Sendung vom 17.08.1996 - Berggruen, Heinz
Günter Gaus im Gespräch mit Heinz Berggruen
Ich bin ein „Heinz im Glück“
Heinz Berggruen, geboren 1914 in Berlin. Mußte 1936 als Jude emigrieren. Er kam 1945 aus Amerika nach Europa zurück und wurde in Paris Kunsthändler und Kunstsammler. Seine Picasso-Sammlung ist wahrscheinlich die bedeutendste der Welt, die sich in privater Hand befindet. Er gibt sie jetzt in seiner Geburtsstadt zu sehen: 70 Picassos, dazu Cézanne, van Gogh, Klee ... Für zehn Jahre.
Gaus: So schwer manches in Ihrem Leben gewesen ist, Herr Berggruen, Sie mußten als Jude aus Ihrer Geburtsstadt Berlin emigrieren, in den USA, wohin Sie 1936 gingen, fühlten Sie sich sehr fremd, sehr heimatlos. So schwer manches also gewesen ist, wenn ich Ihr Leben bedenke, so meine ich, alles in allem sind Sie ein Glückskind gewesen.
Berggruen: Ich glaube, man kann das schon sagen. Es gibt Freunde, die nennen mich „Heinz im Glück“. Da ist was dran. Ich habe es irgendwie verstanden, glücklich zu leben.
Gaus: Können Sie das Glück beschreiben, das Ihnen zuteil geworden ist? Worin bestand es?
Berggruen: Das Glück bestand darin, daß ich immer das tun konnte, woran mir gelegen war, und daß man mir nicht unfreundliche Hindernisse in den Weg gelegt hat.
Gaus: Lassen Sie uns das versuchen zu präzisieren. Ich habe mir überlegt, wenn ich Sie frage, ob Sie ein Glückskind sind, und wenn Sie dann sagen: Nein, eigentlich bin ich kein Glückskind – aber Sie bestreiten es nicht. Wenn Sie es bestritten hätten, hätte ich gesagt, ich definiere Ihr Glück so, und offenbar bin ich dem gar nicht so weit weg, wie Sie es definieren: Sie sind Zeit Ihres Lebens dem nahe gewesen, zu tun, was Sie immer tun wollten und konnten damit sozusagen Ihr Living machen. Sie konnten Ihr Geld mit Bildender Kunst verdienen. Sie sind 1950 Kunsthändler geworden in Paris, Sie sind Kunstsammler geworden von der ganz bedeutenden Sorte. Das heißt, das, was Ihnen am nächsten war, war auch das, womit Sie Ihr Leben finanzierten. Sind Sie möglicherweise Kunsthändler geworden, um Kunstsammler zu werden?
Berggruen: Das war schon der Fall, obwohl: Am Anfang konnte ich mir gar nicht vorstellen, daß es geschehen würde, außer im Unterbewußtsein. Als ich anfing, Händler zu werden, muß sich das im Unterbewußten in mir bewegt haben. Was dazu führte, daß sehr allmählich und dann immer intensiver dieser ganze Kunsthandel beinahe nur ein Vorwand war, Sammler zu werden.
Gaus: Wir werden auf Einzelheiten des Sammlers kommen. Aber bleiben wir noch beim Kunsthändler. Sie sind Jahrgang 1914, Sie sind ein junger Mann, als Sie 1950 sich in Paris entscheiden: Nun werde ich Kunsthändler. Wie wird man Kunsthändler?
Berggruen: Damals war das gar nicht schwer. Unmittelbar nach dem Krieg gab es nur wenige Kunsthandlungen in Paris. Die Pariser waren hungrig nach Kunst. Und wenn man das richtig machte, auch mit ganz kleinen Mitteln – und ich glaube, ich machte es richtig –, dann ging das sehr schnell los. Auch ohne finanzielle Rückendeckung.
Gaus: Was heißt: man machte es richtig? Was haben Sie richtig gemacht, was andere nicht richtig gemacht haben?
Berggruen: Was habe ich richtig gemacht? Ich habe mich um die wichtigen Werte gekümmert, worauf es ankam. Darauf kam es auch mir an. Das habe ich gesucht und habe das Glück gehabt, es auch zu finden.
Gaus: Was ist das erste Objekt, das Sie gekauft haben? Mit wieviel Geld haben Sie es gekauft, und mit wieviel haben Sie es verkauft?
