aus?
Die größte Gruppe der Unversicherten sind Menschen ohne gültige Aufenthaltspapiere und arbeitsuchende EU-Bürger. Durch eine Gesetzesänderung sind letztere seit 2017 von der Sozialhilfe ausgeschlossen. Sie haben erst nach fünf Jahren nachgewiesenem Aufenthalt Anspruch auf staatliche Unterstützung. Einige verlassen ziemlich unvorbereitet ihr Land, ohne sich beispielsweise um die Europäische Krankenversicherungskarte (EHIC) zu kümmern, mit der sie auch hier versichert wären.
Ein Leben ohne Krankenversicherung – kaum vorstellbar in einem hochzivilisierten Land wie Deutschland.
In der Tat besteht in Deutschland Krankenversicherungspflicht. Dennoch gibt es Situationen wie die angesprochenen, in denen Menschen durchs Raster fallen.
Wie viele Menschen leben hierzulande ohne Krankenversicherung?
Laut statistischem Bundesamt sollen es etwa 80.000 Menschen sein. Rund ein Drittel von ihnen sind Selbstständige.
Das klingt ja nicht nach so vielen ...
Die Dunkelziffer dürfte wesentlich höher sein! Es kursiert die Zahl, dass bundesweit eine Million Menschen ohne Krankenversicherung auskommt, davon allein 60.000 in Berlin. 10 - 20 Prozent von ihnen benötigen pro Jahr akute ärztliche Behandlung.
Von diesen 60.000 Nichtversicherten in Berlin gelten ein Viertel bis die Hälfte als versicherbar. Was bedeutet das?
Viele von ihnen waren in der Vergangenheit schon mal in Deutschland versichert und können daher auch wieder versichert werden. Das betrifft besonders deutsche Staatsbürger oder Menschen mit einem geregelten Aufenthalt. In einigen Fällen kann man beispielsweise durch Antragstellung, Widerspruch oder Klage bei Leistungsträgern und Versicherungen bestehende Rechte durchsetzen. Das wiederum trifft insbesondere bei Migranten zu.
Können Nichtversicherte denn auch ohne Krankenversicherung in die Notaufnahme gehen oder den Notarzt rufen?
In Deutschland wird jeder behandelt, der an akuten Schmerzen leidet oder lebensbedrohlich erkrankt ist – auch ohne Krankenkassenkarte! Aber alles, was darüber hinaus geht, also Verbände oder Medikamente, muss selbst bezahlt werden. Die Kosten können sich schnell summieren.
Und wenn die Leute ein weniger akutes Problem haben und zum niedergelassenen Arzt wollen?
Die Praxen dürfen Patienten ohne Gesundheitskarte abweisen, wenn sie nicht akut behandelt werden müssen. Jede Praxis handhabt das ein bisschen anders: Einige vergeben an Leute ohne Krankenkassenkarte überhaupt keine Termine, andere erlauben eine Nachreichfrist von mehreren Tagen. Liegt die Karte bis dahin nicht vor, muss der Patient die Behandlungskosten privat zahlen.
Das kann dann ein teures Vergnügen werden. Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es ansonsten in Berlin und Brandenburg für Nichtversicherte?
Wir beraten und vermitteln in der Clearingstelle die Patienten an die entsprechenden Adressen. Gibt es keinen Kostenträger, übernimmt der Notfallfonds die Behandlungskosten über einen Behandlungsschein. Die gute Nachricht: Ab Anfang 2019 werden wir auch in unseren Räumen eine medizinische Grundversorgung anbieten und Behandlungsscheine verteilen können.
Als Clearingstelle ist es momentan Ihr größtes Anliegen, den Menschen doch noch zu einer Krankenversicherung zu verhelfen.
Zuständig ist immer die Krankenkasse, in der man zuletzt versichert war – Privatversicherte melden sich bei ihrer privaten Krankenversicherung und gesetzlich Versicherte bei ihrer gesetzlichen Krankenkasse. Wer nicht weiß, ob er gesetzlich oder privat versichert war, sollte erst mal zu einer gesetzlichen Krankenkasse gehen. Sie ist auch für diejenigen die erste Anlaufstelle, die noch nie versichert waren.
Habe ich eine Handhabe, wenn mich eine Krankenversicherung ablehnt?
In Deutschland darf niemand von der Krankenversicherung abgelehnt werden, auch nicht aufgrund chronischer Krankheiten oder bestehender Schulden.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Dass es für alle Menschen hierzulande einen bezahlbaren Versicherungsschutz gibt und wir Menschen in unserer Clearingstelle noch schneller und unbürokratischer helfen können. Der Mann mit dem Zahnweh von gestern hat übrigens nicht mehr angerufen; einer der ehrenamtlichen Zahnärzte konnte ihm vermutlich helfen.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Constanze Löffler.