Sendung vom 31.05.1994 - Königsdorf, Helga
Günter Gaus im Gespräch mit Helga Königsdorf
In diesem vereinigten Land mit aller Kritik nun angekommen
Helga Königsdorf, geboren 1938 in Gera/Thüringen in einer eher großbürgerlichen Familie, Physikerin und Mathematikerin, Professur an der Akademie der Wissenschaften der DDR. Seit 1978 außerdem Schriftstellerin, seit 1990 freie Schriftstellerin. Mitglied der SED, in der PDS geblieben, später ausgetreten. Sie hat nachgedacht über das, was in der DDR und seit der Wende in Deutschland vorgegangen ist.
Gaus: Schriftstellerinnen und Schriftsteller waren in der DDR wichtige Bezugs- und Orientierungspersonen der Gesellschaft. Kränkte es Sie als Schriftstellerin, dass Ihr Berufsstand im pluralistischen System, in dem Sie heute leben, anscheinend von geringerer gesellschaftlicher Bedeutung ist?
Königsdorf: Zu mir kam 1990 bei einer Lesung eine Frau mit einem großen Blumenstrauß und bedankte sich für die Lebenshilfe, die ich ihr in der Vergangenheit gegeben hätte. Und sie sagte: Jetzt brauche ich Sie ja nicht mehr, Sie werden das doch hoffentlich verstehen. Das war natürlich etwas überraschend, und ich habe wirklich versucht, das zu verstehen. Ich möchte meine Antwort auf Ihre Frage in zwei Teile aufteilen: in das Prestige, das mit dem Beruf verbunden ist, und in die Aufgabe, die mit dem Beruf verbunden ist. Das Prestige ist tatsächlich geringer geworden. Das Prestige des Menschen wird ja nicht so sehr danach bemessen, was er leistet, sondern was er mit seiner Leistung verdient. Und Schriftsteller werden nicht sehr gut bezahlt. Diesen Prestigeverlust, diesen Verlust an Sozialprestige empfinde ich schon. Ich ertappe mich dabei, daß ich manchmal wieder meine wissenschaftlichen Titel gebrauche, was ich schon gar nicht mehr gemacht hatte. Und das schmerzt schon ein bisschen. Aber ich glaube, die Aufgabe, die wir als Schriftsteller an sich hätten, füllen wir bisher in keiner Weise aus. Sie ist noch größer als früher. Sie ist einfach sehr groß.
Gaus: Ich möchte Sie zitieren. Sie haben in der frühen Wendezeit geschrieben, im Februar 1990: ‚Wir’ – gemeint sind die Schriftsteller – ‚sind ein Teil des Volkes und zugleich sein Anwalt. Wir werden gebraucht. Gebrauchtwerden deutet immer auf ein Defizit, sagen wir also: Wir werden wieder gebraucht werden, leider.’
Sie haben eben angedeutet, daß Sie eigentlich gebraucht würden, aber dieses Defizit ist derzeit verdeckt, und deswegen macht man von dem, was der Schriftsteller leisten könnte, keinen Gebrauch?
Königsdorf: Ja, und wir selbst merken es auch nicht genug. Wir selbst werden dem auch nicht genug gerecht. Man muss jetzt einfach laut schreien, um gehört zu werden, und gleichzeitig die leisen Töne in seiner Literatur bewahren.
Gaus: Woran liegt es, daß heute ein Schriftsteller dieser Aufgabe nicht gerecht wird?
Königsdorf: Ich glaube, das liegt daran, daß diese Aufgabe generell noch nicht so klar erkannt wird, weder von den Lesern, noch von den Schriftstellern. Man muss jetzt selbst Bewegung sein. Früher konnte man mit einer Bewegung zusammensein. Man war mit den Lesern im Bunde.
Gaus: Sie sprechen immer von den Lesern in der DDR?
Königsdorf: Ja, in der DDR ...
Gaus: … und von den DDR-Schriftstellern ...
Königsdorf: … und von den DDR-Schriftstellern, weil Sie ja davon ausgegangen sind. Und jetzt muss man selbst Bewegung sein und kann natürlich auch völlig allein bleiben.
Ich sehe einen großen Angriff auf die Kultur. Die Kultur wird stark vermarktet, die Kunst wird vermarktet. Die Kunst wird eine Möglichkeit, Geld anzulegen. Etwas, was Geld bringt, wird zum Kunstwerk erklärt, und die Spitze wäre, wenn Geld selbst zum Super-Kunstwerk würde. Das ist ein Angriff auf die Kultur. Außerdem wird eine Massenkunst auf die Menschen losgelassen, die für die Einschaltquote und nicht für das Individuum produziert ist.
Gaus: Klingt aus dem, was Sie sagen – und Sie haben die Wende doch durchaus begrüßt – Verbitterung?
Königsdorf: Nein, gar nicht. Ich finde sogar, die Aufgabe, die vor uns steht, ist eine Herausforderung. Es ist einfach auch eine notwendige Auseinandersetzung mit der Zeit.
Gaus: Verhalten sich die Schriftsteller aus der ehemaligen DDR in dem Sinne, wie Sie die Aufgabe definieren, oder verhalten sie sich derzeit falsch, sind sie zu sehr mit sich selber beschäftigt und nicht mit dem, was die Gesellschaft umtreibt?
Königsdorf: Das zu beantworten ist ein bisschen schwierig: Ja. Sie haben sich zu lange mit sich selber beschäftigt. Man muss sich natürlich auch mit sich selbst beschäftigen. Das kann man nicht ausklammern. Man muss seine eigene Position wiederfinden, um sich selbst auch in seinem Werdegang zu verstehen. Es ist auch deshalb notwendig, um sich anderem zuwenden zu können.