Berggruen: Das erste Objekt hatte ich schon gekauft, bevor ich ein Kunsthändler war. Als ich noch in Amerika lebte, hatte ich einem anderen Emigranten ein wunderschönes Klee-Aquarell abgekauft. Das kostete 100 Dollar. Um eine Vorstellung zu geben: Das selbe Aquarell würde heute gehandelt werden in der Gegend von 300.000 Dollar. Zusammen mit anderen Klees habe ich es dem Metropolitan-Museum geschenkt. Aber da war ich noch nicht Händler.
Gaus: Was haben Sie als erstes angekauft, und wieviel verdient man?
Berggruen: Das kann ich Ihnen rasch erzählen: Ich hatte Freunde in Paris, russische Damen, die aus Tschechows „Schwestern“ entsprungen schienen. Zu denen ging ich des öfteren, es waren sehr sensible Leute. Die zeigten mir einmal ein Album mit Original-Lithos von Toulouse-Lautrec. Es war ein wunderbares Album, und das kaufte ich. Es schien mir sehr teuer, aber sie haben mir durch Auktionskataloge bewiesen, daß der Preis, den sie wollten, ein vernünftiger sei. Das waren 1.000 Dollar. Dann habe ich das Album bei denen gelassen, weil ich es in meiner kleinen Wohnung nicht unterbringen wollte. Ich war nicht versichert. Drei Monate später riefen sie mich an. Ein großer Sammler, der ursprünglich aus Deutschland kam und nach Amerika gegangen war, hatte Interesse gezeigt. Er hieß Charell – sein Bruder betrieb die Charell-Revues in Berlin – und er war ein passionierter Lautrec-Sammler, dem diese Mappe fehlte. Und er bot mir über diese russischen Damen genau das Doppelte: 2.000 Dollar. Das war ein sehr starker Nutzen. Das war mein erstes Geschäft, und es war ein sehr gutes Geschäft. Da habe ich gemerkt, wenn man das Richtige hat, Qualität nämlich, dann kann gar nichts passieren.
Gaus: So ist es im Laufe des weiteren Händlerlebens dahin gekommen, daß Sie Bilder zum Handel erworben haben, von denen Sie sich dann nicht mehr trennen wollten als Sammler?
Berggruen: Das ist nicht einmal, das ist öfter passiert.
Gaus: War das dann sehr teuer für Sie?
Berggruen: Es war, wenn man will, relativ teuer. Aber wenn ich es mir leisten konnte, dann tat ich es. Aber es hatte andere Wirkungen. Ich hatte eine Gruppe von Menschen um mich herum – Sammler, Kunden, Besucher –, die gar nicht damit einverstanden waren. Die sagten: Es hat gar keinen Sinn, zum Berggruen zu gehen, denn das Schönste behält er für sich. Was sollen wir dann da? Es gab aber auch das Gegenteil: Solche, die dadurch bestärkt wurden in ihrem Wunsch, selber zu sammeln. Sie sagten: Wenn er Bilder behält statt zu verkaufen, dann glaubt er daran. Es muß also sehr viel an diesem und jenem Künstler dran sein, und so wollen wir auch sammeln.
Gaus: Und zwar den Künstler sammeln, von dem sich der Berggruen nicht trennen will?
Berggruen: Genau so. So gab es diese beiden Gruppen, und es war ein interessantes Spiel zwischen den beiden.
Gaus: Darf ich die platteste aller platten Fragen stellen: Können Sie sagen, was Bildende Kunst Ihnen bedeutet? Leben mit Bildern, was ist das für Sie?
Berggruen: Mit Bildern zu leben, bedeutet – auf eine einfache Formel gebracht –, eine weitere Dimension zu schaffen. Die Dimension des Alltäglichen, dessen, was uns ständig umgibt, wird bereichert durch eine Dimension, die schwer zu beschreiben ist, die aber weiterführt. Das ist das, was Kunst tut.
Gaus: Und für Sie tut es Bildende Kunst?
Berggruen: Für mich tut es Bildende Kunst wie für andere Menschen Musik.
Gaus: Ist das bei Ihnen so ausschließlich, daß Sie von sich selbstkritisch sagen, alles andere an Kunst geht an mir mehr oder weniger vorüber?
Berggruen: Das würde ich nicht sagen. Aber mein Interesse an Bildender Kunst ist über die Jahrzehnte so intensiv gewesen, daß wenig Zeit übrig blieb für das andere.
