Interview l Ärztliche Schweigepflicht & Patient*innenschutz - Reden verboten - Schweigen ist Gold
Trotz digitaler Datenerfassung: Die ärztliche Schweigepflicht soll das Vertrauen zwischen Arzt/Ärztin und Patient*in stärken. Grundsätzlich. Aber wann dürfen Mediziner*innen über ihre Patient*innen oder "Fälle" reden – und wann drohen Konsequenzen beim Bruch der Schweigepflicht? Antworten vom Hamburger Medizinrechtler Dr. Ulrich Steffen. Er vertritt auch Ärzt*innen, die wegen einer Schweigepflichtverletzungen in Gesetzeskonflikt gerieten.
Die ärztliche Schweigepflicht gab es schon im antiken Rom. Auch im Eid des Hippokrates ist sie verankert. Welcher Sinn steht dahinter?
Die ärztliche Schweigepflicht oder das Arztgeheimnis soll Patient*innen schützen und das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt/Ärztin oder Psychotherapeut*in und Patient*in stärken. Ein Patient oder eine Patientin kann ihm oder ihr also alles erzählen, ohne dass Folgen für Versicherungen, Pensionen oder gar den Arbeitsplatz fürchten zu müssen.
Welche Strafe erwartet Arzt oder Ärztin, wenn er oder sie unbefugt ein fremdes Geheimnis verrät?
Er oder sie muss mit einer Geldstrafe von bis zu 365 Tagessätzen oder einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr rechnen. Hat er oder sie sich durch die Weitegabe sogar bereichert - also beispielsweise Schmiergeld für Informationen kassiert - kann sich die Strafe verdoppeln.
Das betrifft auch Informationen, die er nebenbei mitbekommt, beispielsweise bei einem Hausbesuch. Ihm/ihr drohen übrigens nicht nur strafrechtliche Konsequenzen: Sie/Er muss auch mit berufsrechtlichen Folgen wie Geldbuße, Rüge, Verweis oder als Vertragsarzt/Vertragsärztin der gesetzlichen Krankenkassen gar mit einem Ruhen der vertragsärztlichen Zulassung rechnen.
Wie oft passiert so etwas in Deutschland?
Diese Verfahren sind sehr selten. "Ärzt*innensachen" machen ohnehin nur rund ein Prozent aller Ermittlungsverfahren aus. Und wiederum nur ein Bruchteil davon sind Ermittlungen wegen des Schweigepflicht-Paragrafen 203.
Darf ein Arzt/eine Ärztin denn mit Kollegen über die medizinischen Belange eines Patienten/einer Patientin sprechen?
In der Regel nur mit Ärzt*innen, die den Patienten/die Patientin nach- oder mitbehandeln. Kolleg*innen untereinander dürfen sich ansonsten nur über allgemein gehaltene Sachverhalte austauschen, bei denen der Patient/die Patientin anonym bleibt.
Wie sieht es Angehörigen gegenüber aus? Der Ehemann, die Ehefrau, die Kinder, die Eltern?
Solange der Patient/die Patientin den Behandelnden nicht von der Schweigepflicht entbindet, darf er/sie auch gegenüber den Angehörigen des Patienten/der Patientin nicht reden. Das gilt für den 80-jährigen Vater, der nicht möchte, dass seine Kinder von seinem Prostatakrebs erfahren, genauso wie für die 16-Jährige, die schwanger ist.
Die Schweigepflicht gilt dabei über den Tod des Patienten hinaus.
Ärztin oder Arzt dürfen also gar nichts erzählen?
Nein, in der Regel nicht. Hat ein Behandelnder allerdings das Gefühl, dass das, was er weiß, wichtiger ist als seine Pflicht zu schweigen, kann er handeln.
Um bei der 16-Jährigen zu bleiben: Vielleicht hat sie eine Eileiter-Schwangerschaft und der Arzt/die Ärztin hat das starke Gefühl, sie kann die Situation allein nicht bewältigen - dann könnte er/sie die Eltern informieren. Bevor er/sie das tut, würde er/sie die junge Frau allerdings zunächst eindringlich bitten, sich selbst ihren Eltern anzuvertrauen.
