Sendung vom 03.12.1967 - Dutschke, Rudi
Günter Gaus im Gespräch mit Rudi Dutschke
Eine Welt gestalten, die es noch nie gab
Rudi Dutschke, geboren am 7. März 1940 in Schönefeld (DDR), gestorben am 24. Dezember 1979 in Arhus (Dänemark).
1958 Abitur, Industriekaufmann, verweigerte den Wehrdienst in der Nationalen Volksarmee und studierte in Westberlin Soziologie. Eintritt in den Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS). Bald dessen führender Kopf beim Kampf der APO und in der Studentenbewegung. Zahlreiche Interviews, Reden und Aufsätze. Im April 1968 wurde gegen Dutschke ein Mordanschlag verübt, in dessen Gefolge es zu schweren Krawallen kam. Sie richteten sich vor allem gegen den Springer-Zeitungskonzern, dem wegen seiner Berichterstattung über die APO Mitschuld an der Tat angelastet wurde. Dutschke war später Lehrbeauftragter in Arhus, wo er an den Spätfolgen der Schußverletzung starb.
Das Gespräch wurde gesendet am 3. Dezember 1967.
Gaus: Sie sehen heute Abend ein Interview mit Rudi Dutschke, das ich schon vor einigen Wochen aufgezeichnet habe. Rudi Dutschke, 27 Jahre alt, vor geraumer Zeit aus der DDR aus politischen Gründen weggegangen, heute Student der Soziologie an der Freien Universität Berlin. Dieser Rudi Dutschke ist der bekannteste Wortführer jener radikalen Studenten, die nicht nur Westdeutschlands Hochschulen reformieren wollen, sondern unsere ganze Gesellschaftsordnung umstülpen möchten.
Diese Studenten sind eine kleine Minderheit. Darüber kann der Lärm, den sie machen, nicht täuschen. Der größere Teil der Studenten ist wahrscheinlich noch immer apolitisch, nicht einmal an Hochschulreformen in dem Maß interessiert, wie wir es uns wünschen sollten. Und innerhalb jener Minderheit, die an Hochschulreformen, an bitter notwendigen, überfälligen Hochschulreformen interessiert ist, innerhalb dieser Minderheit sind die Anhänger Dutschkes wiederum eine kleine Gruppe nur. Kann das ein Grund sein, sich nicht mit ihm zu beschäftigen? Er muß es – er und seine Freunde müssen es hinnehmen, daß die Art ihrer Argumente sie gelegentlich nicht mehr als Gesprächspartner ernsthaft in Betracht kommen läßt. Das – wie ich meine – kann uns nicht hindern, zu versuchen dahinterzukommen, was denn wohl diese jungen Leute, diese Revolutionäre, was sie sein wollen, ganz bewußt sein wollen, in einer Zeit, in der man an Revolutionen nicht mehr glauben kann – was denn wohl diese jungen Revolutionäre wirklich vorhaben.
Dies ist der Grund – so meine ich – warum es sich lohnt, ein Interview mit Rudi Dutschke zu machen, bei dem es nicht so sehr um aktuelle Bezüge geht, sondern darum, was die Leitlinien seiner Überlegungen sind, jene Leitlinien, die er versucht, dieser Gesellschaft aufzuzwingen. Sehen Sie jetzt "Zu Protokoll – Rudi Dutschke".
Herr Dutschke, Sie wollen die Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik verändern. Alles soll von Grund auf anders werden. Warum?
Dutschke: Ja, 1918, um damit zu beginnen, erkämpften die deutschen Arbeiter- und Soldatenräte den 8-Stunden-Tag. 1967 arbeiten unsere Arbeiterinnen und Arbeiter und Angestellten lumpige vier, fünf Stunden weniger pro Woche. Und das bei einer ungeheuren Entfaltung der Produktivkräfte, der technischen Errungenschaften, die eine wirklich sehr, sehr große Arbeitszeitreduzierung bringen könnten, aber im Interesse der Aufrechterhaltung der bestehenden Herrschaftsordnung wird die Arbeitszeitverkürzung, die historisch möglich geworden ist, instandgehalten, um Bewußtlosigkeit – das hat etwas mit der Länge der Arbeitszeit zu tun – aufrechtzuerhalten. Ein Beispiel: Nach dem Zweiten Weltkrieg begann ununterbrochen das Gerede der Regierungen über Wiedervereinigung. Nun haben wir schon 20 und mehr Jahre keine Wiedervereinigung, wir haben aber systematisch immer wieder Regierungen bekommen, die man gewissermaßen bezeichnen könnte als institutionalisierte Lügeninstrumente, Instrumente der Halbwahrheit, der Verzerrung, dem Volk wird nicht die Wahrheit gesagt. Es wird kein Dialog mit den Massen hergestellt, kein kritischer Dialog, der erklären könnte, was in dieser Gesellschaft los ist. Wie es plötzlich mit dem Ende des Wirtschaftswunders zustande kam, warum die Wiedervereinigungsfragen nicht vorankommen? Man spricht von menschlichen Erleichterungen im Verkehr und meint Aufrechterhaltung der politischen Herrschaft.
Gaus: Warum meinen Sie, Herr Dutschke, daß die Veränderungen, die Sie wünschen, durch Mitarbeit in den bestehenden Parteien nicht erreicht werden kann?
Dutschke: Es gibt eine lange Tradition der Parteien, in der sozialdemokratischen, der konservativen, den liberalen Parteien; ohne die jetzt geschichtlich aufzurollen, haben wir nach 1945 eine sehr klare Entwicklung der Parteien, wo die Parteien nicht mehr Instrumente sind, um das Bewußtsein der Gesamtheit der Menschen in dieser Gesellschaft zu heben, sondern nur noch Instrumente, um die bestehende Ordnung zu stabilisieren, einer bestimmten Apparatschicht von Parteifunktionären es zu ermöglichen, sich aus dem eigenen Rahmen zu reproduzieren, und so also die Möglichkeiten, daß von unten Druck nach oben und Bewußtsein nach oben sich durchsetzen könnte, qua Institution der Parteien schon verunmöglicht wurde – ich meine, viele Menschen sind nicht mehr bereit, in den Parteien mitzuarbeiten, und auch diejenigen, die noch zur Wahl gehen, haben ein großes Unbehagen über die bestehenden Parteien. Und ... bauen sie noch ein Zwei-Parteien-System, und dann ist es endgültig vorbei.