Gaus: Aber so, wie Sie sich als Schriftstellerin definieren, die in der DDR begonnen hat, gehören die gesellschaftliche Bindung und auch das gesellschaftliche Verantwortungsgefühl zur Arbeit, zum Werk des Schriftstellers. Es gibt allerdings auch genau gegenteilige Positionen, die den Schriftsteller per Definition zu einem Wesen machen, das nur seiner Innerlichkeit oder jedenfalls nur sich selbst verpflichtet ist. Halten Sie die gesellschaftliche Beziehung für etwas, das sich gerade auch im pluralistischen System behaupten muss oder wieder durchsetzen sollte?
Königsdorf: Wir neigen immer zu Extremen. Ich glaube, die Wahrheit, das Richtige – wenn es das Richtige überhaupt gibt – liegt immer irgendwo im Kompromiss. Natürlich muss der Schriftsteller aus seinem Inneren und aus seinen Erfahrungen mit sich selbst schöpfen. Das Selbst ist ja das Experimentierfeld. Aber er wird automatisch durch sein Schreiben, durch die Reaktion auf sein Schreiben, durch seine Wirklichkeitseinbindung mit Vorgängen konfrontiert, bei denen er Verantwortung übernehmen muss.
Gaus: Wenn ein westdeutscher Kritiker, ein Rezensent, aus dem, was Sie sagen, schlussfolgern würde: Die Helga Königsdorf ist gestrig geblieben. Würde Sie das schmerzen, wäre es Ihnen gleichgültig, oder würden Sie sagen: Dieser Kritiker täuscht sich?
Königsdorf: Ich würde sagen: Dieser Kritiker täuscht sich. Aber natürlich hat ein Kritiker immer eine gewisse Macht.
Gaus: Sie haben in einer Aufsatzsammlung, die im Jahr 1990 erschienen ist und aus der ich eben zitiert habe, als ich über die Funktion der Schriftsteller, über das Gebrauchtwerden sprach, einen Titel gewählt: „Aus dem Dilemma eine Chance machen.“ Was drückt sich in diesem Titel aus? Bezieht er sich allein auf die damalige Umbruchsituation, oder könnte er als Motto über Ihrem ganzen Leben stehen, als Ausdruck einer Entschlossenheit, aus so gut wie allem, jedenfalls aus den Schwierigkeiten, noch den Ansporn zum Besseren zu nehmen?
Königsdorf: Das haben Sie ganz schön gesagt. Das, finde ich, ist schon ein Prinzip bei mir, daß ich irgendwie versuche ... Erfolg heißt für mich in erster Linie, mit Niederlagen fertig zu werden …
Gaus: ... Erfolg besteht darin, daß man mit einer Niederlage fertig wird...
Königsdorf: ... mit Niederlagen fertig werden, heißt aber, aus Niederlagen Schlüsse ziehen, Niederlagen zu analysieren und zu lernen und auch ein bisschen über sich lachen zu können.
Gaus: Ich zitiere aus einem Diskussionsbeitrag von Ihnen, auch aus der frühen Wendezeit. Im Schriftstellerverband der DDR, Berliner Sektion, haben Sie im November 1989, wenige Tage nach dem Fall der Mauer, gesagt: „Die Menschen in unserem Land sind schöner geworden. Sie tragen den Kopf anders, mit einem neuen Selbstbewusstsein. Das Bedürfnis, Verantwortung zu übernehmen, ja, sich einfach zu nehmen, ist groß.“
Die Schönheit liegt im Auge des Betrachters. Was für Sie Erkennbares hat sich an dieser damaligen Schönheit, die Sie gesehen haben, verändert? Wenn sich etwas verändert hat, bedeutet das eine Niederlage, mit der Sie fertig werden müssen?
Königsdorf: Ich glaube, die Schönheit lag nicht nur im Auge des Betrachters. Es war damals eine unbeschreibliche Aufbruchstimmung, ein illusionärer Moment. Solche Momente gibt es in der Geschichte. Ich halte es nach wie vor für ein großes Glück, so einen Moment miterlebt zu haben. Das ist aber immer auch ein illusionärer Moment, und es bleibt nicht bei diesen Schönheitsaugenblicken. Dann kommen der Alltag, die Mühen der Ebene wirklich wieder, und auch die „Macher“ sind wieder da. Ob man das nun Revolution nennen möchte oder nicht, ist Geschmackssache. Es ist natürlich, daß die Revolution ihre Kinder in die Ecke stellt, früher wurden sie geköpft oder verbannt oder irgendwas. Die Kinder der Revolution sind nie dazu geeignet, die Sache später in die Hand zu nehmen. Das ist, glaube ich, gesetzmäßig. Weil eben die Illusionen da sind. Aber so ein illusionärer Moment ist etwas sehr Schönes, an das man sich gern erinnert.
Gaus: Sind Sie traurig, daß sich die Schönheit nicht hat halten können?
Königsdorf: Ich war zwischendurch sicher auch traurig. Aber ich bin doch zu sehr Realist, um nicht zu sagen: Enttäuschungen sind auch immer ein falsches Bild von Wirklichkeit. Und dann habe ich zu gern Schwierigkeiten, habe ich zu gern Probleme und Aufgaben, und irgendwie finde ich, daß die Zeit jetzt auch schon wieder sehr herausfordernd ist.
