Sendung vom 04.01.1966 (ZDF) - Adenauer, Konrad
Günter Gaus im Gespräch mit Konrad Adenauer
Ich habe mich nie beirren lassen
Konrad Adenauer, geboren am 5. Januar 1876 in Köln, gestorben am 19. April 1967 in Rhöndorf.
Sohn des Kanzleirats Konrad Adenauer. Studium der Rechtswissenschaft und der Volkswirtschaft. 1906 Beigeordneter der Stadt Köln und Mitglied der Zentrumspartei. 1917 bis zum 12. März 1933 Oberbürgermeister von Köln.
Mehrfach war er als Kandidat für das Amt des Reichskanzlers genannt worden, ehe ihn die Nazis absetzten. Von 1920 bis 1933 Mitglied und Präsident des Preußischen Staatsrates. Rückzug von der Politik. Nach dem 20. Juli 1944 vorübergehend verhaftet.
Nach 1945 Gründungsmitglied der CDU. Im Mai 1945 zum Oberbürgermeister von Köln ernannt, im Oktober 1945 „wegen Untätigkeit“ entlassen. 1948 Vorsitzender des Parlamentarischen Rates – damit einer der „Väter des Grundgesetzes“ und der „Kanzlerdemokratie“.
Am 15. September 1949 zum ersten Bundeskanzler gewählt, 1963 von Ludwig Erhard abgelöst. Konrad Adenauer gilt als der entschiedenste Verfechter der deutschen Wiederbewaffnung und des Beitritts zur NATO.
Forcierte die europäische Einigung als Antwort auf die US-amerikanische Entspannungspolitik (seit 1959/60).
Vorsitzender der CDU bis zu seinem 90. Lebensjahr 1966, danach Ehrenvorsitzender der Christlich-Demokratischen Union und Mitglied des Deutschen Bundestags bis zu seinem Ableben.
Das Gespräch wurde gesendet am 04.01.1966 kurz vor Adenauers 90. Geburtstag.
Gaus: Herr Dr. Adenauer, man hat Sie oft „Kanzler der einsamen Entschlüsse“ genannt; ein Beiname, den Sie sich gleich zu Anfang Ihrer Kanzlerschaft durch die Art Ihrer Verhandlungen mit den Hohen Kommissaren der drei westlichen Besatzungsmächte erwarben: Es waren Verhandlungen, die Sie von deutscher Seite weithin selbständig und sozusagen als Alleinvertreter der Westdeutschen führten. Halten Sie den Beinamen „Kanzler der einsamen Entschlüsse“ für zutreffend, oder lehnen Sie ihn ab?
Adenauer: Ich halte ihn nicht für zutreffend. Ich habe in allen wichtigen Fällen mich vorher der Zustimmung versichert, entweder des Parteivorstandes oder der Bundestagsfraktion oder auch des Bundestages. Allerdings, die Verhandlungen mit den Hohen Kommissaren musste ich allein führen. Die Herren wünschten nicht, dass so viele anwesend waren, und es wäre auch nicht gut gewesen. Es war gut, dass sie einem geschlossenen und entschlossenen Willen gegenüberstanden.
Gaus: Und Sie glauben, dass dieser geschlossene und entschlossene Wille sich eher herbeiführen ließ, weil Sie allein waren? Sind Sie ein Bundeskanzler gewesen, der, wann immer er in die Lage kam, allein entscheiden zu müssen, sich am sichersten fühlte?
Adenauer: Wenn ich in die Lage kam, mich allein entscheiden zu müssen, und die Überzeugung hatte, dass ich das Material, das zum Treffen einer Entscheidung nötig war, wirklich vor mir gehabt hatte, war ich ruhig im Treffen einer Alleinentscheidung.
Gaus: Die Charakterisierung also, Kanzler der einsamen Entschlüsse zu sein, hat Sie nie als Vorwurf berührt? Sie haben das mit Gelassenheit getragen?
Adenauer: Herr Gaus, Sie schreiben ja Bücher. Sind Sie da nicht ein Mann der einsamen Entschlüsse? Fragen Sie vorher Kollegen, was Sie schreiben sollen?
Gaus: Sie wollen den Schriftsteller mit dem Regierungschef in dieser Frage gleichsetzen?