Gaus: Den Händler wie den Sammler Berggruen gefragt: Worauf stützt sich Ihr Qualitätsurteil?
Berggruen: Es gibt Leute, die haben das absolute Gehör, vielleicht habe ich das absolute Auge. Wenn ich Bilder sehe, habe ich – glaube ich – das Gefühl dafür, was aus dieser Gruppe von Bildern das entscheidende ist. Das Auge reagiert, das Auge, das einfach so geformt ist und so viel Erfahrung hat.
Gaus: Sie vertrauen Ihrem Auge?
Berggruen: Vollkommen.
Gaus: Ohne daß Sie es von Anfang an schon erklären können?
Berggruen: Ja.
Gaus: Folgt dann hinterher die Erklärung? Oder bleibt es manchmal so, daß Sie hinterher immer wissen: Das Auge hat recht gehabt, aber ich kann es nicht erklären?
Berggruen: Das ist eigentlich sehr oft so. Ich kann immer versuchen, es zu erklären. Manchmal gelingt es, manchmal nicht. Aber dem Auge kann ich vertrauen. Das ist eine wunderbare Sache, denn retrospektiv weiß ich, daß das, was ich für mich erworben habe, wichtig ist und von großer Qualität. Das wird mir von Außenstehenden immer wieder bestätigt.
Gaus: Hat Ihr Auge Sie irgendwann einmal betrogen?
Berggruen: Ich zögere, wie Sie sehen, zu antworten. Insofern schon, weil ich mich vom Auge habe hinreißen lassen. Das Auge hat mich nicht betrogen, nein. Aber materiell gesehen, hat es mich verführt. Ich habe Dinge erworben, die ich hätte lassen sollen. Nicht, weil die Qualität fehlte, aber weil zuviel erwartet wurde – finanziell. Aber ich war so hingerissen, daß ich es erworben habe. Ich habe dem Auge vertraut. Nachher sage ich natürlich: Du böses Auge, wie konntest du mich da hinführen.
Gaus: Ihr mittelständisch-bürgerliches Elternhaus in Berlin – Ihr Vater hatte ein Papierwarengeschäft im Wilmersdorf – hat Ihnen die Augen, den Sinn für Bilder und Skulpturen nicht geöffnet. Zwar haben Sie Anfang der 30er Jahre in Frankreich Kunstgeschichte studiert, aber das allein garantiert ja noch keine Leidenschaft und Liebe zur Kunst. Hat es für Heinz Berggruen ein Damaskus-Erlebnis, einen Blitzschlag gegeben, der ihm die Augen öffnete für Kunst, oder war das eine allmähliche Entwicklung, war es ein langsames Erblühen dieser Liebe? Blitzschlag oder Entwicklung?
Berggruen: Es waren zwei Blitzschläge. Der erste passierte, wie ich als junger Mensch nach San Francisco kam und dort 1936 am Museum für Bildende Kunst angestellt wurde. Ich sah zum ersten Mal Bilder von Klee. Die haben mir eine neue Welt geöffnet. Das hat mich sehr aufgeregt. Ich habe plötzlich gespürt: Da ist was ganz Wunderbares, was mich tief berührt. Das war der eine Blitzschlag. Dann kam ein zweiter, etwas später. Ich habe die Bekanntschaft von Frida Kahlo, der Frau des mexikanischen Malers Diego Rivera, dem großen Freskenmaler, gemacht. Das hat mich auch zutiefst berührt. Nicht ihre Bilder, denn damals malte sie nicht. Ich habe, während ich mit ihr zusammen war, nie Bilder von ihr gesehen. Aber ihre Persönlichkeit, diese Malerpersönlichkeit, diese pittoreske, wunderbare Erscheinung, wie aus einem großen Bild heraus …
Gaus: Das war eine schwer leidende, immer kranke Frau.
Berggruen: Damals noch nicht so sehr, aber es fing an.
Gaus: Sie hat als junge Frau – ich glaube, sie war Jahrgang 1907 und ist 1954 gestorben – einen Straßenbahnunfall gehabt. Aber diese behinderte Frau war für Sie so, wie es Sie mir eben beschrieben haben, und als Künstlerpersönlichkeit vermittelte sie den zweiten Blitzschlag für den späteren Kunstsammler Berggruen.
Berggruen: Das hatte eine ganz tiefgehende, langanhaltende Wirkung auf mich als Sammler.