Gaus: Können Sie die Herausforderung, die Ihnen derzeit als die drängendste erscheint, in Ihrer Umgebung, in Ihrer Gesellschaft, in der vereinigten deutschen Gesellschaft, im ostdeutschen Teil davon, wie Sie wollen, können Sie die Herausforderung, die Ihnen die drängendste zu sein scheint, benennen?
Königsdorf: Wenn ich die Prozesse der deutschen Vereinigung aus der Sicht der zukünftigen Aufgaben, die vor uns stehen, beurteile oder zu werten versuche, nicht aus der Vergangenheit, sondern von der Zukunft her, hat sich doch einiges gezeigt, was bedenklich ist, was mir Sorgen macht. Zum Beispiel eine mangelnde Konfliktfähigkeit und eine mangelnde soziale Innovationsfähigkeit und eine mangelnde Gesprächsbereitschaft, auch die mangelnde Fähigkeit, etwas in Frage stellen zu können, ein Mangel an kritischer Kultur. Das erscheint mir das Dringendste zu sein.
Gaus: Worauf setzen Sie Ihre Hoffnung? Auf Zeitablauf, darauf, daß die jüngeren Leute die Probleme, für die die Älteren keine Konfliktfähigkeit haben, nicht mehr kennen und deswegen auch nicht an dem Mangel an Konfliktfähigkeit leiden? Ist das ein Zeitablauf, der das heilt, erhoffen Sie Heilung auf andere Art, oder sagen Sie: Wir werden lernen müssen, uns mit diesen ungelösten Konflikten und dem Mangel an Konfliktfähigkeit einzurichten?
Königsdorf: Mit ungelösten Konflikten umzugehen, ist das erste, was nötig ist, aber man muss sich auch nicht mit ihnen abfinden. Das Sichabfinden würde zu einer Sterilität in dieser Gesellschaft führen. Das geht nicht; die Probleme werden uns zum Handeln zwingen. Wir werden so viele Konflikte haben, daß wir konfliktfähig werden müssen. Der Gang der Dinge wird uns dazu zwingen.
Gaus: Sie sagen das so, als ob Sie – und das ist überraschend, wenn man die Schwierigkeiten Ihrer Existenz, Ihren Werdegang, Ihre Entwicklung bedenkt – ganz getrost dabei wären, diese Schwierigkeiten zu erwarten, und nicht in Ängsten?
Königsdorf: Das ist für mich ein bisschen eine Frage der Haltung, nicht so sehr eine Frage des Glaubens, daß es gut oder schlecht ausgeht. Darüber möchte ich mir gar keine Gedanken machen. Ich möchte einfach die Hoffnung nicht aufgeben. Es ist auch eine Frage der Würde, wie man sich den Problemen stellt, die ohne Zweifel kommen werden. Ob man sagt, man wird hoffen, daß es doch Möglichkeiten gibt, diese Probleme, die auf die Welt zukommen, zu lösen und auch alles tun – oder ob man sagt, es hat doch keinen Zweck. Da bin ich lieber derjenige, der positiv denkt.
Gaus: Sind Sie manchmal misstrauisch gegenüber sich selber, gegenüber Ihren Gefühlen? Sind Sie im Laufe des Lebens misstrauischer geworden, oder sagen Sie: Ich will es mir nicht nehmen lassen, hohe Erwartungen zu haben, auch was zum Beispiel die Umbruchsituation und die Schönheit angeht, selbst wenn ich weiß, daß die hohen Erwartungen mich trügen? – Es ist ein Interview zur Person, Frau Königsdorf.
Königsdorf: Ja, ich verstehe. Ich bin immer wieder größenwahnsinnig. Aber ich bin auch immer wieder bereit, Fehler einzusehen. Ich habe ein bisschen Schwierigkeiten mit der Wirklichkeit, die habe ich eigentlich immer gehabt. Vielleicht, weil ich mit der gefühlsmäßigen Beurteilung der Wirklichkeit von Anfang an Schwierigkeiten hatte. Wenn man Wirklichkeit nur mit dem Verstand beurteilt, dann sind zu einer Beobachtung der Wirklichkeit mehrere Hypothesen möglich. Und man braucht schon das Gefühl, um sie zusammenzubinden, um sie zu verdichten.
Gaus: Sie wollten eigentlich Germanistik studieren und haben Physik studiert, eine wirklich strenge Wissenschaft, und sich dann aus Ihrem ersten Beruf eine noch strengere erwählt, die Mathematik. Haben Sie eigentlich schon zu jener Zeit, als Sie Physik im Hauptfach studierten, als Sie Mathematikerin wurden, dieses Bedürfnis gehabt: Zusammenbinden – den Sinn stiften muss das Gefühl?
Königsdorf: Nein, damals nicht. Damals war ich doch durch diese berufliche Einbindung gar nicht dazu gezwungen.
Gaus: Sie haben es nicht gebraucht: Als Sie es nicht gebraucht haben, haben Sie es nicht genommen!
Königsdorf: Ich habe es nicht als Mangel empfunden. Aber beim Schreiben war das ganz anders. Da habe ich das Bedürfnis plötzlich gehabt, und es stark empfunden. Es war sogar so, daß ich eine Zeitlang, als ich noch geschrieben habe, das Gefühl hatte, ich wechsle zwischen zwei Existenzen hin und her. Das ging sogar soweit, daß bei der Änderung des Namens praktisch ein Umschaltvorgang in mir war.
Gaus: Was meinen Sie, wenn Sie sagen: als ich nicht geschrieben habe?
Königsdorf: Als ich noch beides getan habe.
