Sendung vom 10.04.1963 - Ludwig, Erhard
Günter Gaus im Gespräch mit Ludwig Erhard
Das deutsche Volk vor Schaden zu bewahren
Ludwig Erhard, geboren am 4. Februar 1897 in Fürth, gestorben am 5. Mai 1977 in Bonn.
Kaufmannslehre, Wehrdienst 1916-1918. Studium der Volks- und Betriebswirtschaft an der Handelshochschule Nürnberg, Promotion an der Universität Frankfurt. In der Zeit des Nationalsozialismus, von dem er sich entschieden distanzierte, wissenschaftliche Arbeit im Institut für Wirtschaftsbeobachtung in Nürnberg. Gründung einer eigenen Forschungsstelle, ihrer bedienten sich 1945 die US-Besatzungsbehörden bei der Planung des wirtschaftlichen Wiederaufbaus; Erhard wurde Wirtschaftsberater der US-Amerikaner in Franken und bayerischer Staatsminister für Handel und Gewerbe. 1948 als Direktor des Frankfurter Wirtschaftsrates Initiator der „Sozialen Marktwirtschaft“. 1949 Beitritt zur CDU und Wahl in den Bundestag; 1949 bis 1963 Bundeswirtschaftsminister, ab 1957 auch Vizekanzler. 1963 als Nachfolger Adenauers (trotz dessen Widerstands!) zum Bundeskanzler gewählt, 1966 durch Kiesinger abgelöst. 1966/67 auch Vorsitzender der CDU.
Das Gespräch fand statt kurz vor der Nominierung Erhards zum Nachfolger Konrad Adenauers als Bundeskanzler. Gesendet am 10. April 1963.
Gaus: Sie haben es weit gebracht, Herr Minister, und manche Ehrung erfahren. Gibt es eine Auszeichnung, die Sie besonders freut?
Erhard: Ich habe manche Auszeichnung, manche Ehrung erfahren, und hier gilt wohl auch das Gesetz vom abnehmenden Nutzen. Es gibt da kein Ereignis, das in mir haften geblieben ist. Aber trotzdem bin ich für Ehrung und Anerkennung sicher nicht unempfindlich. Ich möchte sagen – und ich hoffe, dass das nicht als Anbiederung aufgefasst wird –, die größte Ehre ist es für mich, dass meine Person und meine Arbeit vom deutschen Volk anerkannt wird.
Gaus: Ihren Aufstieg, Herr Minister, haben Ihre Eltern den noch miterlebt?
Erhard: Nein, meine Eltern hatten wohl noch gesehen, dass ich auf der richtigen Bahn war, aber wenn Sie mit Aufstieg etwa die politische Karriere meinen, dann nicht mehr.
Gaus: Sie sind aus einem kleinbürgerlichen Elternhaus hervorgegangen?
Erhard: Gutbürgerlichen Elternhaus, ja.
Gaus: Ihr Vater war Textileinzelhändler.
Erhard: Er war Einzelhändler, ja.
Gaus: Fürth ...
Erhard: ... in Bayern, ja.
Gaus: Sie haben Geschwister gehabt?
Erhard: Ich hatte vier Geschwister. Der älteste Bruder ist im Krieg gefallen, im Ersten Weltkrieg, der zweite Bruder ist gestorben, und jetzt habe ich nur noch eine Schwester.
Gaus: Was ist aus ihr geworden?
Erhard: Die ist verheiratet, auch mit einem Mann, der in der Wirtschaft tätig ist.
Gaus: Wie war der Lebenszuschnitt in Ihrem Elternhaus? Sie sind vor dem Ersten Weltkrieg – 1897 geboren – groß geworden. Wohnten Sie in einem eigenen Haus?
Erhard: Ja, im Geschäftshaus sozusagen.
Gaus: Und Ihre Mutter hat im Geschäft mitgearbeitet?