Gaus: Wir kommen auf die Vorstellungen von einer politischen Gesellschaft, die Sie haben, sicherlich noch zu sprechen. Ich möchte vorerst noch dabei bleiben, was Sie also vom bestehenden politischen System abhebt. Studiert man, was Sie, Herr Dutschke, bisher geschrieben und gesagt haben, so gelangt man – jedenfalls ging es mir so – zu der Feststellung, daß die Opposition von Ihnen und Ihren Freunden im SDS nicht nur außerparlamentarisch, sondern antiparlamentarisch ist. Eine Frage: Stimmen Sie diesem Befund zu? Halten Sie das parlamentarische System für unbrauchbar?
Dutschke: Ich halte das bestehende parlamentarische System für unbrauchbar. Das heißt, wir haben in unserem Parlament keine Repräsentanten, die die Interessen unserer Bevölkerung – die wirklichen Interessen unserer Bevölkerung – ausdrücken. Sie können jetzt fragen: Welche wirklichen Interessen? Aber da sind Ansprüche da. Sogar im Parlament. Wiedervereinigungsanspruch, Sicherung der Arbeitsplätze, Sicherung der Staatsfinanzen, in Ordnung zu bringende Ökonomie, all das sind Ansprüche, die muß aber das Parlament verwirklichen. Aber das kann es nur verwirklichen, wenn es einen kritischen Dialog herstellt mit der Bevölkerung. Nun gibt es aber eine totale Trennung zwischen den Repräsentanten im Parlament und dem in Unmündigkeit gehaltenen Volk.
Gaus: Wir sind uns einig, daß Sie vorerst Behauptungen aufstellen, die wir jetzt nicht diskutieren, sondern zu Protokoll nehmen. Sagen Sie mir, wie soll jene Gesellschaft, die Sie anstreben, sich gliedern, verwalten und regieren?
Dutschke: Die Gesellschaft, die wir anstreben, ist ein sehr langfristiges Prozeßresultat, das heißt wir können jetzt kein großartiges Gebilde der Zukunft entwerfen, wir können aber Gliederungsstrukturen sagen. Gliederungsstrukturen, die sich von den jetzigen prinzipiell unterscheiden.
Gaus: Wodurch?
Dutschke: Und zwar in der Hinsicht, daß unter heutigen Bedingungen Wahlen durchgeführt werden in jedem vierten Jahr, und man hat die Chance, die bestehenden Parteien zu bestätigen. Immer weniger die Chance, Wahlen durch neue Parteien – und damit neue Alternativen zur bestehenden Ordnung ...
Gaus: Die NPD ist ein Gegenbeweis.
Dutschke: Ist kein Gegenbeweis, denn die Entstehung der NPD ist nicht zu trennen von dem Unbehagen über die bestehenden Parteien auf der einen Seite und dem Ende der Rekonstruktionsperiode – unkritisch: des sogenannten Wirtschaftswunders – auf der anderen Seite. Die beiden Elemente ermöglichten ein Aufkommen der NPD. Aber das heißt nun nicht, daß die NPD Chancen hätte, Mehrheiten in diesem Volk zu gewinnen ...
Gaus: Zurück zu Ihrer Idealvorstellung der Gesellschaft, die Sie politisch bilden möchten.
Dutschke: Grundsätzlicher Unterschied, daß wir begonnen haben, Organisationen aufzubauen, die sich von den Parteistrukturen unterscheiden dadurch, daß in unseren Organisationen keine Berufspolitiker tätig sind, daß bei uns kein Apparat entsteht, daß bei uns die Interessen und die Bedürfnisse der an der Institution Beteiligten repräsentiert sind, während in den Parteien ein Apparat vorhanden ist, der die Interessen der Bevölkerung manipuliert, aber nicht Ausdruck dieser Interessen ist.
Gaus: Wenn Ihre revolutionäre Bewegung groß wird und sich selbst jenem Apparat angliedert, der von einer bestimmten Größe an zu jedem Organismus gehört, wie wollen Sie das verhindern?
Dutschke: Das ist eine Behauptung von Ihnen – ich meine, das ist kein ewiges Naturgesetz, daß sich entwickelnde Bewegungen Apparate haben müssen. Es hängt von der Bewegung ab, ob sie in der Lage ist, die verschiedenen Stufen ihrer Entfaltung mit den verschiedenen Bewußtseinsstufen ihrer Bewegung zu verbinden. Genauer: Wenn wir es schaffen, den Transformationsprozeß – einen langwierigen Prozeß – als Prozeß der Bewußtwerdung der an der Bewegung Beteiligten zu strukturieren, werden die bewußtseinsmäßigen Voraussetzungen geschaffen, die es verunmöglichen, daß die Eliten uns manipulieren. Daß es eine neue Klasse gibt ...
Gaus: Sie gehen davon aus, daß der Mensch absolut bildungsfähig ist, daß der Mensch besser werden kann.
Dutschke: Ich gehe davon aus, daß der Mensch nicht dazu verurteilt ist, dem blinden Spiel der Zufälle in der Geschichte unterworfen zu bleiben.
Gaus: Er kann die Geschichte selbst in die Hand nehmen?
Dutschke: Er hat sie schon immer gemacht. Er hat sie bloß noch nicht bewußt gemacht. Und jetzt muß er sie endlich bewußt machen – unter Kontrolle nehmen.
Gaus: Wie regiert sich dieser Mensch, wer führt ihn, wie bestimmt er, wer ihn führt, wie wählt er diesen Mann ab?