Gaus: Ich habe noch eine allgemeine Bitte um Auskunft, die wiederum zurückgeht auf die Wendezeit. Versuchen Sie zu berichten, zu erzählen, wenn das möglich ist, wie es Ihnen seit der Wende in Kopf und Gemüt mit dem Gefühl ergangen ist? Wenn Sie zurückblicken auf die Jahre: Welche Entwicklungen haben Ihre Empfindungen und Gedanken seither genommen?
Königsdorf: Es war am Anfang ein merkwürdiges Auseinanderfallen von Verstand und Gefühl. Weil ich vieles vorgedacht hatte, habe ich ziemlich schnell versucht, das Neue vom Verstand her zu verarbeiten. Die Gefühle kamen hinterher. Es war ein sehr starkes Gefühl von Heimatverlust da. Es war mir so, als ob ich ein steiniges Land bearbeitet hätte, das nie geblüht hat, und dann kommt jemand und sagt: Ich lege dir jetzt hier einen großen Park an. Es war so ein Gefühl, daß ich irgendetwas verliere. Das ist, bei aller Einsicht, die der Verstand geliefert hat, natürlich doch auch ein Kummer gewesen. Ganz allmählich haben sich diese Gefühle verändert. Und jetzt habe ich das Gefühl: Ich bin hier angekommen in dem Land...
Gaus: ... in dem vereinigten Land ...
Königsdorf: … in dem vereinigten Land. Ich habe das Gefühl, ich kann mich hier einmischen, es gehört zu mir. In Thüringen sagt man: Kehr doch vor deiner eigenen Tür! Dieses vereinigte Deutschland ist jetzt vor meiner Tür. Das ist jetzt das, wo ich kehren darf, wo ich mich einmischen darf. Und das ist auch ein sehr schönes Gefühl. Aber kein leichtes Gefühl. Ich betrachte es als Aufgabe.
Gaus: Haben Sie manchmal den Eindruck von Ohnmacht?
Königsdorf: Manchmal, wenn ich schrieb, hatte ich das Gefühl, jetzt nicht mehr so, weil es sich schon geändert hat. Als die Leser am Anfang alle erst einmal die neuen Bücher gelesen haben, die ihnen so lange vorenthalten worden waren, oder die zu lesen sie auch keine Zeit gehabt hatten. Ich hatte auch keine Zeit zu lesen, so daß ich das verstand. Da hatte ich manchmal das Gefühl, ich schreibe in eine Leere hinein. Es war schon schwer, es war schon manchmal schwer, aber jetzt habe ich das Gefühl von Ohnmacht nicht mehr. Allerdings habe ich auch nicht das Gefühl von Macht. Ich habe nur das Gefühl von Machen. Ich mache etwas, und das ist mir wichtig. Und irgendwie ist das schon das Gefühl an sich.
Gaus: Ist das Machen für Sie wichtig, weil Sie sagen: ich werde damit dem Auftrag gerecht, den ich mir selber gestellt habe mit meinem Leben, – oder ist es für Sie auch wichtig, weil Sie immer noch auf eine Wirkung hoffen, die über die persönliche Pflichterfüllung hinausgeht?
Königsdorf: Erstmal habe ich großen Spaß am Schreiben, ich habe großen Spaß, über die jetzige Welt nachzudenken und meine Weltsicht wieder neu zu formieren. Es macht mir wirklich so viel Freude, daß ich zunächst sagen kann: Ich habe meinen Spaß daran gehabt. Aber ein persönlicher Auftrag ist natürlich auch ein bisschen dabei. Ich hoffe, eine Wirkung zu hinterlassen. Ob das eintritt oder nicht, ist vielleicht gar nicht so wichtig. Ich bin ja schon bei der nächsten Sache und hoffe, wieder eine Wirkung zu haben.
Gaus: Es ist eine unfaire Frage, die zu beantworten vielleicht gar nicht möglich ist: Können Sie die Wirkung, auf die Sie hoffen, benennen? Welche Wirkung möchten Sie erzielen?
Königsdorf: Ich möchte die Wirkung erzielen, daß die Menschen sich der Probleme bewusst werden, daß aus den Erfahrungen, die wir gemacht haben, Erkenntnis wird, die uns hilft, die Aufgaben der Zukunft zu lösen. Das klingt vielleicht sehr gewaltig. Es ist doch aber so, daß ich allein, wenn ich in meinen Erzählungen kleine Alltagsgeschichten festhalte, die im Geschichtsbild gar nicht vorkommen, schon diesem Zweck diene.
Gaus: Sie wollen dazu beitragen und das soll die Wirkung sein, die Sie erzeugen, daß wir Menschen aus dem, was wir an Erfahrungen haben, etwas lernen.
Königsdorf: Ja.
Gaus: Nun gibt es Leute, ich gehöre in Grenzen dazu, die sagen: Ich kann nicht sehen, daß wir aus Erfahrung etwas lernen. Sie sagen das Gegenteil.
Königsdorf: Ich glaube, daß das Wissen – es ist ja explodiert in den letzten Jahren –, daß das Wissen ein kollektives Wissen ist, das nur noch kollektiv verwaltet werden kann. Daß es also praktisch nicht mehr die Summe des Einzelwissens ist. Die Arbeitsteilung ist so vorangetrieben worden, daß die Arbeit eine kollektive ist. Technik, Information kann nicht mehr von einem Land allein organisiert werden. Und ich glaube, daß ebenso eine kollektive Vernunft entstehen muss.
Gaus: muss oder wird?