Adenauer: Ja, oder mit irgend jemand anderem. Der Arzt, der Rechtsanwalt oder wer es auch immer ist, der muss auch seine Entschlüsse fassen.
Gaus: Und es hat für Sie nie eine Last bedeutet, Entschlüsse fassen zu müssen?
Adenauer: Nein.
Gaus: Herr Bundeskanzler, wie mussten Ihre Mitarbeiter beschaffen sein, welche Eigenschaften, welche Talente mussten sie vor allem haben, damit sie für den Bundeskanzler Adenauer die geeigneten Helfer waren?
Adenauer: Sie mussten natürlich klug sein und mussten fleißig sein, und sie mussten auch eine Meinung haben. Aber sie mussten sich anpassen können, denn alle wichtigen Sachen wurden im Kabinett vorgetragen. Und im Kabinett muss schließlich eine Meinung die des Kabinetts sein. Und dann haben alle sich dieser Meinung anzupassen.
Gaus: Hätten Sie einen Mitarbeiter, der sich auch am Ende nicht anpassen konnte, nicht gebrauchen können?
Adenauer: Wenn das wiederholt vorgekommen wäre, hätte ich ihn gebeten, doch auf seine Dienste verzichten zu können, denn schließlich muss – das ist eine der wesentlichen Aufgaben – der Bundeskanzler dafür sorgen, dass das Kabinett geschlossen ist.
Gaus: Man hat Sie gern, Herr Dr. Adenauer, den großen Vereinfachter der Politik genannt. Halten Sie diese Charakterisierung für lobend oder für abwertend?
Adenauer: Das halte ich für ein ganz großes Lob, denn in der Tat, man muss die Dinge auch so tief sehen, dass sie einfach sind. Wenn man nur an der Oberfläche der Dinge bleibt, sind sie nicht einfach; aber wenn man in die Tiefe sieht, dann sieht man das Wirkliche, und das ist immer einfach. Ob das angenehm ist, das ist eine andere Frage.
Gaus: Angenehm für wen?
Adenauer: Für den, der überlegt.
Gaus: Haben Sie selbst gelegentlich unter dieser Ihrer Vereinfachungsgabe gelitten, wenn das, was Sie dann erkannten, bitter und schmerzlich war?
Adenauer: Nein. Wenn ich nachdenke, wüsste ich Ihnen nicht zu sagen, warum ich darunter hätte leiden sollen. Man musste mit den Dingen als Kanzler umzugehen wissen, und je klarer und einfacher man sie sah, desto mehr Aussicht auf Erfolg hatte man, oder man ließ seine Finger davon.
Gaus: Haben Sie das Kanzleramt jemals als Last empfunden?
Adenauer: Das ist eine sehr nachdenklich stimmende Frage. – O ja, es waren auch oft bittere Enttäuschungen damit verbunden, und dann war man wirklich sehr niedergedrückt.
Gaus: Was war die bitterste Enttäuschung, die Sie in Ihrer Zeit als Regierungschef erlebt haben?
Adenauer: Die bitterste Enttäuschung und der größte Rückschlag für die gesamte Politik war nach meiner Meinung der Rückschlag in der Frage der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft. Wie Sie wissen, war der Vertrag in der französischen Kammer schließlich ohne Diskussion ad acta gelegt worden ...
Gaus: ... im Jahre 1954 ...
Adenauer: ... und das war ein sehr harter Schlag. Schuld daran trägt die französische Kammer. Aber Schuld daran trägt auch der Bundestag. Diese ganze Frage hat mehrere Jahre im Bundestag verbracht, es waren die größten Schwierigkeiten, man hatte auch den Bundespräsidenten Heuss dagegen eingenommen. Er wollte ein Verfassungsgutachten einholen. Und wenn Sie sich vorstellen, welchen Eindruck das auf der französischen Seite machen musste, wenn sie sah, dass auf der deutschen Seite solche Schwierigkeiten herrschten, wie sie zutage traten: dass sie dann schließlich der ganzen Sache nicht mehr rechten Glauben schenkte, muss man verstehen. Wenn Sie sich jetzt aber vorstellen, wie anders es in Europa gekommen wäre, wenn der Vertrag seinerzeit von allen Beteiligten angenommen worden wäre! Die Annexverträge zu dem Vertrag, die mit England und mit den Vereinigten Staaten abgeschlossen waren, waren lange ratifiziert, da schwebte es noch immer zwischen den Hauptbeteiligten – das waren Frankreich und Deutschland – und schließlich zerbrach das Ganze. Das war ein furchtbarer Schlag.