Gaus: Sie haben Paul Klee eben erwähnt. Nach allem, was man über Sie in Erfahrung bringen kann, steht er trotz Picasso Ihrem Herzen am nächsten. Sie werden geradezu lyrisch, wenn Sie sich über Klee äußern. Bitte, Herr Berggruen, werden Sie jetzt lyrisch, versuchen Sie mir die dumme Frage zu beantworten: Was ist Klee für Sie, was sagt er Ihnen?
Berggruen: Wenn Sie gestatten, möchte ich ein Wort von Klee zitieren, das mich immer sehr beeindruckt hat. Klee sagte: „Diesseits bin ich nicht zu erfassen. Ich bin näher bei den Toten und bei den Neugeborenen. Ich bin nahe der Schöpfung und doch nicht nahe genug.“ Das ist wieder das Problem der neuen Dimension. Diese Dimension hat Klee sehr stark empfunden. Die habe ich mit ihm nachempfunden. Mit anderen Worten: es gibt über die Realität hinaus, die von so vielen guten Malern, aber auch schlechten, gemalt wird, noch etwas anderes. Etwas, das einen weiterführt. Und so ist es bei Klee. Klee führt einen viele Schritte weiter. Er nimmt einen an die Hand und sagt: Hier, das ist meine Welt. In diese Welt einzudringen, ist etwas ganz Wunderbares, was bedauerlicherweise nicht allen möglich ist.
Gaus: Zur Person Heinz Berggruen: Geboren am 6. Januar 1914 in Berlin, bürgerliches, liberal-jüdisches Elternhaus. Nach dem Abitur Anfänge journalistischer Arbeit, dann bis 1935 Studium der Literatur- und Kunstwissenschaften in Frankreich, in Grenoble und Toulouse. Kurze Rückkehr nach Berlin. Im Jahre 1936 Emigration in die USA nach Kalifornien. Erste Ehe, Arbeit am Museum in San Francisco, einberufen zur amerikanischen Armee. 1944 Rückkehr nach Europa nach Deutschland, tätig bei der Presse der Besatzungsmacht in München. 1950 nach Paris, zunächst bei der Unesco gearbeitet, dann Niederlassung als Kunsthändler. 1973 Rückgabe der US-Staatsbürgerschaft und Wiederannahme der deutschen. Warum?
Berggruen: Ich habe meine Ehe in Amerika aufgelöst und wieder geheiratet. Ich habe zwei Kinder, die in Paris geboren wurden. Und ich hatte das Gefühl, daß ich wahrscheinlich nie mehr nach Amerika, außer auf Besuch, zurückgehen würde. So erschien es mir nicht sinnvoll, die amerikanische Staatsbürgerschaft zu behalten. Andererseits fand ich es logisch, die Staatsbürgerschaft, die man mir weggenommen hat – ich bin ja als Deutscher in Berlin geboren – wieder zu erwerben. So habe ich einen Antrag gestellt, und der wurde sofort bewilligt.
Gaus: Sie sind dann zum international wichtigen Kunsthändler, zum maßgeblichen Kunstsammler der klassischen Moderne, geworden. Sie sind seit vielen Jahren in zweiter Ehe verheiratet, Sie haben erwachsene Kinder aus beiden Ehen. Viele Fragen. Zunächst diese: Was bedeutete das Judentum in Ihrem Elternhaus, und was bedeutete es Ihnen, Herr Berggruen, in Ihrem weiteren Leben?
Berggruen: Es bedeutet, um es ganz frei zu sagen, relativ wenig. Ich war das Kind jüdischer Eltern. Ich habe das nie leugnen oder kaschieren wollen. Ich empfinde mich nicht als deutscher Jude. Ich empfinde mich als jüdischer Deutscher. Ich mache da einen Unterschied.
Gaus: Das hat niemals aufgehört, dieses Gefühl, auch nach Auschwitz nicht?
Berggruen: Nein gar nicht. Meine Wurzeln sind in Deutschland, von der Geschichte her, von der Natur her, von meiner Umgebung her. Das Elternhaus war, wie man es damals nannte, liberal und progressiv. Man war so integriert im damaligen deutschen Bürgertum, daß ich mir gar nicht vorstellen konnte, in einem anderen Volk zu leben. Die Beziehungen zum Judentum existierten einfach nicht, obwohl ich nichts leugnete.
Gaus: Außer – und das „Außer“ ist eigentlich etwas, das man gar nicht sagen darf, aber nun bleibe ich dabei – Sie mußten vor dem deutschen Antisemitismus, wie ihn die Nationalsozialisten praktizierten, emigrieren.