Königsdorf: muss. Ich hoffe, daß sie auch entstehen wird.
Gaus: Wie halten Sie es mit der Religion, Frau Königsdorf?
Königsdorf: Vielleicht ist es etwas Religiöses, daß ich glaube, es wird doch irgendwie gut ausgehen für die Menschen. Das ist vielleicht schon etwas Religiöses.
Gaus: Glauben Sie an Gott?
Königsdorf: Ich habe keine Religion in dem Sinne. Aber ein Gott ist nicht unbedingt notwendig, um ein religiöses Gefühl in sich zu haben.
Gaus: Für so gut wie alles gibt es Ausnahmen. In der Regel gelten heutzutage die Männer und Frauen aus der DDR eher als tump, als naiv und hinterwäldlerisch, indes die Altbundesrepublikaner für weltläufig, abgebrüht, skeptisch und für geschulte Erfolgsmenschen angesehen werden. Nun zitiere ich wieder Helga Königsdorf aus dem Sommer 1990. Damals, die staatliche Einheit stand vor der Tür, der gesamtdeutsche Regelmensch zeichnete sich ab, schrieben Sie: „Plötzlich weiß ich, daß mir die Menschen, die nichts glaubten, die alles hinterfragten, diese etwas zynischen, aber hellwachen DDR-Bürger lieber waren. Das neue Bedürfnis nach Gläubigkeit ist mir unheimlich.“ Ist Ihnen Ihre neue Gläubigkeit manchmal unheimlich? Das Bedürfnis nach der neuen Gläubigkeit, daß kollektive Vernunft vielleicht nicht nur entstehen muss, sondern auch entstehen wird – ist Ihnen das manchmal auch unheimlich?
Königsdorf: Unheimlich ist mir das nicht. Ich glaube, man braucht eine Vision, unsere Gesellschaft braucht eine Vision. Eine Gesellschaft ohne Vision ist wie ein Organismus ohne Immunsystem.
Gaus: War das denn so, wie Sie es im Sommer 1990, mitten in der Wendezeit, empfunden haben, daß nämlich die DDR-Bürger in der Regel alles hinterfragt haben, skeptisch waren und nun plötzlich das Bedürfnis nach einer neuen Gläubigkeit hatten? Oder war es nicht doch eher so, daß diese DDR-Bürger sich unauffällig gemacht haben, was ihr gutes Recht ist?
Königsdorf: Zumindest war ein Unglaube da. Unsere Zeitungen hatten auch einen gewissen Wert. Man konnte sie von einer U-Bahn-Station bis zur anderen lesen, und dann konnte man sich den ganzen Tag darüber aufregen. Allerdings verloren auch Dinge, die wirklich wahr waren, an Glaubwürdigkeit. Es brauchte bloß über die Arbeitslosigkeit im Westen berichtet zu werden, verlor die Nachricht an Glaubwürdigkeit. Das war ein Seiteneffekt. Trotzdem – diese Ungläubigkeit Gedrucktem gegenüber ist erst einmal prinzipiell ein Wert.
Gaus: Und diese Gläubigkeit wollen Sie jetzt nicht haben, sondern Sie sagen: Bleibt misstrauisch!
Königsdorf: Natürlich.
Gaus: Manipulation gibt es in jedem System. Die raffiniertere Manipulation – ich glaube, das ist die unsere, aus dem pluralistischen System, das jetzt auch Ihr System ist –, die raffiniertere Manipulation tritt auf im Gewande des Nichtmanipulierens. Wie empfinden Sie den Unterschied zwischen früher und heute beim Manipuliert werden?
Königsdorf: Früher war es wirklich ganz einfach: Weil es dümmer, leichter durchschaubar war, ließ es sich irgendwie auch leichter abwehren. Heute ist es schwieriger, weil man es erst alles verstehen, erst alles begreifen muss. Aber wenn man es einmal durchschaut hat, kann man damit auch wieder umgehen.
Gaus: Glauben Sie, daß die Menschen im pluralistischen System leichter zu betrügen sind, weil ihr Misstrauen eher eingeschläfert wird?
Königsdorf: Das ist jetzt keine Absage an das pluralistische System, aber sie sind tatsächlich leichter zu betrügen. Weil es schwieriger ist, alles zu durchschauen. Es geschieht ja auch so gesichtslos. Bei uns hatte die Manipulation immer Gesichter. Das ist so eine Frage. Da liegt ja auch die Herausforderung zum Beispiel an Schriftsteller, etwas, auch Werte, gegen diese Manipulation zu setzen.
Gaus: Sie haben betont, daß nichts von dem, was Sie sagen, als Absage an das pluralistische System zu werten ist. Wir analysieren es nur und machen Gebrauch von einem Vorzug dieses Systems, daß wir das hier in aller Öffentlichkeit tun können.
Zu den Manipulationsmechanismen dieses Systems gehört nach meiner Einsicht, daß es Schuldgefühle vermitteln kann bei dem, der erfolglos geblieben ist. Jeder ist seines Glückes Schmied – und wenn du dir kein Glück hast schmieden können, such die Schuld erst mal bei dir selbst! lautet einer der Kernsätze. Ich glaube, daß unser jetziges System sich dadurch selber schützt, daß es dem Erfolglosen Schuldgefühle vermittelt, so daß der eher ruhig bleibt. Sehen Sie so etwas?