Erhard: Sie hat viel mitgearbeitet, denn meine Mutter kam aus handwerklichen Kreisen, und mein Vater, der ist als Bauernbub vom Land in die Stadt gekommen.
Gaus: Haben Sie eine besonders enge Erinnerung an die Eltern, sei es den Vater, sei es die Mutter?
Erhard: Ja, ich habe die Erinnerung an gütige Menschen, die uns Kindern ein schönes Heim gegeben haben und auch Behaglichkeit und Sicherheit.
Gaus: Sie sind zur Realschule gegangen…
Erhard: ... ja.
Gaus: ... und Sie haben die Schule bis wann besucht?
Erhard: Bis zur sechsten Klasse, denn es schien ja vorgegeben zu sein, dass ich einmal Kaufmann werde. So war es bestimmt von meinen Eltern, mein Vater dachte nicht über diesen Kreis hinaus, und ich selber nahm es mehr oder minder als gottgewollt hin, dass das mein Schicksal sei. Und ich habe es seinerzeit als ein tragisches Schicksal nicht empfunden.
Gaus: Sie sind nach dem Einjährigen von der Schule abgegangen in eine kaufmännische Lehre ...
Erhard: ... eine kaufmännische Lehre auch in einem Textileinzelfachgeschäft in Nürnberg, bis ich dann zum Krieg eingerückt bin.
Gaus: Ihr Vater hat also offensichtlich von dem Satz „Mein Sohn soll etwas Besseres werden“ – worunter die meisten verstehen „etwas anderes“ – wenig gehalten?
Erhard: Nein, davon war mein Vater frei, und das war um so mehr der Fall, als ja mein ältester Bruder gleich Anfang des Krieges gefallen ist und dann um so sicherer mir diese Laufbahn vorgezeichnet war.
Gaus: Sie haben während Ihrer Lehrlingszeit nicht das Gefühl gehabt, andere Jugendliche, die Sie vielleicht aus der Nachbarschaft kannten und die weiter zur Schule gingen, seien bevorzugt?
Erhard: Um Gottes willen, nein, ich hatte keine Komplexe, und mir schien es auch kein unwürdiges Dasein zu sein.
Gaus: Ihr Vater, Herr Minister: Sie haben einmal von ihm gesagt, dass er sowohl kaiser- und königstreu gewesen sei, als auch für die politischen Rechte des Bürgertums sich erwärmt habe. Was bedeutet das? War er zufrieden mit dem Platz, auf den er gestellt war, oder hat er manchmal Augenblicke gehabt, wo er sich und seinesgleichen für zu kurz gekommen hielt?
Erhard: Nein, gar nicht, denn mein Vater hat ja von nichts aus begonnen und hat es aus seiner Sicht sicher weit gebracht. Kaiser- und königstreu ist vielleicht auch nicht ganz der richtige Begriff, er war eigentlich mehr obrigkeitstreu; aber doch nicht in dem sklavischen Sinne, sondern er gehörte der Freisinnigen Partei an, er war ein Mann Eugen Richters, und mit diesem Geist sind wir auch schon von der Jugend auf getränkt worden.
Gaus: Sie haben also durchaus die Erinnerung, dass Sie bereits in Ihrem Elternhaus Kontakt zu politischen Vorstellungen gewonnen haben?
Erhard: Zu freiheitlichen Vorstellungen der Politik.
Gaus: Gab es Meinungsverschiedenheiten über die Politik zwischen Ihren Eltern?
Erhard: Nein. Das war immer eine Harmonie, nicht auf Grund einer Anbetung,
eines Gehorsams, sondern aus dem natürlichen Zusammenleben heraus geboren, auch aus dem Respekt.
Gaus: Gab es irgendwelche Liebhabereien, die sich Ihre Eltern leisteten – oder nicht leisten konnten, aber gern geleistet hätten?
Erhard: Geleistet haben sie sich jedenfalls nichts. Das konnten sie nicht, auch aus Zeitgründen. Das war ja seinerzeit ganz anders, da begann der Tag früh um 8 Uhr und endete auch um 8 Uhr oder um 9 Uhr.