Berggruen: Absolut.
Gaus: Ist Ihnen persönlich, nicht in Deutschland, sondern überhaupt in Ihrem Leben, das Phänomen Antisemitismus konkret begegnet?
Berggruen: Nein. Vielleicht wieder „Heinz im Glück“. Es ist mir einfach nie begegnet. Es gab nie Prügeleien in der Schule, es gab keine Attacken. Man lebte, so wie wir wenigstens lebten, völlig geschützt in einer Oase des Friedens in dem Teil Berlins, in Wilmersdorf, wo wir zu Hause waren. Und in Amerika habe ich von Antisemitismus nie etwas gespürt, und natürlich auch nicht, als ich zurückkam, in Frankreich.
Gaus: Die Politik hat Ihr Leben stark mitbestimmt. Aus politischen Gründen mußten Sie emigrieren. Sie waren amerikanischer Soldat, als Sie zurückkamen nach Europa. Ich habe jedoch den Eindruck, Sie sind im Grunde eher ein unpolitischer Mensch. Ist das richtig?
Berggruen: Das ist völlig richtig. Ich hatte keine Wahl, die politischen Umstände haben mich gelenkt, ich konnte nicht widerstehen. Hätte ich widerstehen wollen, wäre es mir wahrscheinlich sehr elend ergangen. Ich habe das getan, was man vernünftigerweise als ein jüdischer Mensch aus Deutschland tun mußte. Aber mich politisch zu engagieren, mich politisch zu betätigen, lag mir fern.
Gaus: Inwiefern?
Berggruen: Ich fühle mich in meinen ganzen Auffassungen progressiv. Wenn ich Zeitungen lese, lese ich lieber fortschrittliche Zeitungen, liberale. Aber da hört es dann auf.
Gaus: Haben Sie sich gelegentlich Vorwürfe gemacht, daß Sie sich nicht stärker politisch engagiert haben? Ich meine jetzt nicht im Widerstehen gegenüber den Nazis. Wieso hätten Sie das tun sollen, da war das Angemessene zu entweichen, wenn man entweichen konnte. Viele aus Ihrer Generation haben sich politisch engagiert. Rechts wie links, das war etwas, was zu Ihrer Generation weithin gehörte. Die Künstler, die Sie kennenlernten, waren sehr weit links, waren Kommunisten. Wobei es dabei jetzt gar nicht um den Kommunismus geht. Das, was zu dieser Generation weithin gehörte, Jahrgang 1914, war das politische Engagement. Sie haben erklärt, Sie haben es nicht gehabt. Meine Frage ist: Gab es gelegentlich Selbstvorwürfe, daß Sie sich sagten: Ach, ich hätte mich vielleicht engagieren sollen.
Berggruen: Nein, die gab es nicht. Ich fühlte mich, wenn man es so sagen kann, politisch nicht qualifiziert. Ich hatte das Gefühl, daß ich auf einem anderen Sektor, nämlich der Kunst, mehr zu leisten hatte und mehr schaffen könnte. Das Politische war etwas, was ich beobachtete, was mich immer interessierte. Aber ich dachte nicht, daß ich da einen wesentlichen Beitrag leisten könnte. Den Beitrag, den ich leisten wollte und auch geleistet habe, lag in diesem sehr spezifizierten Gebiet der Kunst, der Kunstanschauung, der Museen, der Ausstellungen und allem, was drum herum ist.
Gaus: Sind Sie von manchem emotional verschont geblieben, weil Sie eigentlich immer eine innere Distanz zu ganz vielen Dingen behalten haben?
Berggruen: Das ist schon der Fall. Ich habe eigentlich immer in meiner eigenen Welt gelebt, wo immer ich war. Das war die Welt der Bilder, das war die Welt der Kunst. Die hat mich umgeben und beschützt.
Gaus: Sie haben davon gesprochen in der Autobiographie „Hauptwege und Nebenwege“, dass Kunsthändler und Kunstsammler eine andere Sensibilität hätten als alle anderen. Und diese andere Sensibilität war ein Schutzwall. Worin besteht die andere Sensibilität?
Berggruen: Sie meinen die meine?
Gaus: Ja, Ihre.
