Betrug im Gesundheitswesen - Millionenschäden durch gefälschte Rezepte und falsche Abrechnungen
Im Gesundheitsbereich wird immer mehr betrogen. Das zeigt ein Bericht des Spitzenverbandes der Krankenkassen. In den Jahren 2022 und 2023 ging es um mehr als 200 Millionen Euro.
- Hoher Schaden für die Krankenkassen durch Betrug im Gesundheitswesen
- In der Pflege höchste Zahl der Verdachtsfälle laut GKV-Bericht
- Höchster finanzieller Schaden im Bereich der Arznei- und Verbandmittel
- Verband fordert Studie, die das Dunkelfeld erforscht
Im Januar warnte die AOK Nordost die Öffentlichkeit vor gefälschten Rezepten für das Krebsmedikament Lonsurf. Online-Apotheken berechnen dafür über 3.200 Euro pro Schachtel - für Kriminelle ein lukrativer Markt, wenn sie das Medikament mit gefälschten Rezepten umsonst erhalten und weiterverkaufen können.
Auch die Abnehmspritze Ozempic ist heiß begehrt auf dem illegalen Arzneimittelmarkt. Kriminelle besorgen sich die Spritzen mit gefälschten Rezepten und verkaufen sie dann weiter. Die Kassen kostet das zwischen 80 und 217 Euro – je nach Dosis, für eine Abnehmspritze. Zwei Beispiele, die zeigen, wie die gesetzlichen Krankenkassen betrogen werden.
Laut dem in Berlin ansässigen Spitzenverband Bund der Krankenkassen (GKV) gelingt es Kriminellen immer häufiger, gefälschte Rezepte für teure Medikamente einzulösen, die die Kassen dann bezahlen müssen – sofern der Betrug nicht auffliegt. Zu den Medikamenten gehören beispielweise Schmerzmittel wie Tilidin und Fentanyl, die in der Drogenszene nachgefragt werden.
Insgesamt stellten die Kassen in den Jahren 2022 und 2023 Betrugshandlungen im Umfang von gut 200 Millionen Euro fest, wie es im aktuellen GKV-Bericht heißt. Dieser wird am Freitag veröffentlicht. Es sei die höchste Summe seit der regelmäßigen Erfassung im Jahr 2008, heißt es darin.
Insgesamt wurden jedoch auch 92 Millionen Euro von den Krankenkassen "gesichert" und können wieder für das Gesundheitswesen eingesetzt werden. Laut Bericht ist das ebenfalls der höchste Wert seit Beginn der gemeinsamen Schadenserfassung aller Kassen.
Die Krankenkassen ermitteln selbst in den Verdachtsfällen und schalten teils auch Behörden wie die Staatsanwaltschaft oder den Zoll ein. Oft fällt Fehlverhalten auch durch Routine-Kontrollen auf. Als "gesichert" gilt Geld, dass die Kassen beispielsweise nach einer Klage zurückerhalten haben oder es absehbar ist, dass sie es wiederbekommen. Wird Betrug aufgedeckt, fordern die Kassen auch von den Apotheken Schadensersatz, denen die gefälschten Rezepte nicht aufgefallen sind.
Millionenschäden durch gefälschte Papierrezepte
Der GKV zieht in seinem Bericht der "Stelle zur Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen" generell eine düstere Bilanz: "Dreistellige Millionenbeträge, die durch Fehlverhalten im Gesundheitswesen verlorengehen, fehlen zugleich für die medizinische und pflegerische Versorgung der Menschen", sagt Martin Krasney, Vorstand des GKV-Spitzenverbandes mit Sitz in Berlin.
Der Bericht stützt sich auf Hinweise von den 94 Mitgliedskassen sowie von Whistleblowern, die im Gesundheitswesen tätig sind. Insgesamt gingen im Berichtszeitraum rund 50.000 Hinweise ein, die überprüft wurden. Das ist eine Steigerung um mehr als 20 Prozent im Vergleich zum vorherigen Berichtszeitraum 2021/2020.
Grundsätzlich sind alle Leistungsbereiche der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung betroffen. Abgerechnete, aber nicht erbrachte Leistungen, sowie erbrachte Leistungen ohne vertragsgemäße Qualifikation und Urkundenfälschung kämen besonders häufig vor, heißt es in dem GKV-Bericht. Die verfolgten Fälle werden dem Verband zufolge immer größer und komplexer: Man habe es zunehmend mit vernetzten Strukturen und mehreren Beteiligten zu tun, heißt es.
Mehr Sicherstellungen und höhere Schadenssumme
Der GKV-Bericht schildert einen Fall, in dem Rezepte in einer Apotheke eingelöst wurden, die sowohl vom Wohnort der Versicherten als auch vom Sitz der verschreibenden Arztpraxis mehrere hundert Kilometer entfernt lag. Laut Bericht ging es um einen dreistelligen Millionenbetrag. Vereinzelt sollen Rezepte eingelöst worden sein, die erst nach dem Tod der Versicherten ausgestellt worden waren.