Königsdorf: Das ist so. Die Vereinzelung ist überhaupt auffällig. Ich bin neulich in einem Park auf einem Volksfest gewesen. Es fiel mir auf, daß die Leute da ganz vergnügt waren, aber alle waren sie irgendwie einzeln. Sie kamen schon in festen Gruppen, aber diese Unbekanntheit, Fremdheit zwischen ihnen löste sich in keinem Moment auf. Man konnte mit ihnen auf der Parkbank sitzen, aber es kam kein Gespräch miteinander zustande. Das Beispiel ist vielleicht ein bisschen extrem, ich habe die Beobachtung auch zugespitzt. Aber es fiel mir doch auf, daß diese Vereinzelung, dieses Auf-sich-selbst-Gerichtetsein, sehr stark ist, und das ist – wenn man mal weiter verallgemeinern will – gerade in einer Zeit, in der man mehr kollektive Verantwortung braucht – brauchen wird – eben doch ein Problem. Darüber muss man nachdenken: das Wechselverhältnis zwischen dem Ich und dem Wir.
Gaus: Sie glauben, daß das früher, wenn auch in einem geschlossenen, mit Zwang verbundenen Glaubenssystem der Ideologie, besser funktioniert hat? Oder war das früher Krampf?
Königsdorf: Das ist nie so eindeutig. Es war auch viel Krampf, es wurde auch missbraucht, aber es ist natürlich auch ausgefüllt worden.
Gaus: Nicht alles hätte über Bord gehen sollen?
Königsdorf: Ja, nicht alles hätte über Bord gehen sollen, aber das ist natürlich sehr schwierig, wenn man die Verhältnisse komplett ändert, dann verändern sich auch die Möglichkeiten komplett, die Strukturen. Das damals war natürlich auch in Strukturen eingebunden.
Gaus: Sie sind das Kind einer, wie man sagt, bessergestellten, gutsituierten Familie. Ihr Vater war Unternehmer, hatte aber auch eine größere Landwirtschaft, die Großmutter väterlicherseits war Jüdin. Nach der barbarischen Kategorie des damaligen Deutschlands galten Sie als Vierteljüdin, als Mischling zweiten Grades. Sie haben Physik studiert im Hauptfach, haben aus der Mathematik Ihren ersten Beruf gemacht, haben sich habilitiert und wurden 1974 Professorin an der Akademie der Wissenschaften der DDR. Das war für eine junge Frau eine durchaus bemerkenswerte Karriere. Sie waren verheiratet, sind geschieden, haben zwei Kinder. Warum sind Sie Mitglied der SED geworden? Es wird immer gesagt, man musste das tun, um Karriere zu machen. Die Karriere, die Sie gemacht haben, hätten Sie auch mit der Mitgliedschaft in einer Blockpartei machen können.
Königsdorf: Ich kann mich fragen, warum bin ich nicht vorher Mitglied geworden, warum bin ich es gerade dann geworden? Ich bin ja ziemlich spät erst Mitglied geworden.
Gaus: Wann sind Sie eingetreten?
Königsdorf: 1970 glaube ich.
Gaus: Also warum?
Königsdorf: Das hat zwei Gründe gehabt.
Der eine Grund war der, daß ich bestimmte Ziele hatte mit meiner Funktion. Ich hatte damals eine staatliche Leitungsfunktion, eine wissenschaftliche Leitungsfunktion übernommen. Ich habe eine wissenschaftliche Abteilung geleitet und wollte den Anschluss an das internationale wissenschaftliche Leben mit dieser Gruppe sehr schnell erreichen. Da brauchte ich einfach diese Mitgliedschaft, weil man sonst irgendwelche Beschlüsse über seine eigene Arbeit dauernd im Nachhinein serviert bekommen hätte.
Gaus: Das war also doch ein Karrierefaktor?
Königsdorf: Karrierefaktor klingt mir zu negativ. Ich hatte eine bestimmte Zielstellung, ich wollte was machen...
Gaus: ... und das war nach Ihrer damaligen Einsicht an diese Notwendigkeit gebunden?
Königsdorf: Ja. Der zweite Grund war, daß mir vorher dort immer Leute entgegengetreten waren, deren intellektuelles Niveau ich nicht schätzte. Jetzt aber war ein gewisses Niveau vorhanden. Es waren sehr interessante Leute da, und mit denen wollte ich gerne in der Diskussion sein.
Gaus: In der Partei, in der SED?
Königsdorf: In der Partei, ja. Ich hegte damals noch keinen prinzipiellen Widerspruch gegen das System, und da war das eigentlich nur ein folgerichtiger Schritt für mich. Ich bin dann später natürlich in Konflikte, in Widerspruch gekommen, vor allen Dingen durch das Schreiben.
Gaus: Wenn Sie auf Ihre Zeit in der DDR zurückblicken: Haben Sie Schuldgefühle?
Königsdorf: Nein, ich habe keine Schuldgefühle. Zur Wende war ich überrascht oder auch betroffen, sehr betroffen, daß auch mir das passiert war. Aber das war, weil wir so oft über die Vergangenheit gesprochen hatten. Daß mir das passiert war, daß ich von den ganzen Enthüllungen zwar so vieles wusste, aber nicht ins Bewusstsein hineingelassen hatte. Wir haben den Begriff von der Trauerarbeit. Trauerarbeit ist meiner Meinung nach nur sinnvoll, wenn sie auch mit Erkenntnisarbeit verbunden wird. Und wenn am Ende das schlechte Gewissen steht und nicht neues Wissen, so ist das für mich nicht sehr sinnvoll. Bei mir steht am Ende neues Wissen. Ich weiß auch, daß der Mensch immer einiges verdrängt, im Grunde verdrängen wir ja schon wieder.