Mancher Arzt und manche Ärztin wird von täglichen Begegnungen - und damit auch von Patient*innen - nach Feierabend zu Hause, im Privaten, erzählen ...
Das mag sein. Allerdings riskieren *innen die gleichen beruflichen und rechtlichen Konsequenzen, wenn sie zu Hause von ihren Fällen aus der Praxis berichten.
Berufliche Belastungen, bei denen es um intime und brisante Details zu Patient*innen geht, gehören in die Supervision, nicht an den häuslichen Küchentisch. Und auch der Supervisor hat eine Schweigepflicht.
Nehmen wir an, die beste Freundin einer krebskranken alleinstehenden Frau will wissen, wie es um sie steht - auch weil diese sich schwer damit tut, die Krankheit zu akzeptieren und wenig darüber spricht. Wird der Arzt der Freundin auf Nachfrage davon erzählen?
Auf keinen Fall - sonst macht er sich strafbar. Einzige Ausnahme: Die Freundin ist die gesetzlich bestellte Vertreterin, ist mit der Gesundheitsfürsorge betraut und die krebskranke Frau ist nicht mehr in der Lage, sich selbst zu kümmern. Der Arzt oder die Klinik wird sie bitten, ihren Betreuerausweis vorzulegen, diesen kopieren und zu den Akten legen.
Wie steht es denn um ansteckende Infektionskrankheiten? Zum Beispiel gerade auch COVID-19?
Hier müssen wir unterscheiden: Es gibt zum einen meldepflichtige Erkrankungen, die Ärtz*innen also dem Gesundheitsamt melden müssen. Dazu gehören z.B. Masern, Diphterie oder neuerdings auch COVID-19.
Andererseits gibt es beispielsweise Erkrankungen wie HIV oder andere sexuell übertragbare Erkrankungen. Über diese müsste die ärztin/der Arzt den oder die Partner*in unterrichten, wenn sie/er das Gefühl hat, dass z.B. ein Patient seine Medikamente nicht korrekt einnimmt. Oder der Patient/die Patientin führt ein sehr ausschweifendes Sexualleben, ohne dafür Sorge zu tragen, dass sich andere Menschen nicht bei ihm/ihr anstecken. Allerdings würde der Behandelnde auch hier zunächst an die Vernunft des Patienten/der Patientin appellieren.
Wann darf ein Arzt/eine Ärztin offiziell sein/ihr Schweigen brechen?
Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen sind verpflichtet zu reden, wenn sie damit "besonders schwere Verbrechen" verhindern, also wenn sie Hinweise auf Anschläge, Attentate oder Amokläufe bemerken.
Ein weiterer Grund ist, wenn Gefahr für Leib und Leben von Menschen besteht - auch das der Patient*innen selbst. Melden Ärzte*innen solche Sachverhalte nicht, machen sie sich strafbar.
Ist die Einschätzung von Arzt oder Ärztin falsch, macht er oder sie sich auch mit besten Absichten also strafbar. Wie konkret müssen die Hinweise denn sein?
Schon sehr konkret. Wenn zum Beispiel ein Patient seinem Arzt oder der Psychotherapeutin davon berichtet, dass er am nächsten Tag einen Anschlag auf den Flughafen oder Bahnhof plant, muss der oder die das den Behörden mitteilen. Der Behandelnde hat kein Recht dazu, nur Ahnungen gegenüber Dritten zu äußern.
Und wie sieht es bei der Aufklärung von Straftaten aus?
Ärzte*innen dürfen das Arztgeheimnis nicht brechen, um bei der Aufklärung einer Straftat mitzuhelfen. Sie können sich auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht berufen, sollten aus diesem Grund Patient*innendaten verlangt werden. Die ermittelnden Behörden bräuchten eine richterliche oder staatsanwaltliche Anordnung, um an die Akten zu kommen.