Gaus: So war auch Ihr Tag als Lehrling?
Erhard: So war auch mein Tag als Lehrling.
Gaus: Haben Sie damals noch Zeit gehabt für andere Dinge, für Lektüre, für Sport?
Erhard: Ja, doch, aber natürlich in Maßen. Es ist jedenfalls nicht zu vergleichen mit heutigen Möglichkeiten.
Gaus: Sie sind aber nicht der Meinung, dass es den jungen Leuten heute gut täte, wenn sie eine ähnliche strenge Zucht erfahren würden?
Erhard: Nein. Ich meine, es ist völlig falsch gesehen, wenn man sein Erleben aus der Jugend und die Umwelt und Bedingungen jener Zeit glaubt in die Gegenwart verpflanzen zu können oder verpflanzen zu sollen. Nein, ich sehe im heutigen Geschehen doch einen Fortschritt gegenüber früher.
Gaus: Die Umweltbedingungen: Heute ist Ihre Geburtsstadt Fürth eine Industriestadt, war sie das damals schon? Hatten Sie eine eigene Vorstellung aus dem täglichen Leben über das Los der Industriearbeiter?
Erhard: Ja, das hatte ich wohl. Denn auch im elterlichen Geschäft konnte ich beobachten, wie die Menschen gekauft haben und wie sie mit dem Pfennig rechnen mussten. Insofern hat diese Umgebung auch mir den Blick geöffnet für die sozialen gesellschaftlichen Probleme, wenn auch vielleicht noch nicht das Verständnis geweckt.
Gaus: Die Erinnerung an eine besonders beeindruckende Lektüre ist Ihnen nicht geblieben? Gab es ein Buch, von dem Sie sich sehr angesprochen fühlten?
Erhard: Es ist mir nicht erinnerlich. Seinerzeit hatte man die Klassiker gelesen. Das gehörte so zum Fach, möchte ich sagen. Aber darüber hinaus hat mich eigentlich seinerzeit noch wenig bewegt, bis zu dem Zeitraum, als ich das Studium begann.
Gaus: Vorher sind Sie Soldat gewesen?
Erhard: Vorher war ich noch Soldat.
Gaus: Wie man so sagt: Wo haben Sie gestanden?
Erhard: Ich war beim 22. bayerischen Feldartillerieregiment.
Gaus: Und wie weit haben Sie es gebracht, Herr Minister?
Erhard: Ich bin als Wachtmeister entlassen worden. Ich sage immer, das war vielleicht die einzige Phase meines Lebens, in der ich keinen besonderen Ehrgeiz entwickelt habe. Ich war gern Soldat, das muss ich dabei zugeben. Ich habe auch die Pflichten treu und redlich erfüllt, war ja auch zum Schluss dann schwer verwundet. Aber hier kommt etwas von meinem Naturell durch: Wenn ich an diese Zeit zurückdenke, dann kommen mir weniger die Grauen zum Bewusstsein, die ich im Krieg auch erlebt habe – selbstverständlich haften auch sie –, sondern deutlicher sind für mich die heiteren Erlebnisse der Soldatenzeit.
Gaus: Gibt es eine spezielle Erinnerung?
Erhard: O ja, da gibt es so viele, dass ihr Stoff einen ganzen Abend füllen würde.
Gaus: Warum haben Sie sich nach dem Krieg entschlossen, zu studieren?
Erhard: Zuerst war das eigentlich ein durch meine Verwundung herbeigeführter Zufall, vielleicht auch eine Notwendigkeit. Ich konnte mich kaum bewegen, ich war sehr schwer verwundet und wollte doch nicht völlig untätig sein, und der Geist war ja immerhin rege. Da hatte mein Vater Verständnis dafür, dass man diese Zeit nutzen sollte. Soeben im Jahre 1919 wurde in Nürnberg die Wirtschaftshochschule für Sozialwirtschaft und Sozialwissenschaften eröffnet. Da ging ich hin, zuerst als Hörer, und wollte mal sehen, was man da eben noch dazulernen kann. Es war eine ganze Menge, wie ich dann erfahren habe. Ich fühlte mich unmittelbar angesprochen und hatte sehr schnell den Eindruck, dass das eigentlich das ist, wohin mein Leben gehört.