Berggruen: Man ist wahrscheinlich subtiler, differenzierter, ist wahrscheinlich weniger konventionell. Es gibt sehr viele Menschen, die sich für Kunst interessieren. Aber es ist oft ein sehr konventionelles Interesse. Man schaut sich die berühmten Bilder an. Sowie es um verfeinertes Fühlen geht, fallen viele weg. Und da bin ich zu Hause.
Gaus: Was ich jetzt sage, ist fast keine Frage, sondern Ausdruck einer Verwunderung: Frida Kahlo erwähnt, Sie haben sie von der Seite ihres damaligen Lebensgefährten praktisch entführt von San Francisco nach New York. Sind Sie eigentlich ein homme de femme gewesen Zeit Ihres Lebens, Heinz im Glück?
Berggruen: Ich möchte sagen, ja. Es war etwas, was mich durchaus beschäftigte.
Gaus: Zu Frida Kahlo, die inzwischen eine Kultfigur des Feminismus geworden ist.
Berggruen: Was Sie damals nicht war.
Gaus: Nicht sein konnte. Inzwischen ist sie eine Kultfigur des Feminismus. Sie hatte, glaube ich, nicht nur ein Verhältnis mit Berggruen, sondern auch mit Trotzki. Sie war eine Sozialromantikerin, sie war in Mexiko eine Vorkämpferin sozialer Gerechtigkeit. Jetzt kommt der Ausdruck der Verwunderung, keine Frage: Sie sprechen von ihr, Sie schreiben über sie. Das, wovon ich jetzt gesprochen habe, dieses ganz stark Politische in dieser Frau, kommt bei Ihnen überhaupt nicht vor. Sie sagen, ich zitiere mal, als Sie sie zum ersten Mal gesehen haben: ›Ich war augenblicklich vollkommen trunken von der Erscheinung dieser außergewöhnlichen Frau.‹ Aber diese Seite gibt es für Sie nicht.
Berggruen: So ist es. Sie haben keine Frage gestellt, also gebe ich keine Antwort.
Gaus: Das ist sehr gut, das ist eine sehr gute Antwort. Sagen Sie, Sie geben jetzt für zehn Jahre Ihre Sammlung, vielleicht die bedeutendste Picasso-Sammlung der Welt, in private Hände, geben Sie an Ihre Geburtsstadt Berlin. Zwei Fragen: Erstens, ist es eine Sentimentalität, es nach Berlin zu geben? Oder sind es besonders günstige Umstände, oder ist es eine Mischung?
Berggruen: Genau das ist es, eine Mischung. Einerseits ist es die sentimentale Bindung an Berlin. Ich komme aus Berlin, hier sind meine Wurzeln. Und die Idee, in dieses Berlin, in dem ich eine glückliche Jugend hatte, in dem ich aufgewachsen bin, zurückzukommen, mit Dingen in der Hand, nicht mit leeren Händen, das finde ich, ist ganz schön aufregend. Dazu kommt, Berlin – und das finde ich großartig – hat mir die Möglichkeit gegeben, meine Sammlung in einem Haus zu zeigen, das, wie ich es empfinde, geradezu maßgeschneidert ist für meine Sammlung. Es ist der alte Stüler-Bau gegenüber dem Charlottenburger Schloß, früher eine Art Kaserne der Garde, sehr klassizistisch in den Formen. Das paßt hervorragend zu dieser Art von klassischen Sammlungen, die ich geschaffen habe.
Gaus: Zweite Frage im Zusammenhang mit dieser großzügigen Leihgabe für zehn Jahre an Berlin. Sie geben also diese Bilder nach Deutschland. Zweifel an der Entwicklung der Deutschen, an der Art der Deutschen, Sorgen über Entwicklungen in Deutschland plagen Sie nicht?
Berggruen: Plagen ist zuviel gesagt. Aber sie beschäftigen mich, gar keine Frage. In dem Vertrag, den ich mit der Stiftung Preußischer Kunstbesitz geschlossen habe, habe ich klar ausgesprochen: sollten sich die Dinge in Deutschland politisch verändern im schlechten, negativen Sinne, sollte – was wir nicht wollen, nicht hoffen und hoffentlich auch nie geschehen wird – Deutschland wieder in eine harte diktatorische Rechtsströmung verfallen, dann nehme ich meine Bilder wieder weg. Aber ich kann nur hoffen, es wird nicht passieren. Ich bin mir bewußt, dass so etwas sein könnte, ich beschäftige mich damit. Ich wäre sehr unglücklich, wenn es geschähe.