Gaus: Das wollte ich sagen. Das Verdrängen ist doch etwas offenbar vom System Unabhängiges. Es scheint etwas Menschliches und auch im jetzigen System vorhanden zu sein. Ich habe unlängst einen Brief von einem Ostdeutschen bekommen, in dem er mir schrieb, daß Zivilcourage heute für ihn schwerer zu bewerkstelligen sei als früher. Früher habe er abschätzen können, welche Folgen es haben würde, wenn er dies oder jenes tue. Wenn er es heute täte, verlöre er sofort seine überlebensnotwendige, wissenschaftliche ABM-Position. Also, sagt er, die Zivilcourage erfordere heute mehr Courage. Halten Sie das für die Verbitterung eines einzelnen, oder kann es sein, daß es einen solchen Trend gibt?
Königsdorf: Erst einmal muss man ja die neuen Mechanismen kennen lernen. Ich wundere mich auch immer, warum alle sagen, man dürfe alles – und dann tun alle genau das, was sie dürfen. Es ist eine komische Sache. Aber das ist natürlich nur für einen Neuling komisch. Ich glaube schon, was uns fehlt, ist das Netz des Westens. Früher hatten wir als letzte Möglichkeit den Westen. Ich glaube, daß man heute völlig ins soziale Abseits geraten kann, ist die bedrohlichere Verunsicherung, die viel Angst macht.
Gaus: Die Angst ist anders geworden, aber nicht kleiner?
Königsdorf: Die Angst ist anders geworden, aber nicht kleiner.
Gaus: Was ist Ihr Urteil heute über das, was wir Vergangenheitsbewältigung nennen, diesen Vorgang seit der Wende, aus dem man Erkenntnisse gewinnen kann und mittels Trauerarbeit gewinnen soll, weil sich sonst die Arbeit sozusagen nicht lohnt, ganz wertfrei gesagt. Sie, Frau Königsdorf, waren und sind sehr bereit zur Selbstkritik, zur Einsicht, wie Ihre Texte aus jener Zeit belegen. Warum läuft alles schief? Und es läuft doch schief?
Königsdorf: Es folgt aus dem, was wir schon gesagt haben. Bewältigung ist ein sehr schlechtes Wort. Das hat immer etwas mit Gewalt zu tun. In Bewältigung steckt das Wort Gewalt. Wenn die Geschichtsbilder so flach sind, wie sie heute sind, dann kann man sowieso aus der Geschichte, aus der Vergangenheit nichts lernen. Ich glaube, man muss wirklich zurück in diese Alltagsgeschichte, die die Menschen gelebt haben, um etwas zu verstehen. Und dann muss man sich auch mehr mit den Aufgaben beschäftigen, die vor uns stehen. Wir haben doch eine große Erfahrung gemacht. Wir haben Aufgaben und die Strukturen einer Gesellschaft. Wenn die Strukturen mit den Aufgaben nicht übereinstimmen, nicht angemessen sind, dann nützt alles menschliche Bemühen nichts, dann können die Aufgaben nicht gelöst werden. Und darüber hätten wir uns heute auch Gedanken zu machen. Darüber müsste man viel mehr diskutieren.
Gaus: Woran liegt es aber, daß wir das zu wenig tun? Sind wir alle zu vereinzelt, sind wir alle zu angestrengt, auf den Beinen zu bleiben?
Königsdorf: Das kann sein. Es existiert aber auch so etwas, so eine Wende, in der es Schuldige und Richter gibt. Das verdirbt auch den Charakter, glaube ich, weil es dazu verführt, selbstzufrieden zu werden. Zur Selbstzufriedenheit ist heute aber überhaupt kein Anlass. Daß man die eigenen Dinge nicht mehr genug in Frage stellt.
Gaus: Sie sind nach der Wende, nach der Umwandlung der SED in die PDS, zunächst in der neuen Partei geblieben, sind dann ausgetreten, wieder eingetreten, haben 1990 für diese Partei sogar in aussichtsloser Position für den Bundestag kandidiert. Ist Ihnen – Sie sind jetzt nicht mehr Mitglied – ist Ihnen eigentlich eine solche Bindung ein Bedürfnis?
Königsdorf: Das war merkwürdig. Ich habe es vorhin schon sachlich beschrieben. Es hatte etwas mit Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft zu tun. Ich habe erstaunliche Dinge mit mir selbst erlebt, zum Beispiel daß sich diese emotionalen Bindungen sehr stark entwickelt haben. Das hätte ich von mir nie erwartet, von meiner Vergangenheit in der DDR her hätte ich das nie vermutet. Und ich habe gedacht: Es ist ja nicht so gewesen, wie es jetzt herausgestellt wird, daß alle in dieser Partei große Finsterlinge waren. Ich war ja mit jungen Leuten zusammen, die sehr kritisch nach Lösungen gesucht haben. Ich habe dort auch meine politischen Erfahrungen gesammelt, habe dort meine politischen Wurzeln gehabt, habe dort, in diesem Kreis, politisch zu denken gelernt. Und ich dachte schon, daß diese Leute in dem neuen Deutschland auch eine politische Funktion haben würden. Aber da war ich vielleicht zu ungeduldig. Ich bin auch als Politiker völlig ungeeignet, weil ich zu ungeduldig bin und zu unduldsam.
Gaus: Aber Sie haben ein solches Bindungsbedürfnis gehabt, auch weil Sie gesehen haben, das sind gute Leute, und warum sollen die nicht mitwirken?