Dutschke: Er führt sich – und dieses Problem der Selbstorganisation ist nicht, daß ich jetzt wieder Fremde für mich entscheiden lasse. Wenn ich sage, die Menschen haben ihre Geschichte schon immer gemacht, aber noch nicht bewußt gemacht, dann soll das bedeuten, wenn sie sie bewußt machen, dann stellt sich das Problem der verselbständigten Eliten, der verselbständigten Apparate nicht mehr. Denn das Problem besteht darin, gewählte Repräsentanten wieder abzuwählen – sie jederzeit abwählen zu können – und das Bewußtsein der Notwendigkeit der Abwahl zu haben.
Gaus: Welche Eigenschaften müssen aus den Menschen herausoperiert werden, damit sie das leisten, was Sie von Ihnen erwarten?
Dutschke: Nicht eine einzige. Es müßten die unterdrückten endlich frei werden können. Die unterdrückten Fähigkeiten der gegenseitigen Hilfe, der Fähigkeit des Menschen, seinen Verstand in Vernunft zu transformieren und die Gesellschaft, in der er lebt, zu begreifen und sich nicht von ihr manipulieren zu lassen.
Gaus: Auf welche Weise wollen Sie und Ihre Freunde diesen Bewußtseinsstand des Menschen herbeiführen?
Dutschke: Wir haben angefangen, eine Methode zu entwickeln, die sich dadurch auszeichnet, daß wir Aufklärung über gesellschaftliche Tatbestände in der ganzen Welt und in der eigenen Gesellschaft verbinden mit Aktionen. In der Vermittlung und in der Verbindung von Aufklärung – systematischer Aufklärung – über das, was geschieht, was uns tagtäglich in den Zeitungen, in den Rundfunkorganen, auch im Fernsehen, vorenthalten wird; es gibt 122 Länder auf dieser Erde – wenn man die BILD-Zeitung aufschlägt, erfährt man, daß es ein Land gibt – im Höchstfalle – und nicht mal, was in diesem Lande geschieht. Dieses Phänomen, nicht des Informationsüberflusses, sondern der systematischen Hintanhaltung der Informationen und der nicht vorhandenen Strukturierung von Informationen wollen wir aufbrechen. Eigene Informationen geben über das, was in der Welt geschieht, aufklären und Aktionen machen, um eine Öffentlichkeit zu produzieren, die diese Informationen zur Kenntnis nimmt und begreift, daß es eine andere Öffentlichkeit gibt als die bestehende.
Gaus: Worin unterscheidet sich Ihre revolutionär-aufklärerische Absicht, Ihr politischer Wille zur totalen Umgestaltung der Welt von früheren Revolutionsbewegungen? Wo liegt der Unterschied?
Dutschke: Ich würde sagen, der entscheidende Unterschied ist die geschichtliche Situation, in der wir unsere Arbeit machen. In vergangenen Epochen machten die Revolutionäre ihre Arbeit im wesentlichen unter nationalstaatlichen Bedingungen. Wir machen unsere Arbeit heute unter weltgeschichtlichen Bedingungen, in einem ganz realen Sinne. Heute ist die Bundesrepublik absolut nicht mehr als Nationalstaat zu begreifen, wir stecken in einem System von internationalen Zusammenhängen. Wir stecken in der NATO. Unsere Bevölkerung weiß nicht, was das bedeutet für die Zukunft. 1970 wird die Hälfte der Weltbevölkerung ein Sechstel aller Dienstleistungen in Gütern haben. In den verschiedenen Kontinenten arbeiten Revolutionäre daran, ihr Elend zu beseitigen. Nun in diesem Zusammenhang stecken wir drin, und wir brauchen einen internationalen Weltmarkt, der nicht die eine Hälfte der Welt ständig mehr verelendet, um so die Konflikte weiter zu produzieren. Das muß abgebaut werden, da stecken wir drin, und insofern unterscheiden wir uns prinzipiell von den verschiedenen Situationen ...
Gaus: Die kommunistische Revolution wollte mindestens in der Theorie auch international sein.
Dutschke: Ja, sie konnte es realgeschichtlich nicht, denn 1919 zu Beginn der Gründung der Kommunistischen Internationale gab es natürlich die Idee des internationalen Klassenkampfes. Aber real gab es nicht einmal eine wirkliche Bewegung in den verschiedenen Kontinenten ...
Gaus: Sie glauben, daß der Nationalstaat als Hemmnis für eine internationale Bewegung heute allenthalben auf der Welt überwunden ist?
Dutschke: Der Nationalstaat als Hemmnis ist nicht überwunden. Er steckt im Bewußtsein der Menschen drin. Und unser Problem besteht grade, dieses ideologische Hemmnis zu beseitigen, um die internationale weltweite Vermittlung sichtbar zu machen, wie wir drinstehen und wie wir ...
Gaus: Das ist aber doch dasselbe Problem, das die Kommunisten 1919 hatten.
Dutschke: Sie konnten es aber nicht lösen, während wir es heute lösen können, innerhalb des weltweiten Kommunikations- und anderen Zusammenhangs.
Gaus: Va bene. Ich gehe davon aus, Herr Dutschke, daß das Bewußtsein der Menschen in den hoch entwickelten Industriestaaten heute von der Einsicht in die Vergeblichkeit von Revolutionen bestimmt ist. Wohlgemerkt: in den Industriestaaten, nicht in den Entwicklungsländern. Ohne Zweifel haben die beiden großen europäischen Revolutionen – die französische und die russische – die politisch-gesellschaftlichen Verhältnisse entscheidend verändert, aber die von den Revolutionären verhießene quasi paradiesische Endstufe – das Fernziel – haben sie nicht erreicht. Sie sind vorher erstarrt, zum Teil unter schrecklichen Begleiterscheinungen. Worauf stützen Sie Ihr Vertrauen, Herr Dutschke, daß Ihre Revolution anders, sozusagen kompletter sich verwirklichen wird? Wie wollen Sie vermeiden, daß Ihr Fernziel, bevor man es erreicht, in der Ferne verschwindet?