Gaus: Sie hatten keinen Zweifel an der Studienrichtung? Es war Volkswirtschaft von Anfang an?
Erhard: Die Auswahl war zunächst einmal natürlich vorgegeben durch meinen vermeintlichen späteren Beruf. Aber mein Studium hat sich dann auch sehr gewandelt. Ich begann mit Betriebswirtschaftslehre ohne echte innere Beziehung, bin dann zur Volkswirtschaftslehre übergegangen, dann mehr zur Soziologie und bin schließlich auch bei der Philosophie gelandet, wenigstens in der Neigung, wenn auch nicht im Examen.
Gaus: Ihr Examen haben Sie in Volkswirtschaft an der Universität Frankfurt gemacht?
Erhard: Ja, ich habe das kaufmännische Diplom erworben in Nürnberg, aber den Doktor bei Professor Franz Oppenheimer in Frankfurt.
Gaus: Haben Sie sich während Ihres Studiums einer politischen Studentengruppe angeschlossen?
Erhard: Nein, ich gehöre nicht zu den Vereinsmeiern, obwohl ich ganz bestimmt nichts dagegen sagen möchte. Aber ich war doch sehr individualistisch im Studium, und ich war vor allem so mit mir selbst beschäftigt, mit dieser ganzen inneren Umkrempelung, die ich zu vollziehen hatte, dass die äußere Form der Einordnung in diese mehr kollektiven Gruppen mir nichts bedeutet hat.
Gaus: Empfinden Sie es nicht rückblickend als außergewöhnlich, dass Sie sich in dieser Zeit, in der Weimarer Republik, in der so viele Kriegsheimkehrer von politischen Ideen umgetrieben wurden, dass Sie in dieser Zeit keinen politischen Anschluss gesucht haben?
Erhard: Nein. Es war nicht etwa so, dass ich unpolitisch gewesen wäre. Ich nahm schon Anteil an dem Geschehen. Mir sind die politischen Gestalten dieser Zeit durchaus bewusst und lebendig. Ich habe auch ein sicheres Urteil über sie gewonnen. Aber gleichzeitig war ich auch enttäuscht. Denn als ich den Sprung aus dieser obrigkeitlichen Ordnung in die Republik hinein vollziehen musste, war ich natürlich auch erfüllt von dem Gedanken, dass etwas Neues kommen müsste, das dem Leben des Volkes einen neuen Inhalt, eine neue Ausrichtung geben könnte und dass nicht nur die alten Mittel und Methoden mit etwas mehr sozialem Salz vielleicht dann wieder aufkommen könnten.
Gaus: Sie waren als Wirtschaftswissenschaftler enttäuscht von der Weimarer Republik?
Erhard: Nicht nur als Wirtschaftswissenschaftler. Nein, ich war zutiefst davon überzeugt, dass die Republik die würdigste Staatsform ist. Nur wollte ich dieser Republik gerne, ohne seinerzeit mir schon dessen bewusst zu sein, einen etwas glaubhafteren, einen überzeugenderen Ausdruck gegeben haben.
Gaus: Was empfanden Sie als so hausbacken-antiquiert an der Gesellschaftspolitik der Weimarer Republik?
Erhard: Es ist eigentlich kein neuer Gedanke gegenüber früher aufgekommen. Man hat sie nur etwas umgekrempelt, und man hat dann in den verschiedenen Koalitionen einmal mehr und einmal weniger von dem oder jenem Gedanken dazugegeben. Aber etwas grundsätzlich Neues, gesellschaftspolitisch, wurde in der Weimarer Zeit eigentlich nicht geboren.