Gaus: Weil Sie der Meinung sind, dass durch das Scheitern der EVG die gesamte europäische Entwicklung eine Kehrtwendung erfahren hat? Ist das der Grund, warum es für Sie besonders bitter war?
Adenauer: Es waren ja zwei Probleme, um die es sich handelte: erstens die Wiederbewaffnung Deutschlands und zweitens einen ganz großen Schritt nach vorn in der Richtung einer Bildung Europas. Eden und Foster Dulles sind dann dafür eingetreten, dass wir in die NATO gekommen sind, und dem hat sich Frankreich dann auch gefügt, während ursprünglich Frankreich darauf bestehen wollte, dass wir überhaupt keine Waffen bekommen sollten. Und die Frage Europa, die europäische Entwicklung: Nun, in dem EVG-Vertrag waren ja alle die Fragen, um die man sich jetzt streitet seit Jahr und Tag, enthalten und wären gelöst gewesen.
Gaus: Herr Adenauer, Sie haben jetzt gesagt, was die bitterste Enttäuschung für Sie war während Ihrer Kanzlerzeit. Sagen Sie mir nun bitte, welche von den Entscheidungen, die getroffen worden sind, war für Sie die schwerste? Das Angebot der Bewaffnung der Bundesrepublik etwa oder die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Moskau?
Adenauer: Keine von den beiden Entscheidungen war irgendwie schwierig für mich.
Gaus: Ich stelle mir doch vor, dass die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Moskau für Sie eine sehr schwierige Entscheidung war, und ich bin überrascht, dass Sie sagen, sie sei nicht schwierig gewesen.
Adenauer: Ich bin damals nach Moskau hingefahren mit einer Delegation, bestehend aus Mitgliedern der Regierung und aus Mitgliedern des Bundestags. Und die Verhandlungen in Moskau waren zuerst sehr heftig. Chruschtschow war ein sehr temperamentvoller Mann. Aber wenn man mir eine Faust entgegenhielt, habe ich auch eine Faust entgegengehalten. Und schließlich war das Klima dort nicht schlecht. Dann war mir angeboten worden die Freigabe aller Gefangenen, die die Russen noch hatten. Die Russen behaupteten zuerst, sie hätten überhaupt keine Gefangenen mehr; was sie zurückgehalten hätten, seien wegen Kriegsverbrechen Verurteilte. Aber es sind dann später 38.000 geworden, die zurückgekommen sind. Und ich darf hier doch wohl eines sagen: Die Russen haben das mir gegebene Versprechen sehr korrekt eingehalten in der Freilassung der Gefangenen, außerordentlich korrekt und gewissenhaft.
Gaus: War also die Aufnahme diplomatischer Beziehungen der Preis, den Sie zahlen mussten für die Freigabe der Gefangenen, und ist Ihnen das schwergefallen?
Adenauer: Aber ich bitte Sie, wie kann man von Preis sprechen. Wenn man etwas haben will von einem Land, mit dem man keine diplomatischen Beziehungen unterhält, bekommt man doch sicher nichts. Und ich habe eigentlich gar nicht eingesehen, warum wir nicht die diplomatischen Beziehungen eingehen sollten.
Gaus: Sind seinerzeit alle Ihre Ratgeber dieser Meinung gewesen?
Adenauer: Nein, einige Mitglieder der Regierung, aber auch einige Parlamentarier waren anderer Meinung. Aber ich habe mich dadurch nicht beirren lassen.
Gaus: Ist das vielleicht ein einsamer Entschluss gewesen?
Adenauer: Nein, ich hatte ja einige Gefährten dabei. Aber es hätte ruhig ein einsamer Entschluss werden können.