Dutschke: Die Bedingungen, daß die russische Revolution scheiterte, kennen wir, es ist ein historisches Problem, wir können es erklären, warum es nicht gelang. Warum die Parteitheorie Lenins sich 1921 als eine entscheidende Schranke stellte. Warum das Zurückbleiben der industriellen Entwicklung in Rußland eine Voraussetzung auch für das Scheitern war. Das sind Faktoren, die wir nennen können. Es gibt keine Sicherheit für die Zukunft, daß wir nicht scheitern. Aber wenn die freie Gesellschaft sehr unwahrscheinlich ist, bedarf es um so größerer Anstrengungen, die historische Möglichkeit zu verwirklichen, ohne die Sicherheit zu haben, daß es wirklich gelingen wird. Es hängt vom Willen der Menschen ab, daß sie es schaffen, und wenn wir es nicht schaffen, dann haben wir eine historische Periode verloren. Als Alternative steht vielleicht Barbarei!
Gaus: Herr Dutschke, das ist der Punkt, auf den ich jetzt komme: auf dem Marsch zu Ihrem Fernziel, einem menschenfreundlichen, gutgesinnten Ziel, kann es Ihnen doch passieren, daß Sie höchst menschenfeindlich reagieren müssen. Sie können doch nicht vermeiden, möglicherweise Gefängnisse und Konzentrationslager errichten zu müssen, damit Sie auf Ihrem Marsch zu Ihrem paradiesischen Fernziel nicht unterbrochen werden.
Dutschke: Das mußten Revolutionen leisten, die Minderheitsrevolutionen waren. Der Unterschied zu den vergangenen Revolutionen besteht unter anderem darin, daß unser Prozeß der Revolution sehr lang sein wird, ein sehr langer Marsch sein wird. Und innerhalb dieses sehr langen Marsches wird sich das Problem der Bewußtwerdung stellen und gelöst werden, oder wir werden scheitern.
Gaus: Sie glauben – wenn ich Sie recht verstehe –, Ihre Revolution wird sich in sehr langen Etappen entwickeln, und es wird jeweils eine Etappe erst abgeschlossen sein, wenn die Menschheit den Bewußtseinsstand, den sie für diese Etappe braucht, erreicht hat. Wenn sie das aber erreicht hat, dann bedarf es keiner Gefängnisse und keiner Konzentrationslager. Richtig?
Dutschke: Ja. Das ist die Voraussetzung, um Gefängnisse als Gefängnisse beseitigen zu können.
Gaus: Wie lang wird dieser Marsch sein? Wann sind Sie da, 1980?
Dutschke: Sehen Sie, es gibt ein Datum, 1871 gab's mal die Pariser Commune ...
Gaus: Ja. Ein Vorbild für Sie!
Dutschke: ... ein Vorbild für uns. Eine Herrschaft der Produzenten über ihre Produkte. Keine Manipulation, ständige Wahl und Abwahl und so weiter ...
Gaus: Ich weiß. Es war eigentlich von allen Parallelerscheinungen das entscheidende ...
Dutschke: ... das entscheidende Modell für die Zukunft immer wieder zu erreichen. Und die Länge der Zeit wird uns nicht hindern, den Kampf zu führen. Es wird lang sein. Aber viele Menschen sind dabei, ihn schon zu führen, und nicht nur mit den etablierten Institutionen.
Gaus: Auf die Größe Ihrer Bewegung kommen wir noch. Vorerst gefragt: Der Unterschied zwischen Ihrer Generation, Herr Dutschke, Sie sind Jahrgang 1940, zwischen Ihrer Generation und der Generation der heute 40- bis 50jährigen, scheint mir darin zu bestehen, daß Sie, die Jüngeren, die aus den vergangenen Jahrzehnten gewonnene Einsicht in die Verbrauchtheit der Ideologien nicht besitzen. Sie sind ideologiefähig. Akzeptieren Sie diesen Generationsunterschied?
Dutschke: Ich werde ihn nicht als Generationsunterschied begreifen, ich würde sagen, es sind verschiedene Grunderfahrungen. Aber das ist nun nicht ohne weiteres ein Generationsunterschied. Grunderfahrungen können verschieden verarbeitet werden. Und die verschiedene Verarbeitung der Grunderfahrung wäre für mich die spezifische Differenz. Und so also vor 1914 gab es sicherlich auch eine Grunderfahrung, aber die wendete sich nicht gegen die politischen Institutionen. Wir wenden uns gegen diese.
Gaus: Ich behaupte nun aber, daß jede ideologisch geprägte Politik in unserer heutigen Zeit, in unseren Industriestaaten, im Grunde menschenfeindlich ist. Sie zwingt den Menschen auf eine vorgezeichnete Bahn, der er folgen muß, damit es den späteren Menschen einmal besser geht.
Dutschke: Nein, es wird nichts vorgezeichnet. Das Vorzeichnen ist ja gerade das Kennzeichen der etablierten Institutionen, die den Menschen zwingen, etwas anzunehmen. Unser Ausgangspunkt ist Selbstorganisation der eigenen Interessen und Bedürfnisse, so stellt sich das Problem der ...
Gaus: Dieses setzt aber eine Bewußtseinsanhebung des Menschen voraus. Zu dieser Bewußtseinsanhebung müssen Sie ihn mindestens überreden. Freiwillig tut er das ja nicht. Dazu müssen Sie ihn bringen. Wenn er das nun nicht will, weil er sagt, ich will lieber abends in Ruhe dasitzen und den Krimi im Fernsehen sehen, und will nicht Herrn Dutschke und seine Freunde mein Bewußtsein schulen lassen, was machen Sie dann?
Dutschke: Wir erheben nicht den Anspruch, die Gesamtbevölkerung aufklären zu wollen. Wir wissen, daß im Augenblick Minderheiten aufgeklärt werden können, aber Minderheiten, die geschichtlich die Chance haben, Mehrheiten zu werden. Heute sind wir nicht sehr viele. Aber das schließt doch nicht aus, daß immer mehr Menschen, besonders jetzt am Ende des sogenannten Wirtschaftswunders, besonders jetzt, wo international viele Ereignisse anstehen, die also bewußtseinsfördernd sind, warum soll das ausschließen, daß viele Menschen vielleicht unsere Einsichten als richtige begreifen.