Gaus: Was haben Sie seinerzeit gewählt?
Erhard: Demokratische Partei.
Gaus: Ein Lehrer, den Sie gehabt haben, Professor Vershofen, hat zu Ihrem 60. Geburtstag, also viele Jahre später, gesagt, er habe schon damals den Eindruck gehabt, dass Sie, Herr Minister, durchaus auch ein Wissenschaftler seien, aber eigentlich für die Politik geboren. Wie ist er zu dieser Auffassung gelangt?
Erhard: Ich lernte Vershofen kennen, da zeichnete sich schon das Dritte Reich ab. Noch nicht in seiner ganzen Tragik, aber die Kräfte, die bewegenden Elemente, die Personen waren ja bekannt. Und ich hielt seinerzeit schon die Entwicklung für äußerst bedenklich und gefährlich und habe auch aus meinem Herzen keine Mördergrube gemacht. Ich habe seinerzeit im „Tagebuch“ geschrieben und mich schon darin politisch betätigt. Aber vor allen Dingen haben wir in dem engeren Freundeskreis im Institut, um Vershofen herum, sehr viel Politik getrieben und unsere Meinungen ausgetauscht.
Gaus: Aber es hat Sie damals doch nicht gedrängt, in der aktiven Politik zu wirken?
Erhard: Nein. Dazu war ich auch innerlich noch nicht weit genug. Ich hatte noch keinen Standort gefunden im bürgerlichen Leben, um die Überzeugung hegen zu können, auch schon nach außen fruchtbar und überzeugend wirken zu können.
Gaus: Sie haben diese Zeit, also die 20er Jahre und die allerersten 30er Jahre, einmal rückblickend als die persönlich befriedigendste und erfüllteste Ihres Lebens bezeichnet. Woran lag das?
Erhard: Das lag daran, dass ich noch nicht mit Pflichten so überbürdet war und auch noch Zeit und Muße hatte, in dem unmittelbar persönlichen Lebensbereich einen Ausgleich zu finden. Da waren die Maße harmonisch einander zugeordnet. In der Politik wird bekanntlich diese Harmonie gesprengt, nicht aus innerer Neigung, sondern aus praktischer Notwendigkeit.
Gaus: Gab es Ihnen diese Befriedigung und, in der Erinnerung, dieses Glücksgefühl, dass seinerzeit das Private und Wissenschaftliche vor dem Politischen rangierte?
Erhard: Nein, so möchte ich es gar nicht sagen. Es war einmal das Befriedigtsein über das eigene Können, über die Bewährung, die ich als Mann abzulegen hatte, und gleichzeitig auch die Erfüllung im Heim und in der Familie, im Freundeskreis, mit einem wachen Blick für die Politik.
Gaus: Als nun Hitler zur Macht kam, was hat Sie davor bewahrt, der Versuchung zu erliegen, mit Hilfe eines Anschlusses an die NSDAP etwa Ihre wissenschaftliche Karriere zu fördern?
Erhard: Es gab für mich nicht eine Sekunde eine Überlegung, ob ich einen Kompromiss schließen könnte, etwa um einer wissenschaftlichen Karriere willen. Ich wollte mich habilitieren und wollte Hochschullehrer werden, aber dazu hätte ich zum NS-Dozentenbund gehen müssen. Das ist mir überhaupt nicht in den Sinn gekommen. Ich habe seinerzeit keine Kompromisse geschlossen, keine Kompromisse, die ich nicht vor meinem Gewissen und vor meiner Ehre hätte verantworten können.
Gaus: In welcher Position haben Sie diese Zeit überdauert?
Erhard: Ich war Ende 1928 als Assistent bei dem Institut für Wirtschaftsbeobachtung eingetreten. Das war ein ganz kleiner Kreis, in dem wir so gebastelt haben. Es ist dann ein sehr großes Institut geworden, ich glaube, nicht zuletzt durch meine Arbeit. Denn mir kam es seinerzeit schon darauf an, praktische Erfahrung mit wissenschaftlicher Kenntnis zu verbinden, beides zu versöhnen. Im Grunde genommen ist das auch heute noch mein Bemühen, wenn auch auf einer anderen Ebene.
