Care Klima-Index 2019 - Pflege in Deutschland: Viel Verantwortung, wenig Geld
Wie steht es aktuell mit der Pflege in Deutschland? Was ist gut, was muss sich verbessern und wo soll es in Zukunft hingehen? Der Care Klima-Index 2019 zeichnet ein Stimmungsbild zu diesen Fragen – aus der Sicht von Pflegefachkräften, Ärztinnen sowie Kostenträgern und Verbänden. Franz Wagner, Präsident des Deutschen Pflegerates, hat die Umfrage aus der Perspektive der Pflege für rbb Praxis eingeordnet.
Um ein Stimmungsbild der deutschen Pflegelandschaft zeichnen zu können, sind über 1.500 Fachpflegerinnen und -pfleger, zu Pflegende, deren Angehörige, Ärztinnen und Ärzte, Apothekerinnen und Apotheker, sowie Vertreterinnen und Vertreter aus Industrie, von Kostenträgern, Verbänden und Kommunen befragt worden.
Der Care Klima-Index 2019 ist eine Umfrage des Befragungsinstitus Psyma Health & Care in Kooperation mit dem Deutschen Pflegerat und der Deutschen Pflegetag Servicegesellschaft.
Herr Wagner, lassen Sie uns über den Status Quo und die Zukunft der Pflege in Deutschland sprechen. Welche neue Erkenntnis hat Ihnen der neue Care Klima-Index in dieser Hinsicht gebracht?
Als Präsident des Deutschen Pflegerates schaue ich natürlich vor allem aus der Perspektive der Betroffenen Pflegefachpersonen auf die Umfrage. 59% der Befragten halten die Qualität der Versorgung zukünftig für nicht gesichert. Das ist eine erschreckende Zahl.
Im Endeffekt schreibt sich fort, was ich in den Vorjahren schon gesehen habe: Die Situation ist sehr, sehr angespannt. Es gibt eine hohe Belastung bis hin zur Überforderung bei Pflegefachpersonen.
Der Care Klima-Index hat sich um zwei Punkte von 95,3 in 2018 auf 97,3 in 2019 verbessert...
Die Verbesserung der Stimmung im Care Klima-Index steht für den Deutschen Pflegerat in gewissem Widerspruch zur von uns wahrgenommenen Lage der Pflege. Ohne die sehr pessimistischen Befragungsergebnisse zur wirtschaftliche Entwicklung der Branche wäre der Anstieg sogar noch größer. Insgesamt bleibt aber der Wert nach wie vor unter dem von 2017.
Haben Pflegefachkräfte das Gefühl, dass die Politik genug tut, um sie zu entlasten?
Es herrscht immer noch eine große Skepsis gegenüber der Politik. Der Wert hat sich seit 2017 zwar kontinuierlich verbessert, aber aktuell sagen immer noch 82 Prozent der Menschen, die in der Pflege arbeiten, dass der Stellenwert der Pflege in der Politik niedriger sei, als für andere gesellschaftlich relevante Themen.
Überrascht Sie das?
Das ist vielleicht ein bisschen überraschend, weil wir ja schon den Eindruck haben, dass politisch sehr viel unternommen wird - dass das Thema auch beim jetzigen Bundesgesundheitsminister angekommen ist. Auch in den Ländern befasst man sich aktuell sehr mit dem Thema. Ich glaube, der entscheidende Punkt ist, dass die AltenpflegerIn oder Gesundheits- und KrankenpflegerIn vor Ort von all dem noch nichts spürt.
Was müsste ganz konkret passieren, damit die Altenpfleger und andere Fachpflegekräfte wirklich eine Entlastung spüren?
Die Arbeitsbedingungen müssten sich dramatisch verbessern. Wir haben eine hohe Belastung, das heißt, dass wir eine andere Personalausstattung brauchen. Sprich: Personalschlüssel, die deutlich besser als heute darauf reagieren, was für einen Versorgungsbedarf die Menschen haben.
Dafür muss man natürlich geeignete Leute finden. Aktuell können wir sogar die – aus unserer Sicht zu wenigen – vorhandenen Stellen gar nicht schnell genug besetzt kriegen, weil immer weniger Arbeitskräfte in der Pflege arbeiten wollen.
Wenn ich als Pflegefachkraft etwas verkehrt mache, ist der Mensch möglicherweise dauerhaft geschädigt, im schlimmsten Fall kann er sterben. Es gibt in der Pflege ein riesiges Missverhältnis zwischen der Verantwortung, körperlichen und seelischen Belastungen und dem, was man bekommt an Entlohnung und Wertschätzung.
Um das zu ändern tritt in diesem neuen Jahr 2020 nun das Pflegeberufegesetz (PflBG) in Kraft. Es soll helfen, die Qualität der Pflegeausbildung zu verbessern und das Berufsbild insgesamt attraktiver zu machen. Ist das eine gute Reform?
Wie jedes Gesetz ist es auch ein Kompromiss. Grundsätzlich ist es eine gute Reform: Es werden im Kern drei bisher getrennte Berufe zusammengeführt, in einen neuen Pflegeberuf, der dann die Leute in die Lage versetzt, in unterschiedlichsten Bereichen eingesetzt zu werden.
Wir setzen in der neuen Ausbildung mehr auf Kompetenzen, die Inhalte sind mutig modernisiert worden und wir haben jetzt auch regelhaft die Möglichkeiten eine Ausbildung als Studium anzubieten.
Was erhoffen Sie sich von diesen Änderungen der Ausbildung?