Gaus: Ich habe zwei Bemerkungen dazu zu machen. Erstens: Wie wollen Sie es vermeiden, daß auch Sie in der Gefahr untergehen, als Minderheiten-Revolutionsbewegung Mehrheiten unterdrücken zu müssen, wenn Sie jemals an die Macht kommen würden? Wie wollen Sie die Gefahr vermeiden, der die anderen Revolutionen nach Ihrer eigenen Definition unterlegen sind? Nachdem Sie zugeben müssen, daß Sie ja jetzt nur mit einer Minderheit operieren können.
Dutschke: Heute können Minderheiten – heute können nur rechte Minderheiten siegen, aber nicht linke Minderheiten. In Griechenland konnte eine rechte Minderheit siegen. Aber es wird keinen Sieg linker Minderheiten heute im organisierten Spätkapitalismus geben können, wo die internationale Konterrevolution alle Bedingungen eingebaut hat, um Minderheitenrevolutionen zu vermeiden. Das ist gut, das ist richtig.
Gaus: Das heißt, die konterrevolutionäre Bewegung erspart Ihnen die Gefahr ...
Dutschke: ... so zu werden wie die Bolschewiki.
Gaus: Verstehe. Zweite Frage in dem Zusammenhang: Was gibt Ihnen den Mut, anzunehmen, daß die etwa verstört werdenden Menschen, durch eine Rezession, durch Wirtschaftsniedergang, durch Arbeitslosigkeit aufgeschreckten Menschen, zum Beispiel der Bundesrepublik, Ihren Appellen folgen werden, einem Appell, der da lautet: Du mußt lernen, dich selbst besser zu verstehen und deine Lage, anstatt dem bequemeren Weg zu folgen, nämlich Parteiführern etwa der NPD, die nicht verlangen, daß man lernt, sondern die das fertige Rezept anbieten.
Dutschke: Sie bieten keine fertigen Rezepte. Sie bieten irrationale und emotionale Erscheinungsformen.
Gaus: Das ist die Gefahr, von der ich spreche.
Dutschke: Ja, das ist die Gefahr, aber gerade die Gefahr ist unser Ausgangspunkt der Arbeit. Der Prozeß unserer Arbeit baut immer mehr die Chancen ab, daß NPD-mächtige Führer Massen erfassen können, baut vielmehr immer mehr die Chance auf, daß also Bewußtwerdung, vielleicht Ausgangspunkt linker Minderheiten im Sinne Unterrichtung der Mehrheiten, entstehen kann. Was gegenwärtig noch nicht der Fall ist.
Gaus: Herr Dutschke, die bürgerliche deutsche Jugend im großen Frieden von 1914 – wie ich das gerne nenne – war der damals herrschenden Verhältnisse so überdrüssig, daß sie literarisch nach einem Stahlbad gerufen hat, was sie dann in Langemark auch erhielt. Heute gibt es unter Ihren Freunden den Ruf nach zwei, drei und weiteren Vietnams, aus denen dann der neue Mensch, der die Welt rettet, hervorgehen soll. Ist das eine Parallele?
Dutschke: Nein, das ist keine Parallele, das ist ein Ruf der Revolutionäre in der Dritten Welt, in der unterentwickelten Welt. Wir rufen: Raus aus der NATO, um zu verhindern, daß wir in dieses "Stahlbad" hineinkommen. Das heißt, wenn wir 1969 weiter mitmachen, wird das unter anderem bedeuten, daß wir 1970/71 dabei sind, innerhalb der internationalen Konterrevolution, die niederschlagen muß Bewegungen in der Dritten Welt, auch in Lateinamerika, Afrika und Asien. Amerika allein ist nicht mehr in der Lage, die internationale Niederschlagung der sozialrevolutionären Bewegung zu leisten, Griechenland steht vor der Tür. Irgendwann – er ist nicht so weit, dieser Weg – wird die Bundesrepublik in diesem Schlamassel drin sein, wenn sie die NATO weiterhin als das entscheidende Konstituens ihrer politischen Herrschaft begreift.
Gaus: Sie schließen aus, Herr Dutschke, daß ein Teil Ihrer Anhängerschaft sich einfach langweilt im Wohlfahrtsstaat und deswegen Ihnen folgt?
Dutschke: Bei uns kann Langeweile ein Ausgangspunkt politischen Bewußtseins werden. Aber Langeweile bewußt gemacht, warum Langeweile, was stört einen an diesem Staat und was kann verbessert werden, was muß abgeschafft werden – macht aus Langeweile Bewußtheit. Und entwickelt politische Produktivkraft gegen diese Gesellschaft.
Gaus: Herr Dutschke, Sie stammen aus der Mark Brandenburg, haben in der DDR gelebt und gehörten als Schüler zur Jungen Gemeinde der Evangelischen Kirche, die in der DDR gelegentlich hart bedrängt wurde. Sie haben sich selbst einmal als ziemlich vom christlichen Sozialismus beeinflußt gezeichnet, wie ich das nachlesen konnte – und Sie waren couragiert genug, den Wehrdienst in der DDR zu verweigern. Würden Sie für Ihre revolutionären Ziele notfalls auch mit der Waffe in der Hand eintreten?
Dutschke: Klare Antwort: Wäre ich in Lateinamerika, würde ich mit der Waffe in der Hand kämpfen. Ich bin nicht in Lateinamerika, ich bin in der Bundesrepublik. Wir kämpfen dafür, daß es nie dazu kommt, daß Waffen in die Hand genommen werden müssen. Aber das liegt nicht bei uns. Wir sind nicht an der Macht. Die Menschen sind nicht bewußt sich ihres eigenen Schicksals, und so, wenn 1969 der NATO-Austritt nicht vollzogen wird, wenn wir reinkommen in den Prozeß der internationalen Auseinandersetzung – es ist sicher, daß wir dann Waffen benutzen werden, wenn bundesrepublikanische Truppen in Vietnam oder in Bolivien oder anderswo kämpfen – daß wir dann im eigenen Lande auch kämpfen werden.
Gaus: Dieses wollen Sie tun?