Gaus: Verstehen Sie Ihre Freunde, die in Paris leben? Können die verstehen, daß Sie Ihre Bilder nach Deutschland geben?
Berggruen: Freunde in Paris, ja. Durchaus. Freunde in Amerika schon weniger. Ich habe jüdische Bekannte und Freunde, zum Teil Emigranten aus Deutschland, die es nicht verstehen. Es so wenig verstehen wie der israelische Präsident Weizmann, der neulich gesagt hat: Nach dem Holocaust sollte kein Jude in Deutschland leben. Ich stimme damit überhaupt nicht überein. Ich sehe es nicht so. Ich finde, man muß eine viel tolerantere Haltung einnehmen. Ich finde, es gehört zu den Grundtugenden der Juden, tolerant zu sein. Das finde ich schön. Und tolerant zu sein, bedeutet auch, daß man den Versuch macht, einander zu verstehen. Die Sammlung hierher zu geben, ist eben ein solcher Versuch, zusammenzukommen, zu verstehen, Klüfte zu überbrücken.
Gaus: Weg von Deutschland. Sie haben Ihre Klee-Sammlung dem Metropolitan-Museum in New York geschenkt. Sie haben einen Teil Ihrer Sammlung der National Galery in London als eine sehr langfristige Leihgabe übergeben. Sie geben jetzt diese Picasso-Sammlung, „Picasso und seine Zeit“ wird der Titel sein, nach Berlin. Ist das auch der Versuch, sich ein Stück Unsterblichkeit, ein Stück Überleben zu sichern?
Berggruen: In diesen Proportionen habe ich eigentlich nie gedacht. Die Sammlung heißt ja auch „Picasso und seine Zeit“. Die Sammlung heißt ja nicht die „Sammlung Berggruen“, so wie es das Museum Ludwig gibt. Ich möchte da eher im Hintergrund stehen. Ich denke nicht an Unsterblichkeit. Ich denke daran, eine Sammlung ganz schöner Bilder, wichtiger Bilder, die einen echten kulturellen Beitrag leisten können, hierher nach Berlin zu bringen.
Gaus: Sammler und auch Kunstsammler gibt es von mancherlei Art. Introvertierte, spekulative, hamsterartige. Wie sehen und verstehen Sie sich als Sammler, Herr Berggruen? Welche Art Sammler sind Sie? Vollständigkeitssammler, Epochensammler? Sagen Sie!
Berggruen: Ich verstehe mich als Sammler der Dinge, die mich in der modernen Kunst, die mich am meisten beschäftigt, auch am meisten interessieren. Es geht mir da eher um Vollständigkeit, zum Beispiel bei Picasso. In der Sammlung, die ausgestellt sein wird, „Picasso und seine Zeit“, sind Bilder von ihm aus allen Epochen. Das ist wichtig. Von Anfang an, von der sogenannten „Blauen Epoche“ Anfang des Jahrhunderts bis zu seinem Tod, er ist 1973 gestorben, alle Phasen dieses großartigen Schaffens zeigen zu können.
Gaus: Das heißt, Sie haben einen Künstler und seine Zeit, herausgerückt auch durch andere Künstler, als Zeiterscheinung komplett haben wollen? Ich versuche immer noch herauszufinden, welche Art Sammler Sie sind.
Berggruen: Ein Sammler, der sich für ganz bestimmte Künstler besonders interessiert. Das sind die, die Sie vorhin genannt haben. Vordergründig Picasso und Klee. Picasso ist die große Symphonie unseres Jahrhunderts, Klee ist die wunderbare Kammermusik unseres Jahrhunderts. Und neben Picasso und Klee dann solche Künstler wie der großartige italienisch-schweizerische Bildhauer Alberto Giacometti ... Darauf kommt es mir an.
Gaus: Sie haben einmal 40 Matisse umgetauscht, eingetauscht gegen zwei Werke von van Gogh. Erzählen Sie mir, wie kommt so was zustande?
Berggruen: Ich verehre Matisse. Ich halte Matisse für den bedeutendsten französischen Maler unserer Zeit. Ich habe daher diese Matisse nicht weggegeben, weil ich mit ihnen nichts mehr anfangen konnte. Ich bedauerte, daß ich sie nicht mehr hatte. Aber es war für mich geradezu lebenswichtig, einen bedeutenden van Gogh zu haben. Denn für mich bedeutet van Gogh der große Eingang zur Kunst des 20. Jahrhunderts.