Die Betrugshandlungen, allen voran mit gefälschten Papierrezepten, kosteten die Kassen im Bereich der Arznei- und Verbandsmittel fast 86 Millionen Euro. Vergleichsweise wenige Fälle würden dort - angesichts der Preise - hohe Schadenssummen verursachen. Nur knapp 37 Millionen Euro konnten gesichert und wieder für die Versorgung eingesetzt werden.
Die meisten Verdachtsfälle finden sich in der Pflege
Fast die Hälfte aller eingegangenen Hinweise betrafen Delikte im Bereich der Pflege. Dienstleister sollen etwa falsche Zeiten und mehr Leistungen, als tatsächlich erbracht worden waren, abgerechnet haben. Auch gefälschte Berufsurkunden und Patienten-Unterschriften führt der GKV als typisches Beispiel für Betrug in dieser Branche an.
Die aufgedeckten Betrügereien liegen in diesem Bereich bei über 62 Millionen Euro – nur 21 Millionen Euro konnten gesichert werden.
Kriminelle Netzwerke gründen Scheinfirmen
Laut GKV wird ein weiteres professionelles Betrugsmuster zunehmend sichtbar: die Gründung sogenannter Scheinfirmen. Als Geschäftsführer dieser Unternehmen werden nach Informationen von rbb24-Recherche oft ahnungslose, suchtkranke Menschen aus Osteuropa eingesetzt. Die Firmen existieren aber nur auf dem Papier oder als Briefkästen.
Über diese Scheinunternehmen werden Menschen bei Kranken- und Sozialkassen angemeldet. Dabei handelt es sich allerdings um Personen, die oft gar nicht wirklich bei den Firmen beschäftigt werden. Ihre Entgeltabrechnungen, Gehaltszahlungen und Arbeitsverträge sind oft manipuliert oder gefälscht.
Das Ziel dieser Konstrukte ist laut GKV, Sozialleistungen "in einem möglichst großen Umfang" zu erschleichen. Kriminelle und Betrüger gelangen auf diese Weise nicht nur an aufwändige medizinische Leistungen, sondern auch an verschiedene Sozialleistungen: Sie lassen sich dann Krankengeld, Arbeitslosengeld I oder Bürgergeld auszahlen. Die Schäden betreffen somit oft mehrere Sozialversicherungsträger gleichzeitig. Laut GKV-Spitzenverband handelt es sich dabei längst nicht mehr um Einzelfälle: Die Täter gehen gezielt vor und sind zum Teil bandenmäßig organisiert.
Die geschädigten Kassen seien oft nicht in der Lage, den vollen Umfang des Fehlverhaltens zu erkennen, heißt es im Bericht. Der Vorstand des GKV Martin Krasney fordert deshalb eine Änderung des Sozialgesetzbuches, um Abrechnungsdaten zentral an einer Stelle zusammenzuführen: "Mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz könnten so endlich auch kriminelle Sachverhalte erkannt werden, die mit den bisherigen Möglichkeiten einer einzelnen Krankenkasse nicht aufgedeckt werden können."
GKV geht von großem Dunkelfeld aus
Internationale Studien schätzen den Schaden durch Abrechnungsbetrug und Korruption auf fünf bis zehn Prozent der Gesamtausgaben im Gesundheitswesen. In Deutschland wäre das ein zweistelliger Milliardenbetrag.
Der GKV-Spitzenverband geht ebenfalls von einer hohen Anzahl unentdeckter Fälle aus. Er weist jedoch darauf hin, dass in diesen internationalen Studien zwar Gesundheitssysteme mehrerer Länder untersucht worden seien, Deutschland aber nicht einbezogen wurde. Die Bundesregierung solle deswegen eine eigene Studie in Auftrag geben, in der das Dunkelfeld erforscht wird.
Besserer Schutz von Whistleblowern gefordert
Auch beim Gesetz zum Schutz von Hinweisgebern sieht der GKV Nachbesserungsbedarf. Weniger als 20 Prozent der eingegangenen Hinweise kamen von Whistleblowern, die im Gesundheitswesen tätig sind. Dabei handelt es sich etwa um Mitarbeiter, die einen Verdacht auf Betrug in ihrem eigenen Unternehmen bei den Kassen gemeldet haben. Doch das Hinweisgeberschutzgesetz schützt nicht alle Whistleblower: Bei den Meldungen muss es sich entweder um eine Straftat oder um eine Ordnungswidrigkeit handeln, andernfalls drohen den Informanten arbeitsrechtliche Konsequenzen.
Das Gesetz greife deshalb zu kurz, findet der GKV-Spitzenverband. Denn 90 Prozent aller verfolgten Neufälle von Fehlverhalten im Gesundheitswesen betreffen strafloses, aber dennoch rechtswidriges Verhalten, wie Verstöße gegen sozialgesetzliche oder vertragliche Verbote.
Alle zwei Jahre wertet der GKV-Spitzenverband die Daten seiner 94 Mitgliedskassen zum Fehlverhalten im Gesundheitswesen aus.
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