Und wie sieht es aus bei Anfragen von Polizei und Gerichten, wenn es beispielsweise darum geht, vermisste Personen oder Unfallopfer zu suchen?
Krankenhäuser müssen ein Verzeichnis über die bei ihnen aufgenommenen Kranken führen. Die zuständige Behörde darf Auskunft aus diesem Verzeichnis verlangen, um Gefahren abzuwehren, Straftaten zu verfolgen oder Vermisste aufzufinden.
Ein besonders schlimmer Verdacht ist ja der auf Kindesmissbrauch. Wie verhält sich ein Arzt oder eine Ärztin richtig, wenn Kinder immer wieder blaue Flecken und eindeutige Verletzungen haben?
Das Wohl des Kindes und damit die Informationspflicht wiegen klar mehr als die Geheimhaltungspflicht des Arztes/der Ärztin! Immer wenn es um den Schaden einer Person geht, muss die Ärztin oder der Arzt den Verdacht melden – der Polizei und im Falle von Minderjährigen auch dem Jugendamt.
Können Sie Beispiele nennen, wo für Ärzte*innen Stolperfallen bezüglich der Schweigepflicht lauern?
Die Ärzte*innen von heute nehmen die Schweigepflicht sehr ernst. Da hat sich in den vergangenen Jahren viel getan. Stolperfallen gibt es aber natürlich trotzdem:
- Aufpassen müssen Ärzte*innen beispielsweise, wenn sie auf Arztbewertungsportalen auf Einträge von Patient*innen so antworten, dass sich der Patient/die Patientin dadurch eindeutig identifizieren lässt.
- Sie müssen IT-Fachleute, die sie in ihrer Praxis unterstützen, über deren zwingende Schweigepflicht aufklären.
- Und sie sollten es tunlichst sein lassen, auf dem Familien-Anrufbeantworter Befunde und Diagnosen zu hinterlassen.
Betrifft die ärztliche Schweigepflicht nur Ärzt*innen oder muss z.B. auch die Sprechstundenhilfe ihren Mund halten?
Die ärztliche Schweigepflicht betrifft den Arzt oder die Ärztin. Aber auch die Menschen, die ihm/ihr bei der Praxisarbeit helfen, haben eine sogenannte abgeleitete Schweigepflicht "über alle ihnen in Ausübung ihres Berufes anvertrauten oder bekannt gewordenen Geheimnisse". Also weder Sprechstundenhilfe noch Pfleger oder Schwester dürfen mit anderen über Patient*innen sprechen oder Daten weitergeben.
Was ist beispielsweise, wenn ein Patient Drogen nimmt?
Die ärztliche Schweigepflicht gilt auch bei Medikamentenmissbrauch, bei Drogen- oder Alkoholproblemen, die die Ärztin oder der Arzt behandelt oder zufällig entdeckt.
Nun gibt es ja verschiedene Interessengruppen, die schon von Natur aus gern mehr Daten über Patient*innen hätten, z. B. Versicherungen. Dürfen private Krankenversicherungen vom Patienten/der Patientin Informationen mit dem Hinweis auf eine Schweigerechtsentbindung fordern?
Grundsätzlich ja. Allerdings sollte eine Schweigerechtsentbindung immer aktuell sein. Diese sollte sich der Arzt/die Ärztin auf jeden Fall von der Versicherung zeigen lassen. Im besten Fall ruft er/sie zusätzlich den Patienten/die Patientin an und informiert ihn/sie über die Anfrage.
Wie bewerten Sie die aktuelle Regelung zur ärztlichen Schweigepflicht? Ist sie zu streng oder zu lax?
Es wird nur selten in Bezug auf die ärztliche Schweigepflicht ermittelt. Daher denke ich, dass unser Gesetz völlig ausreichend ist und die Patient*innen gut schützt sind.
Dr. Steffen, vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Constanze Löffler.