Dutschke: Wer hat das Leid dann heraufbeschworen? Nicht wir, wir versuchen es zu vermeiden. Es liegt bei den bestehenden Mächten, dieses Leid der Zukunft zu vermeiden und politische Alternativen zu entwickeln.
Gaus: Warum treten Sie aus der Politik nicht aus? Wäre das nicht ein größeres Mitleid mit den armen Teufeln, mit den Menschen, für die Sie so schreckliche Zeiten heraufkommen sehen? Warum sagen Sie nicht: Wir können es nicht ändern, laß es doch laufen!
Dutschke: Wir können es ändern. Wir sind nicht hoffnungslose Idioten der Geschichte, die unfähig sind, ihr eigenes Schicksal in die Hand zu nehmen. Das haben sie uns jahrhundertelang eingeredet. Viele geschichtliche Zeichen deuten darauf hin, daß die Geschichte einfach nicht ein ewiger Kreisel ist, wo nur immer das Negative triumphieren muß. Warum sollen wir vor dieser geschichtlichen Möglichkeit Halt machen und sagen: Steigen wir aus, wir schaffen es doch nicht. Irgendwann geht es mit dieser Welt zu Ende. Ganz im Gegenteil. Wir können eine Welt gestalten, wie sie die Welt noch nie gesehen hat, eine Welt, die sich auszeichnet, keinen Krieg mehr zu kennen, keinen Hunger mehr zu haben, und zwar in der ganzen Welt. Das ist unsere geschichtliche Möglichkeit – und da aussteigen? Ich bin kein Berufspolitiker, aber wir sind Menschen, die nicht wollen, daß diese Welt diesen Weg geht, darum werden wir kämpfen und haben wir angefangen zu kämpfen.
Gaus: Und werden Sie notfalls Menschen, die aussteigen möchten, zwingen, nicht auszusteigen ...
Dutschke: Niemand macht bei uns mit, der nicht mitmacht aus der eigenen Bewußtheit. Diejenigen, die Leid heraufbeschwören ... die Höhe der Gewalt wird bestimmt von der anderen Seite, nicht von uns. Und das ist der Ausgangspunkt unserer eigenen Einschätzung – der Rolle der Gewalt in der Geschichte.
Gaus: Glauben Sie, daß Lenin – wenn ich ihn 1907 oder besser 1903 vor der ersten Revolution hätte interviewen können, nicht ganz ähnlich argumentiert hätte wie Sie?
Dutschke: Nein, ich meine nicht. Lenin hätte bestimmt nicht so argumentieren können. Er war in der glücklicheren Lage, ein klares – oder relativ klares Bild – der Klassengesellschaft vor sich zu haben und eine proletarische Klasse, die in Bewegung zu setzen ist. Das Bild haben wir nicht. Können wir nicht haben, unser Prozeß ist viel komplizierter, schwieriger und länger.
Gaus: Das ist richtig. Aber in einem Punkte hätte er doch möglicherweise so argumentiert wie Sie, nämlich in jenem, daß das Ziel seiner Revolution die Friedbarmachung der Welt sein sollte.
Dutschke: Ganz sicher war es ein Ziel des Sozialismus, solange er existiert, eine Welt zu schaffen, die sich dadurch auszeichnet, daß sie den Krieg beseitigt hat.
Gaus: Ja. Also Lenin hätte in diesem Punkte so argumentiert wie Sie.
Dutschke: Nur in der Kontinuität des internationalen Sozialismus, der lange vor Lenin begonnen hat.
Gaus: Richtig. Und Sie sagen, daß es Ihnen nicht so ergeht, wie es Lenin und seiner Revolution ergangen ist, liegt darin, daß Sie niemals als Minderheit Mehrheiten vergewaltigen wollen.
Dutschke: Wir können nie als Minderheit an die Macht kommen, wollen es nicht, und darin liegt unsere große Chance.
Gaus: Das stimmt. Was hat Sie von der christlichen, von der evangelischen Basis Ihres ersten gesellschaftspolitischen Engagements, der Zugehörigkeit zur Jungen Gemeinde, weggeführt?
Dutschke: Die Religion, die für mich in der Tat eine große Rolle spielte, ist vielleicht 'ne phantastische Erklärung des Wesens des Menschen und seiner Möglichkeiten. Aber diese phantastische Erklärung muß ja nun realgeschichtlich verwirklicht werden. Und so geht also das, was ich in der Vergangenheit als Christ begriffen habe, ein in meine politische Arbeit auf dem Wege zur Realisierung vielleicht doch des Friedens auf Erden. Wenn Sie so wollen.
Gaus: Sie sind nach wie vor ein Christ?
Dutschke: Was heißt Christ? Heute sind Christen und Marxisten in diesen entscheidenden Grundfragen, in diesen geradezu emanzipatorischen Interessen – Friede, und es gibt noch andere –, da sind wir uns einig. Wir kämpfen für gemeinsame Ziele. Der Pater in Kolumbien, der an der Spitze der Guerillas steht und mit der Waffe in der Hand kämpft, ist ein Christ! Und der revolutionäre Marxist anderswo ist auch ein ...
Gaus: Welche Rolle spielt aber für Sie das Transzendente?
Dutschke: Ja, für mich war die Gottesfrage nie eine Frage. Für mich war immer die entscheidende, schon realgeschichtliche Frage: Was hatte Jesus da eigentlich getrieben? Wie wollte er seine Gesellschaft verändern und welche Mittel benutzte er? Das war für mich immer schon die entscheidende Frage. Die Frage der Transzendenz ist für mich auch 'ne realgeschichtliche Frage, wie ist die bestehende Gesellschaft zu transzendieren, einen neuen Entwurf zu machen einer zukünftigen Gesellschaft, das ist vielleicht materialistische Transzendenz ...
Gaus: Glauben Sie, daß Mitleid die herrschende Triebfeder Ihres politischen Handelns ist?
Dutschke: Ich denke, daß Mitleid nicht die entscheidende ist, ich meine, es gibt nicht nur ein geschichtliches Gesetz des gegenseitigen Kampfes, sondern vielleicht auch ein geschichtliches Gesetz der gegenseitigen Hilfe und Solidarität. Und dieses Gesetz zur realen Wirklichkeit zu machen, daß die Menschen als Brüder wirklich miteinander leben, scheint mir eine wichtige Triebkraft meines Handelns zu sein.