Gaus: Sagen Sie mir bitte eines, Herr Dr. Adenauer: Bei allem politischen und gesellschaftlichen Wandel, den Sie in Ihrem langen Leben gesehen und mitgemacht haben – welche Prinzipien haben Sie über all die Jahre hinweg als die dauerhaftesten und wichtigsten bewahrt?
Adenauer: Sie werden vielleicht erstaunt sein über meine Antwort: Alle politischen Verhandlungen können nur zu einem fruchtbaren Ergebnis führen, wenn man sich gegenseitig vertraut. Man vertraut sich aber nur gegenseitig, wenn man den Gegner, den Vertragsgegner, den Verhandlungsgegner kennen gelernt hat als einen Mann, der ehrlich ist und wahrhaftig ist. Also nach meinen Erfahrungen ist Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit die Grundlage des Vertrauens, des gegenseitigen Vertrauens, und das gegenseitige Vertrauen ist wieder die Grundlage zu fruchtbaren Verhandlungen.
Gaus: Nun sagt man, dass ein Politiker nicht in allen Fällen immer der vollen Wahrheit die Ehre geben kann, Herr Dr. Adenauer. Und Sie selbst haben einmal von drei Arten der Wahrheit gesprochen. Wenn also das gegenseitige Vertrauen herzustellen für Sie das wichtigste Prinzip bei allem war, wie haben Sie das immer vereinbaren können mit den Tageserfordernissen der Politik? Hat Sie das manchmal beschwert?
Adenauer: Nun, ich muss Sie etwas korrigieren: Diese dreifache Art von Wahrheit habe nicht ich erfunden, sondern mein verstorbener Freund Robert Pferdmenges. Und als Scherz haben wir manchmal dann die Redewendung von ihm gebraucht. Nun werden Sie sagen, der Politiker kann nicht immer alles sagen; da haben Sie Recht. Aber das, was er sagt, muss wahr sein. Natürlich kann er nicht alles immer sagen; das ist so selbstverständlich, dass ich kein Wort dazu zu sagen brauche. Aber der Politiker soll in dem, was er sagt, ehrlich sein.
Gaus: Er soll nicht schwindeln, meinen Sie.
Adenauer: Er soll nicht schwindeln. Lügen haben kurze Beine.
Gaus: Notlügen sind erlaubt?
Adenauer: Notlügen gibt es dabei nicht. Man ist immer in Not und würde dabei immer lügen, wenn Notlügen erlaubt wären.
Gaus: Sie haben nie geschwindelt als Bundeskanzler vor der Öffentlichkeit? Es war nie nötig? Sie sind mit Verschweigen immer durchgekommen?
Adenauer: Mit Schweigen, nicht mit Verschweigen. Ich bitte doch festzuhalten, was da für ein Unterschied ist. In der Politik versteht jeder, wenn der Vertragspartner zu hören bekommt: Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich hierauf keine Antwort gebe.
Gaus: Ein großer Einschnitt im Leben Ihrer Generation war politisch und gesellschaftlich der Zusammenbruch des wilhelminischen Kaiserreichs 1918. Hat das für Sie viel bedeutet?
Adenauer: Ich war damals Oberbürgermeister von Köln, und ich sah und fühlte fortwährend, dass das ganze System schon seit einiger Zeit am Zusammenbrechen war. Wir waren in Köln. Köln war die nächste große Festung bei der Grenze, überfüllt mit Deserteuren. Und als nun der Zusammenbruch kam, da hatte ich alle Hände voll zu tun, damit Ruhe und Ordnung in der Stadt herrschten, so dass ich gar nicht dazu kam, lange Reflexionen anzustellen, ob Wilhelm II. richtig gehandelt habe oder nicht, als er nach Holland gegangen ist.
Gaus: Den gesellschaftlichen Wandel, der damit verbunden war im Laufe der nächsten Jahrzehnte, haben Sie im Großen und Ganzen gutgeheißen? Oder haben Sie die gesellschaftliche Ordnung vor 1918, die stärkere Bindung an gesellschaftliche Gruppen als sympathischer empfunden?
Adenauer: Sie gebrauchen den Ausdruck „gesellschaftliche Bindung“. Ich würde sagen: die Kastenbildung. Und Kastenbildung ist schlecht. Natürlich habe ich diese Entwicklung zur Demokratie hin außerordentlich begrüßt.