Gaus: Dieses Institut war in Nürnberg?
Erhard: Das Institut war in Nürnberg, ja.
Gaus: Und erlebten Sie das Kriegsende in Nürnberg?
Erhard: In Nürnberg schon, aber nicht beim Institut, denn dort musste ich im Jahre 1942 ausscheiden, nachdem ich mich schließlich auch noch geweigert habe, der Deutschen Arbeitsfront beizutreten. Ich war konsequent in meiner Haltung.
Gaus: Als der Krieg zu Ende war, sind eines Tages die Amerikaner zu Ihnen gekommen und haben gesagt: „Herr Erhard, kommen Sie mit, Sie sollen Wirtschaftsberater werden in Bayern.“ Was ist das für ein Gefühl, wenn man plötzlich vor der Haustür einen Besatzungsoffizier stehen sieht, der einen ins öffentliche Leben entführt?
Erhard: Ich hatte natürlich keine Angst. Ich wusste, mir kann nichts passieren durch die Besetzung seitens der Amerikaner. Nach meinem Abschied vom Institut im Jahre 1942 hatte ich Zeit und Muße und auch die Mittel, um in einem kleineren Kreis meinen Studien nachzugehen. Ich habe seinerzeit in einem dicken Manuskript in Zusammenarbeit mit Goerdeler die Gedanken für eine Politik niedergelegt, die notwendig ist, um auf wirtschaftlichem und finanziellem Gebiet das Elend zu überwinden und wieder einen neuen fruchtbaren Beginn zu wagen. Hier habe ich auch zum erstenmal den Begriff Lastenausgleich verwendet. So, wie dann die Währungsreform gekommen ist und wie der Lastenausgleich angelegt war, sind eigentlich die Grundgedanken von mir verwirklicht worden. Durch welchen Zufall die Amerikaner in den Besitz dieses Manuskripts gekommen sind, weiß ich nicht. Aber sie kannten es jedenfalls. Dadurch war ich sozusagen der Mann ihres Vertrauens. Ich habe seit dieser Zeit immer gerade mit amerikanischen Politikern ein besonders herzliches und gutes Verhältnis gehabt, bis auf den heutigen Tag.
Gaus: Sie haben Goerdeler genannt, den ehemaligen Oberbürgermeister von Leipzig. Wie kommt es, dass Sie, wenn Sie in Berührung mit ihm waren, nicht in den Kreis der Verhafteten nach dem 20. Juli gekommen sind?
Erhard: Das frage ich mich auch. Denn ich bin mit Goerdeler oft zusammengekommen, wir haben auch Briefe gewechselt, wir haben uns in Berlin getroffen. Als Goerdeler verhaftet wurde, war ich durchaus gefasst, auch mitgefangen zu werden. Ich weiß nicht, welchem Zufall ich es zu verdanken habe, dass ich heil über diese Zeit hinweggekommen bin.
Gaus: Als der Krieg zu Ende war, waren Sie 48 Jahre alt und hatten bis dahin doch ein Leben in der wissenschaftlichen und in der privaten Provinz geführt. Was war der Grund, dass Sie sich jetzt bereitfanden, den Schritt ins öffentliche Leben zu tun?
Erhard: Ich war um diese Zeit zu jener Reife gelangt, die es mich wohl auch als Verpflichtung ansehen ließ, öffentlich tätig zu sein – von dem Zufall, dass ich eine amerikanische Entdeckung bin, ganz abgesehen. Ich war mir bewusst, jetzt muss wirklich etwas Neues entstehen, jetzt kann's nicht wieder so gehen wie nach dem Ersten Weltkrieg, dass man genau dort beginnt, wo wir geendet haben, sondern es muss etwas Neues kommen; es müssen neue Ideen das gesellschaftliche und politische Leben befruchten. Also, ich war alt genug, und ich war doch auch noch jung genug und fühlte mich jung genug, um das Neue mit zu gestalten, und diese Hoffnung hat sich dann auch erfüllt.