Gaus: Was hat an den Berliner Verhältnissen – Sie studieren in West-Berlin an der Universität – und an den bundesrepublikanischen Verhältnissen den stärksten Abscheu bei Ihnen hervorgerufen?
Dutschke: Ja – vielleicht war es die Unfähigkeit der Parteien, mir etwas zu zeigen, was attraktiv gewesen wäre. Attraktiv in einem spezifischen Sinne, was mich betrifft, was mich engagiert hätte. Aber das ist doch das Schlimme bei unseren Parteien, daß sie unfähig sind, sogar der Parteibevölkerung – ganz zu schweigen von der Gesamtbevölkerung – Interessen, Bedürfnisse sichtbar zu machen, mit denen zu arbeiten, die Menschen zu betreffen, sie zu engagieren, ein eigenes ...
Gaus: Sie beklagen jetzt den Mangel an einer gesellschaftspolitischen Utopie. In allen Ehren gesagt.
Dutschke: Ja – eben das verstehe ich. Nicht nur gesellschaftliche Utopie, vielmehr die Fähigkeit – die Unfähigkeit – der Parteien, das, was sie als Politik bezeichnen, als etwas herauszuarbeiten, was die Menschen betrifft. Warum sind die Wahlversammlungen so langweilig? Warum gibt es Wahlen, die sich in nichts unterscheiden von stalinistischen Parteitagswahlen? Warum ist da etwas in den Wahlen, was eigentlich nur bedeutet: Na, ja, man geht halt an diesem Tag hin. Es ist aber bedeutungslos für den einzelnen Menschen, denn er weiß, er entscheidet damit nicht über das Schicksal dieser Nation. Er hat eigentlich schon Ja gesagt zu diesem Schwindel, weiß aber im Grunde, daß es ein Schwindel ist.
Gaus: Aber man läßt ihn gewähren, er lebt, nachdem er so lange überfordert worden ist.
Dutschke: Er ist nicht überfordert worden.
Gaus: Ich würde sagen: bis 1945 auf eine schreckliche Weise überfordert worden.
Dutschke: Wir können auch dafür Gründe nennen, warum es zu einem Scheitern der Parteien der20er und 30er Jahre, der SPD und KPD kam. Warum es der NSDAP eben möglich war, gerade die Massen in die faschistische Richtung zu lenken und die Keimformen des antikapitalistischen Bewußtseins in Faschismus, in die höchste Perversion des Antisemitismus zu führen. Das können wir erklären ...
Gaus: Infolge einer durch und durch ideologisierten Politik. Und meine Sorge bei Ihren Wünschen ist die ideologische Grundlage.
Dutschke: Nein, nicht ideologisierte Politik, sondern bestimmte Prinzipien politischer Tätigkeit. Nicht Entfaltung der Selbsttätigkeit der Massen, sondern Führerprinzip und terroristischer Druck auf alle Menschen. Das waren die entscheidenden Komponenten faschistischen Handelns. Bei uns sind die entscheidenden Komponenten: Selbsttätigkeit, Selbstorganisation, Entfaltung der Initiative und der Bewußtheit des Menschen und kein Führerprinzip ...
Gaus: Wir sind uns einig, Sie sprechen von Ihren Absichten ...
Dutschke: ... und von dem, was vielleicht schon in Ansätzen sich ...
Gaus: ... ob sie sich realisieren lassen, wollen wir abwarten. Wie groß ist Ihr Anhang heute in West-Berlin und in der Bundesrepublik?
Dutschke: Ich sage es in Relation. Wir haben in West-Berlin 15 bis 20 Menschen, die wirklich hart arbeiten. Das heißt, sie sind nicht Berufspolitiker, sie sind aber Menschen, die denken, daß sie ihre gesamte Zeit und Tätigkeit und ihr Studium für diese Arbeit der Bewußtwerdung zur Verfügung stellen.
Gaus: Darin liegt doch eine schreiende Ungerechtigkeit. Sie sagen: Diese 15 Menschen widmen – wofür ich jeden Respekt habe – ihre ganze Arbeitskraft dieser politischen Bildungsarbeit, von der Sie sagen, sie ist die Voraussetzung für Ihre Bewegung. Sie sagen aber auch: Berufspolitiker sind sie nicht. Das ist ungerecht gegen Berufspolitiker.
Dutschke: Ja, aber wir kennen die Berufspolitiker vielleicht seit Jahrhunderten, was sie getrieben haben ...
Gaus: Wie unterscheiden sich Berufspolitiker – und jetzt nennen Sie da auch den Idealtyp – von diesen 15 Leuten, zu denen Rudi Dutschke gehört?
Dutschke: Wenn Sie den Berufspolitiker als Idealtyp – nehmen Sie einen Kennedy, einen Rathenau oder was auch immer – das sind Leute, deren materielle Grundlage, Reproduktion, finanzielle Grundlage etc. von vornherein durch eigene Tradition der Familie absolut abgesichert war.
Gaus: Können Sie für Erich Mende nicht sagen.
Dutschke: Den habe ich auch nicht genannt.
Gaus: Aber es war ein Berufspolitiker.
Dutschke: Es war ein Berufspolitiker. Aber diese Berufspolitiker, und gerade wenn Sie Mende nehmen – vielleicht ein typisches Beispiel dafür –, die zeichnen sich gerade dadurch aus, daß sie in ihrem Leben nie den Versuch unternommen haben, den Begriff des Berufspolitikers zu kombinieren mit dem Begriff der geschichtlichen Wahrheit und der Notwendigkeit, dem Volk, das sie repräsentieren wollen, immer zu sagen, wo es steht. Was eigentlich los ist ... was verbessert werden ...
Gaus: Ich glaube, daß das Mende bestreiten würde.
Dutschke: Ja, das glaube ich auch.
Gaus: Aber wie groß ist Ihr Anhang über die 15 hinaus?