Gaus: Herr Dr. Adenauer, ich möchte Sie nun nach Ihrem Verhältnis zu einigen Menschen befragen, die in Ihrem politischen Leben eine besondere Rolle gespielt haben. Zunächst bitte: Worauf gründete sich, weit über die Politik hinaus, Ihr besonders gutes Verhältnis zu John Foster Dulles, dem amerikanischen Außenminister?
Adenauer: John Foster Dulles und mich verband schon nach relativ kurzer Zeit eine wirkliche Freundschaft. Ich glaube nicht, dass Dulles mich irgendwann einmal belogen hat, ebenso wenig wie ich ihn belogen habe Wir waren sehr offen miteinander. Aber das wichtigste war, dass auch seine Politik ebenso wie die meinige auf ethischer Grundlage beruhte, und daher fanden wir uns immer verhältnismäßig schnell und kamen auch über Gegensätze hinweg. Daraus entwickelte sich diese echte Freundschaft.
Gaus: Könnten Sie diese ethische Grundlage einmal skizzieren?
Adenauer: Das war die christliche Grundlage. John Foster Dulles war ein sehr christlich denkender Mensch. Ich hoffe, dass ich es auch war. Und so fanden wir uns leicht.
Gaus: Sie haben Dulles Ihren Freund genannt und haben vorhin schon in unserem Gespräch einen anderen Freund erwähnt: den Bankier Robert Pferdmenges. Wie musste ein Mensch beschaffen sein, damit er Ihr Freund werden konnte, zum Beispiel Pferdmenges?
Adenauer: Ja, wie soll ich Ihnen eine solche Frage beantworten? Freundschaft im späteren Alter ist sehr selten, da entsteht sie sehr selten. Aber Freundschaft entsteht aus einer Harmonie in den beiderseitigen Überzeugungen und aus dem Vertrauen, das man gewinnt. Robert Pferdmenges war namentlich mir gegenüber immer ein sehr ehrlicher und zuverlässiger Mensch, und so wurden wir Freunde. Und ich habe auch dafür gesorgt, dass er in die Politik eingetreten ist. Er wollte zuerst nicht, hat mir dann nachgegeben. Und ich habe seinen klugen und guten Rat namentlich in den letzten Jahren häufig vermisst.
Gaus: Herr Dr. Adenauer, ist es nicht auch so: Ein Mann in Ihrer hohen Position wird von vielen Menschen um etwas gebeten, viele wollen etwas von ihm; und war da nicht Pferdmenges beispielsweise jemand, der persönlich nichts von Ihnen wollte? Ist das nicht die Voraussetzung für Sie gewesen, Freundschaften zu schließen?
Adenauer: Pferdmenges hat für sich jedenfalls nie etwas von mir gewollt. Wenn er sonstige Wünsche hatte oder Ratschläge, dann waren diese Ratschläge wirklich immer begründet und gut fundiert und wurden auch so von ihm entwickelt.
Gaus: muss nicht ein Mensch in Ihrer Position zu einem Menschenverächter werden, wenn er die vielen sieht, die sich um ihn drängen, die etwas werden wollen, die etwas haben wollen?
Adenauer: Nun, ich würde den Ausdruck „Menschenverächter“ nicht gebrauchen. Aber natürlich, dass man die Schwächen der Menschen, mit denen sie nun mal behaftet sind, als Kalkül bei allen Überlegungen einschaltet, das ist wohl klar.
Gaus: Und das haben Sie getan?
Adenauer: Das habe ich getan.
Gaus: Darf ich nach einem weiteren Mann fragen, mit dem Sie besonders verbunden waren, wenn auch in Gegnerschaft? Was bestimmte Ihr Verhältnis zu Kurt Schumacher, dem ersten Nachkriegsvorsitzenden der SPD?
Adenauer: Man kann das sehr schwer Verhältnis nennen. Wir waren Gegner. Und diese Gegnerschaft erwuchs nicht allein aus entgegengesetzten Anschauungen, sondern sie erwuchs auch daraus, dass Herr Dr. Schumacher nicht einsehen konnte, dass die Sozialdemokratie nicht die größte Partei geworden war. Ich erinnere mich, dass uns zuerst zusammengebracht hat der spätere Ministerpräsident von Niedersachsen ...