Das sind gravierende Verbesserungen und wir erwarten daher, dass sich dadurch die Pflege anders aufstellt im Wettbewerb von Ausbildungen. Allerdings gibt es in fast allen Branchen einen Mangel an Fachkräften. Da kommt ins Spiel, dass die beste Ausbildung keinen Erfolg bringt, wenn wir es nicht schaffen, parallel dazu die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Die Auszubildenden oder auch die Studierenden erfahren schon während der Ausbildung, wie die realen Arbeitsbedingungen sind – die sind aber nicht sonderlich attraktiv.
Was muss sich noch ändern, um Pflege zu einem attraktiven Berufsbild zu machen?
Man muss noch einmal genauer hinschauen: Was können die Pflegefachpersonen alles? Ziemlich oft sind sie auch qualitativ unterfordert. Sie müssen viel zu viel, aber möglicherweise auch die falschen Sachen tun.
Die Führung ist nicht immer optimal: Wie verhalten sich die Vorgesetzten? Wie verhalten sich die Träger? Wie steht es mit der Wertschätzung? Tut man überhaupt etwas, um Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu binden und Ihnen die Arbeit attraktiv zu machen?
Wir müssen auch ans Gehalt ran: Da gibt es riesige Unterschiede, ebenso ein großes Gefälle zwischen Krankenhaus und Langzeitpflege und auch zwischen den Regionen.
All das sind Weichenstellungen. Wir sagen: Es ist nicht die Politik allein, die etwas tun muss. Auch alle anderen Akteure müssen sich auf den Weg machen und es ist höchste Eisenbahn.
Sie haben eben schon die Träger angesprochen. Viele Träger, beispielsweise für Pflegeheime oder ambulante Pflege, sind privat und der Umfrage des Care Klima-Index zufolge ist die wirtschaftliche Situation schlecht und weiter absteigend. Welche Gründe gibt es dafür?
Ich glaube ein ganz großer Faktor ist der Personalmangel in der Pflege. Wenn mir mein wichtigstes Betriebsmittel ausgeht – und in der Pflege sind das die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – kann ich natürlich nicht wachsen.
In Krankenhäusern gibt es das zusätzliche Problem, dass die Landesregierungen ihren Verpflichtungen seit Jahren nicht nachkommen, Investitionen zu fördern. Daher wird Geld aus dem laufenden Betrieb genommen.
Auch in der Langzeitpflege könnten Innovationen, wie die
Digitalisierung der Dokumentation, die Arbeit sehr erleichtern. Da gibt
es jetzt Förderprogramme, insgesamt gibt es jedoch für größere
Innovationen zu wenig Geld.
Leider gibt es auch einige
internationale Investorengruppen, die ganze Pflegeheimketten aufkaufen
und gar nicht daran interessiert sind, etwas zu verbessern, sondern die
Ausgaben weiter senken und dann die Immobilie weiterverkaufen, um eine
möglichst hohe Gewinnmaximierung zu haben – ohne Rücksicht auf die
Versorgung.
Mit Blick auf den Care Klima-Index: Was erhoffen sich die Pflegefachkräfte von Innovationen im Pflegebereich?
Die höchste Zustimmung bestand bei der Erweiterung der Aufgaben, die das Pflegepersonal übernimmt und erst dann kamen in dieser vorgegebenen Auswahl mehr technische Lösungen.
Ich glaube, wir werden alles benötigen. Wir stehen vor einer riesigen demografischen Umwälzung. Da müssen wir schauen, wie auch die Digitalisierung, Künstliche Intelligenz und Robotik dabei helfen können. Oder auch die einfachere technische Dinge, die das Leben zu Hause einfacher machen: von einem Notruf, den ich am Handgelenk trage über eine Sensormatte bis zu einem Alarm der ertönt, wenn ich vergesse, den Herd abzustellen.
Technische Innovationen in der Pflege werden der Umfrage zufolge teils skeptisch vom Pflegefachpersonal betrachtet. Was muss passieren, damit sich das ändert?
Da ist es ganz entscheidend, schon in der Entwicklung die Menschen mit einzubeziehen, die damit umgehen. Also nicht nur Technikerinnen, Entwickler und Ingenieure. Sondern auch die Pflegebedürftigen, potenzielle Patienten und auch die Menschen, die in der Pflege arbeiten. Nur wenn man die mit einbezieht und gemeinsam Lösungen findet, entwickelt man etwas, das auch gewünscht und gebraucht wird.
Vielen Dank für Ihre Einordnungen und den kritisch-konstruktiven Blick auf die deutsche Pflegelandschaft. Gibt es noch etwas, das Sie unseren Leserinnen und Lesern mitgeben möchten?
Wir leben ja alle, als wären wir unsterblich und so, als würden wir nie pflegebedürftig oder krank werden. Die Realität und die Lebenserfahrung zeigt, dass es nicht so ist. Daher ist es wichtig, sich bereits dann Gedanken darüber zu machen, wie man es im Pflegefall haben möchte, solange man noch selbstständig und selbstbestimmt etwas regeln kann:
Wer soll Entscheidungen über lebensverlängernde Maßnahmen treffen dürfen? Wer soll eine Bankvollmacht bekommen? Wer kann mit dem Vermieter sprechen, wenn die Wohnung gekündigt werden muss, weil ich ins Pflegeheim umziehe? Da gibt es ganze Broschüren zur Patientenverfügung, die man durcharbeiten kann. Das ist glaube ich ein entscheidender Punkt, der dem Betroffenen dann später hilft, besser mit der Situation umzugehen, wenn sie dann eintritt.
Herr Wagner, ganz herzlichen Dank für Gespräch und Hausaufgaben!
Das Interview führte Ariane Böhm