Gaus: Sie sind dann Wirtschaftsminister in Bayern gewesen bis Herbst 1947. Als Sie diesen Posten aufgaben, hat man in Bayern ein bisschen über Sie gespottet, Herr Minister. Man hat Ihnen zwei Dinge nachgesagt; erstens: Sie seien ein Desorganisator und nicht so recht in der Lage, ein Ministerium, ein großes Amt, eine Behörde bürokratisch zu führen; und zweitens: Sie hätten gesagt, Bayern sei für Ihren Betätigungsdrang viel zu klein. Was ist daran richtig?
Erhard: An beidem ist etwas Wahrheit. Verwaltungsmäßige Arbeit gehört nicht gerade zu meinen ausgesprochenen Leidenschaften, aber dazu hat ein Minister ja seine Beamten. Im Übrigen lernt man auch das kennen, es ist keine Geheimwissenschaft. Die zweite Behauptung ist richtig. Ich habe schon in einer Neujahrsansprache 1945/46 gesagt, dass mir Bayern nur als eine Verwaltungseinheit wirtschaftlicher Art überhaupt denkbar erscheint, ja, dass ich mir sogar unter einer deutschen Wirtschaft im Zeichen der kommenden Entwicklung nichts Endgültiges und nichts Absolutes vorstellen kann und dass es notwendig ist, dass sich Deutschland friedlich in eine weitere Welt einordnet und einbettet.
Gaus: Sie haben damit also sehr früh begonnen, und ich möchte wissen, ob sich dahinter ein missionarischer Eifer verbirgt. Sehen Sie sich als mehr denn nur als einen Wirtschaftsminister herkömmlicher Art, glauben Sie, dass Sie der Entwickler oder mindestens der erste Verwirklicher einer neuen Gesellschaftslehre sind?
Erhard: Wenn ich vom missionarischen Eifer sprechen würde, würde das vielleicht etwas hochmütig klingen. Aber Sie haben doch im Grunde genommen recht. Ich habe mich nie nur allein als Wirtschaftsminister gefühlt, sondern ich sah in der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik und Sozialpolitik einen Schlüssel zu einer Neuordnung unseres politischen Lebens überhaupt. Insofern war meine Vorstellung von einer sozialen Marktwirtschaft nicht eng wirtschaftlich begrenzt, sondern von viel weitergehenden Vorstellungen getragen. Und auch das hat sich ja als richtig erwiesen. Bei den ersten Begegnungen, die wir auf internationalem Feld hatten, war man sich eigentlich noch wenig klar, in welchen Formen die Entwicklung international weitergehen würde. Man glaubte, dass die sozialistischen Denkkategorien, die sich ja in der Zwischenzeit auch gewandelt haben, die einzige Möglichkeit bieten würden, um die verworrenen Zustände wieder zu ordnen. Ich glaube, ich habe doch einiges dazu beigetragen, dass heute nicht nur eine weitgehende Übereinstimmung auf internationalem Feld besteht, sondern dass auch der Gehalt des Sozialismus sich inzwischen wesentlich geändert hat.
Gaus: Sie führen diese Änderung, beispielsweise der Vorstellungen der Sozialdemokratischen Partei, auf den Einfluss der sozialen Marktwirtschaft zurück?
Erhard: Ich glaube, das wird niemand bestreiten. Auch die Sozialdemokratie wird das nicht bestreiten.
Gaus: Herr Minister, was ist an einer politischen Karriere vom Zufall und Glück und was vom Talent abhängig? Und welches Talent ist das wichtigste für einen Politiker?