Gaus: Hinrich Kopf ...
Adenauer: ... und zwar im Zonenbeirat Hamburg. Schumacher und ich, von Kopf dazu veranlasst, setzten uns zusammen und tauschten unsere Meinungen aus, über wichtige Dinge natürlich. Und zum Schluss sagte Herr Schumacher: Ich freue mich sehr, dass wir übereinstimmen, ich habe jetzt noch etwas. Sie sind eine sehr junge Partei, und wir sind eine sehr alte Partei, und wir sind eine sehr große Partei. Sie werden doch also darin beipflichten, dass wir die Führung haben müssten. Ich habe ihm darauf geantwortet: Herr Dr. Schumacher, dass Sie eine sehr alte Partei sind, weiß ich, dass Sie eine sehr große Partei sind, weiß ich, ob wir nicht größer sind, darüber wollen wir uns nach der ersten Wahl einmal aussprechen. Das hat Herr Schumacher mir sehr übelgenommen, zumal weil die erste Wahl danach zeigte, dass wir stärker waren als die SPD.
Gaus: Und Sie meinen, dies habe verhindert, dass Sie zu dem Führer der zweitstärksten Partei in ein rechtes Verhältnis kamen? Haben Sie das beklagt?
Adenauer: Er war ein sehr subjektiver Mann. Er hat auch, glaube ich, schwer körperlich zu leiden gehabt. Und er war – Sie werden erstaunt sein, wenn ich das sage – ein Nationalist, und das war ich nicht.
Gaus: War dies eine prinzipielle Schranke?
Adenauer: Eine ganz prinzipielle Schranke, jawohl.
Gaus: Sagen Sie mir bitte: Wie charakterisieren Sie den französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle? Was ist er für ein Mensch nach Ihren Eindrücken?
Adenauer: Herrn Charles de Gaulle habe ich in Colombey-les-deux-Eglises besucht auf seine Einladung hin, nachdem ich vorher seine Einladung, nach Paris zu ihm zu kommen, abgelehnt hatte, da ich als Vertreter eines besiegten Volkes ihn nicht in Paris aufsuchen könnte. Wir sind dann vierundzwanzig Stunden ganz allein zusammengeblieben, haben uns – nicht nach einem bestimmten Programm – über alle möglichen politischen Fragen unterhalten. Und de Gaulle hat eine ausgezeichnete Bibliothek, ich habe sie mir angesehen in Colombey-les-deux-Eglises. Er ist ein sehr kluger Mann, ist ein sehr weitblickender Mann und ein sehr erfahrener Mann. Ich habe also mit Herrn de Gaulle die denkbar besten Erfahrungen gemacht.
Gaus: Kann er in die Gefahr geraten, einem politischen Phantom nachzulaufen? Ist er ein Realist nach Ihren Erfahrungen?
Adenauer: Herr de Gaulle ist durchaus ein Realist, sogar sehr realistisch.
Gaus: Herr Adenauer, ihr politisches Lebensziel ist die Versöhnung Deutschlands und Frankreichs und, wie Sie oft betont haben, die Versöhnung zwischen dem deutschen und dem jüdischen Volk gewesen. Was hat Sie veranlasst, diese beiden Aufgaben als vorrangig zu behandeln, und wie glauben Sie, dass im Hinblick auf diese beiden Aufgaben die Zukunft aussieht?
Adenauer: Ich war und ich bin der Auffassung, dass ohne Lösung dieser beiden Aufgaben die Zukunft für das deutsche Volk ganz außerordentlich schwer wird. Frankreich und Deutschland sind Nachbarn, und wir werden immer Nachbarn bleiben. Wir haben Krieg gegeneinander geführt. Ich habe auf einem Schlachtfeld gestanden, wo Gräber von französischen und deutschen Soldaten aus dem Kriege 1870/71, aus dem Kriege1914-18 und aus dem letzten großen Krieg sind. Und wir beide haben dann den Vorbeimarsch abgenommen.
Gaus: De Gaulle und Sie?