Königsdorf: Ja, so war es. Es ist meiner Meinung nach eine Unterschätzung der Organisationsaufgabe, die in einer modernen Gesellschaft steht, wenn man sich der Führungselite total verweigert. Das kann man eigentlich gar nicht machen.
Gaus: Sie hatten Ihren Beruf, Ihren Arbeitsplatz in der Akademie der Wissenschaften der DDR als Mathematikerin. Im Jahr 1978 haben Sie dann Ihren ersten Erzählband mit dem Titel ‚Meine ungehörigen Träume’ veröffentlicht. Viele literarische Bücher sind seither gefolgt. Können Sie über das, was wir schon gestreift haben, hinaus erklären, was Sie aus der strengen Wissenschaft der Zahlen – Sie haben in Ihren Büchern spaßeshalber die Wissenschaft der Zahlokratie erfunden – in die Literatur, ins Freischweifende gebracht hat?
Königsdorf: Eigentlich ist der Unterschied gar nicht so groß. Denn beide Disziplinen, die Literatur und die Mathematik, sind keiner speziellen Wirklichkeit verpflichtet. Man kann mit irgendetwas spielen in gewisser Freiheit und braucht sich scheinbar nicht um die Wirklichkeit zu kümmern. Und doch wird das, was man macht, natürlich nur dann interessant, wenn es für die Wirklichkeit wieder relevant wird. Im Prinzip ist es dann gar nicht so verschieden. Das eine siedelt nur auf der logisch abstrakten Ebene, das andere auf der Gefühlsebene.
Gaus: Spaß hatten Sie an beidem?
Königsdorf: Spaß hatte ich an beidem, aber an der Literatur habe ich mehr Spaß.
Gaus: Von Anfang an?
Königsdorf: Ja, ich habe sehr spät angefangen zu schreiben. Es war für mich wie eine...
Gaus: ... befreiende Geburt?
Königsdorf: ... wie eine zweite Geburt. Eine Befreiung aus einer Einengung. Denn die Mathematik bedeutet natürlich auch eine Einengung.
Gaus: Hat es eine besondere Rolle für Sie gespielt, daß Sie eine Frau sind, die zur Literatin wurde?
Königsdorf: Vielleicht habe ich als Frau – das ist jetzt wirklich nur eine Hypothese – die Einengung stärker empfunden. Ich weiß nicht, ob das so ist, aber Männer empfinden es vielleicht auch.
Gaus: Mathematikerin zu sein, konnte eine gute, sichere Deckung bedeuten. Literatin zu werden, hieß in der DDR – und nicht nur in der DDR –, sich ins Öffentliche einzumischen. Hatten Sie, um den Titel Ihres ersten Erzählbandes zu zitieren, ungehörige Träume von der Reformfähigkeit des real existierenden Sozialismus?
Königsdorf: Zuerst habe ich wohl bloß Geschichten erzählen wollen, habe mich irgendwie nur selbst erweitern, mich selbst befreien wollen von der Einengung. Später kam dieses Bewusstsein hinzu, etwas machen zu wollen, etwas ändern zu wollen. Das ist dann auch die Gefahr, das Schreiben nicht überlebt. Da muss man immer dagegen ankämpfen.
Gaus: Schreiben ist für Sie eine Lust, ein Spaß, das haben Sie gesagt. Ist es auch eine große Anstrengung oder ist es leicht?
Königsdorf: Es ist eine große Anstrengung.
Gaus: Worauf halten Sie sich etwas zugute, Frau Königsdorf?
Königsdorf: Daß ich über mich selbst lachen kann.
Gaus: Ich interviewe hier eine seit vielen Jahren schwerkranke Frau. Sie sind von der weithin noch unerforschten, sehr bösen Parkinsonschen Krankheit befallen, seit vielen Jahren. Was bedeutet der tagtägliche Umgang damit für Sie? Was bedeutet die tagtägliche Erfahrung, einer bösen, höheren Gewalt ausgeliefert zu sein?
Königsdorf: Das muss man tagtäglich immer wieder annehmen. Aber man lernt es. Am Anfang ist es schwieriger. Das erste, was man lernen muss, ist, daß man die Krankheit als zu einem selbst gehörig annimmt. Daß man also nicht fragt, was wäre, wenn ich die Krankheit nicht hätte, oder warum gerade ich? Daß man das, was man nicht ändern kann, als Schicksal annimmt. Und dann, wir haben schon darüber gesprochen, versuche ich aus allem immer wieder das Positive zu machen. Da hat man dann auch einen Gewinn. Ich hab früher immer so ganz in der Zukunft gelebt, ich hab für etwas Künftiges gelebt, und jetzt hab ich gelernt, in der Gegenwart zu sein. Da wo ich bin, ganz da zu sein, und das empfinde ich als einen ungeheuren Gewinn. Einfach, weil ich mir keine so lange Zukunft ausrechnen kann. Ich glaube, daß man das Leben auch mit anderer Wachheit lebt, weil man die Kostbarkeit des Lebens irgendwie mehr spürt. Zum Beispiel fahre ich jedes Jahr ins Gebirge. Und manchmal habe ich schon gedacht, ich fahre zum letzten Mal. Und dann habe ich das anders genossen, und jetzt ist es eigentlich jedes Jahr zum letzten Mal. Das ist auch toll. Es ist auch so, daß man, glaube ich, lernt, mit den anderen Menschen umzugehen, daß man die Bereitschaft zu helfen lernt, aber auch, sich nicht zu strapazieren. Das lernt man über diese lange Zeit. Das ist auch nicht leicht.