Gaus: Und Cézanne?
Berggruen: Und Cézanne natürlich auch. Ich hatte die Chance, von einem Freund einen ganz bedeutenden van Gogh aus der Zeit von Arles im Süden zu erwerben. Der war bereit, einen Tausch zu machen. Aber dieser Freund wollte mit Recht den Tausch natürlich nicht machen mit irgendwelchen kleinen, mehr oder weniger bedeutenden Bildern. Er wollte ganz schöne Dinge haben. Er sagte: Du willst den van Gogh, dann mußt du mir deine Matisse hergeben. Das habe ich getan. Ich bin auch dafür kritisiert worden, aber ich bedaure es nicht. Denn so habe ich ein ganz wichtiges, großformatiges Bild von van Gogh. Und außerdem eine schöne Rohrfederzeichnung aus derselben Epoche.
Gaus: Die beide nach Berlin kommen werden?
Berggruen: Die beide in Berlin sein werden.
Gaus: Verloren Sie, wenn Sie sagten, dieses Bild muß ich haben, den Appetit und wurden Sie schlaflos für eine Zeit, bis Sie es hatten?
Berggruen: Den Appetit verloren vielleicht nicht, aber schlaflos wurde ich. Es wühlt in einem, es regt einen schrecklich auf. Man denkt nur noch daran. Es ist eine echte Besessenheit. Überhaupt ist das Sammeln eine Besessenheit, eine Droge. Echtes, seriöses Sammeln ist eine Droge. Man muß also aufpassen.
Gaus: Aber Sie waren immer auch ein Sammler, der seine Sammlung teilen wollte. Andere sollten sie sehen, Sie haben sie nicht verschlossen halten wollen?
Berggruen: Ich wollte sie nicht horten, ich wollte den Dialog haben mit anderen, die Sprache, die Zwiesprache haben. Mir ist es wichtig, meine Bilder an einem öffentlichen Ort zeigen zu können.
Gaus: Pablo Picasso, das künstlerische Genie dieses Jahrhunderts, haben Sie gut gekannt, Sie haben ihn als Händler vertreten. Was machte ihn so unvergleichlich in Ihren Augen?
Berggruen: Er war tatsächlich die großartigste, die stärkste Persönlichkeit, der ich je begegnet bin.
Gaus: Ein Malerfürst, ein Renaissance-Mensch?
Berggruen: Ein Malerfürst war er gar nicht. Dazu war er viel zu bescheiden, viel zu diskret. Er wußte genau, wer er war, aber er hat sich nie in Positur gesetzt. Er hat nie den anderen den Eindruck gegeben: ›Ich bin der große Picasso, was wollt ihr von mir?‹ Er stand da, war klein von Statur, hatte einen wunderbaren Gesichtsausdruck. Er hatte sofort eine ganz menschliche, ganz humane Beziehung zu einem. Er war ein großartiger Beobachter, er sah alles, er verstand alles. Er war unendlich menschlich. Großzügig. Er war einfach eine abgerundete, besondere Persönlichkeit. Als er gestorben ist – das wird sich jetzt sentimental anhören, das ist mir aber auch egal – habe ich geweint. Ich habe gemerkt, ich habe etwas verloren.
Gaus: Erlauben Sie mir eine letzte Frage: Welches ist Ihnen in Ihrem Leben das liebste Bild gewesen und warum?
Berggruen: Unter meinen Bilder-Kindern habe ich viele geliebt. Wenn ich eines nennen sollte, würde ich ein Picasso-Bild erwähnen, das auch hier ausgestellt sein wird. Das ist das „Bildnis einer Frau mit einem gelben Pullover“. Er hat es 1939 gemalt. Und in diesem Bild steckt unendlich viel drin, was man sich bei Picasso wünscht – im Ton, in der Zeichnung, in der Farbe, im Zusammenklang von allem. Es ist ein Bild, in dem die ganze Persönlichkeit von Picasso auf wunderbare Weise präsentiert wird. Es hat kubistische Elemente, es hat die Verzerrung des Gesichtes, die Nase nach vorne und zur Seite. Das stört aber gar nicht. Das Gesicht dieser Frau – das war seine damalige Geliebte. Es ist noch in der Verzerrung ein wunderschönes Gesicht. Und ich merke, daß dieses Bild die Menschen ganz besonders anspricht. Wir werden auch ein Plakat von diesem Bild machen.