Adenauer: De Gaulle und ich. Wir beide haben den Vorbeimarsch abgenommen, der französischen Truppen und der deutschen Truppen. Das hat auf mich einen ungewöhnlich tiefen Eindruck gemacht. Das war symbolisch für das Ganze. Wir werden dasselbe Schicksal haben. Wir haben, wie ich eben schon sagte, jahrelang Krieg geführt. Das muss vorbei sein, aber nicht nur das muss vorbei sein, wir müssen auch echte und wahre Freunde werden, die zusammen Politik machen. Denn gegenüber der ungeheuren Macht, die Sowjetrussland, das doch bis mitten in Deutschland steht, auf das ganze westliche Europa ausübt, werden wir nicht bestehen bleiben, wenn wir nicht fest zusammenhalten. Und was nun die Judenfrage angeht – ich darf vielleicht Ihre Frage so verstehen: Warum haben Sie die Judenfrage als eine ungemein wichtige Frage immer bezeichnet und sich danach auch verhalten? Erstens aus einem Gefühl der Gerechtigkeit. Wir hatten den Juden so viel Unrecht getan, wir hatten solche Verbrechen an ihnen begangen, dass sie irgendwie gesühnt werden mussten oder wiedergutgemacht werden mussten, wenn wir überhaupt wieder Ansehen unter den Völkern der Erde gewinnen wollten. Und weiter: Die Macht der Juden auch heute noch, insbesondere in Amerika, soll man nicht unterschätzen. Und daher habe ich sehr überlegt und sehr bewusst – und das war von jeher meine Meinung – meine ganze Kraft daran gesetzt, so gut es ging, eine Versöhnung herbeizuführen zwischen dem jüdischen Volk und dem deutschen Volk.
Gaus: Wie beurteilen Sie die Entwicklung des deutsch-französischen Verhältnisses seit Ihrem Rücktritt als Bundeskanzler?
Adenauer: Ich will Ihnen Ihre Frage beantworten. Leider hat das deutsch-französische Verhältnis sich nicht so entwickelt, wie ich mir das so gedacht hatte. Aber wir dürfen nicht nachlassen. Wenn zwei, die an sich von Natur aus dazu bestimmt sind, zusammen zu handeln – und das sind, wie ich eben schon sagte, Frankreich und Deutschland –, nicht zusammenkommen, soll man den Fehler nicht bei einem suchen, sondern gewöhnlich sind alle beide mit schuld daran; und beide sollen sich überlegen, wie sie es besser machen könnten.
Gaus: Erlauben Sie mir eine letzte Frage, Herr Adenauer. Wie beurteilen Sie die politische Reife des deutschen Volkes?
Adenauer: Das deutsche Volk hat in den letzten Jahrzehnten zu viel erleben müssen, vom Kriege ‘14 angefangen. Erst dieser Krieg, dann der Sturz der ganzen Monarchie in Deutschland, der Übergang in das republikanische Staatswesen, dann kam der Nationalsozialismus, der ja doch grauenhafte Verwüstungen auch moralischer Art in unserem Volke hervorgerufen hat; dann kam der letzte große Krieg; dann kam der deutsche Zusammenbruch, dann der deutsche Wiederaufbau. Wenn man einmal diese ganzen Erlebnisse sich klarmacht und die Reihenfolge, wie das über das deutsche Volk bald gut, bald schlecht hergegangen ist, dann wird man verstehen können, dass das deutsche Volk eben noch nicht aus dieser inneren Unruhe zu einer inneren Festigkeit und Stetigkeit gewachsen ist. Es fehlt uns auch, und das ist sehr wichtig, ein großer Teil der Männer im Alter zwischen 35 bis 55 Jahren, eventuell bis 60 Jahren. Sie sind im Kriege gefallen, sie sind früher gestorben, als sie unter normalen Verhältnissen gestorben wären. Und diese Schicht ist eben die Schicht, die einem Staatswesen doch Stetigkeit gibt, und die fehlt. Und Stetigkeit in der politischen Haltung ist doch ein Grundelement des politischen Erfolges. Und das deutsche Volk muss alles tun, was in seiner Kraft steht, um eine stetige Politik zu treiben. Ich kann das nicht oft genug wiederholen und darauf hinweisen, dass Stetigkeit in der Politik die Grundlage für das Vertrauen ist und damit auch die Grundlage für den Erfolg.