Dutschke: Sehen Sie – wir haben vielleicht 150 bis 200 Aktive, vielleicht ist die Relationszahl interessant, Sie kennen in Amerika die Black-Power-Bewegung, dort gibt es 90 ganz Aktive und vielleicht 300, 400 Aktive. Die Relationszahl – also West-Berlin, 15, 150, 300 Mitglieder und alles in allem – da der SDS die Bewegung nicht repräsentiert, vielleicht der bewußteste Teil der Bewegung ist, können wir sagen an der Universität vier- bis fünftausend wirklich engagierte Menschen, die mitmachen in den Aufklärungsveranstaltungen, die teilnehmen an den Aktionen und bereit sind, dafür auch Konsequenzen zu ziehen.
Gaus: Wie viel Menschen können Sie in welcher Zeit in der Bundesrepublik auf die Straße bringen, um eine Demonstration – etwa gegen Vietnam, gegen die amerikanische Vietnampolitik ...
Dutschke: Wir sind keine leninistische Kaderpartei, wir sind eine ganz dezentralisierte Organisation – das ist ein großer Vorteil – ich kann also nicht sagen, was wir von heute auf morgen in der Bundesrepublik mobilisieren können, ich kann sagen, daß es sehr schnell bei uns geht, weil wir gerade dezentralisiert aufgebaut sind und jederzeit in der Lage sind, die Bewegung in Bewegung zu setzen, das heißt die Menschen sind bereit, immer mitzumachen, wir brauchen sie nicht zu zwingen, es ist eine freiwillige Angelegenheit.
Gaus: Sie brauchen eine längere Anlaufzeit, Sie müssen die Leute überzeugen. Wenn Sie sie überzeugt haben, wie viel können Sie auf die Straße bringen?
Dutschke: In West-Berlin können wir von heute auf morgen vier- bis sechstausend auf die Straße bringen. Und welche Partei kann heute – und das wäre nicht uninteressant – welche Partei kann in der Bundesrepublik auf vier- bis sechstausend bewußte Menschen zurückgreifen.
Gaus: Wer finanziert Sie? Woher kriegen Sie und Ihre Freunde das Geld für die Aktionen?
Dutschke: Natürlich gibt es noch immer, in der Springer-Presse speziell, den Hinweis, daß wir doch – irgendwie doch – ostfinanzierte Leute sind.
Gaus: Ich habe das nicht gesagt, darf ich das ausdrücklich erwähnen?
Dutschke: Ja, das müssen Sie sogar erwähnen. Ich denke, daß dieses Vorurteil, was nach unten immer wieder weitergegeben wird, und von dort reproduziert wird, absolut unhaltbar ist. Wir reproduzieren unsere Finanzen aus eigener Kraft. Wir haben Mitgliedsbeiträge und bekommen Spenden von Liberalen, von Linken, die im Apparat ein bißchen vereinsamt sind, Angst haben, Rückversicherer, Schuldgefühle, die Sympathien mit uns haben, geben Spenden, und so können wir uns über Wasser halten. Aber es ist da – und da sehen Sie den Unterschied zu den Berufspolitikern – unser Rückgriff auf das, was als Basis bei uns ist; es sind die Menschen, die bereit sind, mitzumachen.
Gaus: Hat Augstein schon mal gespendet?
Dutschke: Sicherlich hat Augstein auch schon gespendet.
Gaus: Ich habe gehört, daß Sie im Wahlkampf 1969 keine Partei gründen wollen – nicht als Partei sich beteiligen wollen. Was werden Sie tun im Wahlkampf 1969?
Dutschke: Wenn wir bis dahin noch etwas tun dürfen – ist ja nicht auszuschließen, daß das bis dahin anders sein wird –, werden wir versuchen, den Wahlkampf zu benutzen, um zu zeigen, daß durch Wahlen in diesem Lande sich nichts ändern kann. Daß also unsere Aktivitäten innerhalb des Wahlkampfes uns die Möglichkeit geben sollen, durch Bewußtseinsprozesse und durch Aktionen unsere Basis zu verbreitern und das Potential, das wir gewinnen, nicht in die bestehenden Institutionen hineinzubringen, sondern in unsere eigenen Institutionen, unsere politischen Clubs, unsere kleinen Ansätze von Selbstorganisation.
Dort werden wir es versuchen hineinzubringen und so etwas vielleicht wie eine Subkultur – ein Gegenmilieu – soll heißen eine Gesamtheit von Zusammenhalten zu schaffen, wo die Menschen miteinander vielleicht besser leben, eben gemeinsam bestimmte Sachen tun, eigene Einrichtungen haben, ob nun Kinos oder eigene Stätten, wo wir uns treffen, uns ausbilden, wo wir zusammen mit jungen Arbeiterinnen und Arbeitern und Angestellten politische Diskussionen und Vorbereitungen für andere Aktionen treffen, das ist unser Weg, der außerhalb der bestehenden Institutionen vor sich geht.
Gaus: Erlauben Sie mir eine letzte Frage, Herr Dutschke: Würden Sie gern die etablierten Kräfte der Bundesrepublik soweit provozieren, daß Sie ins Gefängnis gesperrt werden?
Dutschke: Ich war schon im Gefängnis, und keiner von uns hat Angst davor. Es bedeutet nicht mehr sehr viel, wenn wir etwas tun, und wir werden angeklagt und gehen dann ins Gefängnis. Dann gibt es am nächsten Tag 100, 200, 300, vielleicht auch mehr, Selbstanzeigen der Freunde, die daran mitbeteiligt waren, so daß der Einzelne als Einzelner nie vereinzelt, daß er – wie in der Vergangenheit – einfach von der Bürokratie, von der staatlichen Exekutive vereinnahmt werden kann, kaputtgemacht werden kann. Wir sind nicht mehr so, daß wir Angst hätten, das Gefängnis nicht in Kauf zu nehmen. Es ist für uns keine Alternative, wir führen unseren Kampf, das Gefängnis steckt mit drin; wenn es sein muß, werden wir auch das nehmen, aber das hindert uns nicht, den Kampf weiterzuführen.