Erhard: Für einen richtigen Politiker, so wie ich ihn erkenne, ist die Gesinnung das Maßgebende: die Redlichkeit und die Wahrhaftigkeit, mit der er seine Arbeit anpackt und mit der er auch dem Volke begegnet. Ich weiß, dass diese Kriterien nicht allgemein anerkannt werden, dass viele glauben, der Politiker müsste mit Taktiken und Praktiken arbeiten und müsste in allen Schichten bewandert sein. Das ist nicht mein Stil, ich sage es ganz offen, und ich glaube, wir werden auch in der Zukunft damit nicht mehr zurechtkommen. Jedenfalls ich werde es nicht tun, und wenn ich weiter wirke, dann wird sich vor allen Dingen dieser Stil wandeln.
Gaus: Sie haben schon oft gesagt, man müsse sich an Ihren Stil gewöhnen. Wie sieht dieser Stil aus, den der Minister Erhard als politischen Stil bevorzugt?
Erhard: Was ich geschworen habe, das etwa schwebt mir vor als politischer Stil: Gerechtigkeit zu üben gegen jedermann und das deutsche Volk vor Schaden zu bewahren.
Gaus: Zurück zu Ihrer Laufbahn. Sie waren Leiter der Sonderstelle "Geld und Kredit" beim Frankfurter Wirtschaftsrat und haben an der Währungsreform mitgearbeitet. Wie groß war der Anteil der deutschen Beamten an der Währungsreform, und wie viel haben die Amerikaner schließlich doch allein entschieden?
Erhard: Das ist natürlich nicht in Prozenten zu messen. Aber es bestand eine sehr enge Verbindung zwischen den Sachverständigen der Alliierten, insbesondere dem amerikanischen Vertreter, und der Sonderstelle "Geld und Kredit" und vor allem wieder mit mir. Ich stimmte völlig damit überein, dass die Währungsreform mit dem Spuk der Vergangenheit aufräumen müsste, dass also eine sogenannte harte Währungsreform die sozial wohltätigste ist und dass erst aufgrund einer solchen Währungsreform dann auch die nicht minder wichtigen wirtschaftspolitischen Reformen durchgeführt werden konnten.
Gaus: Sie sehen keine Ungerechtigkeit in der unterschiedlichen Behandlung von Bargeldersparnissen und Sachwerten, wie Aktien zum Beispiel?
Erhard: Doch, zweifellos. Aber ich hatte schon im Jahre 1942 das Problem des Lastenausgleichs angesprochen. Der Ausgleich war unbedingt notwendig, womit ich nicht sagen möchte, dass nun mit diesem Lastenausgleich, wie er praktiziert worden ist, alle Ungerechtigkeiten auf der Welt beseitigt sind. Das wird es niemals geben.
Gaus: Ihre Soziale Marktwirtschaft, Herr Minister, soll nach Ihren Worten den alten Konjunkturzyklus von Aufschwung, Hochkonjunktur, Niedergang und Krise durchbrochen haben. Halten Sie diese Behauptung noch aufrecht?
Erhard: Das ist nicht der letzte Inhalt der Sozialen Marktwirtschaft. Aber ich sah es immerhin als eine wichtige Erscheinung an. Bis dahin war man der Meinung, dass man die Konjunkturen nach oben und nach unten ausschwingen lassen müsste, dass weder der Staat noch irgendein anderer das Recht haben sollte, in diesen gesetzmäßigen Ablauf einzugreifen. Aber auch das gehört zu der Erkenntnis, dass in der modernen Zeit mit ihrem politischen und sozialen Gehalt die Menschen nicht mehr willens sind, sich diesem Spiel hinzugeben und dem Treiben dabei tatenlos zuzusehen. Und so musste die Wirtschaftsordnung gefunden werden, die nach Möglichkeit stetig aufwärts gerichtet ist, aber vor allen Dingen gefährliche und krisenhafte Einbrüche vermeidet. Bei einer unglücklichen Entwicklung, wenn die Menschen nun wirklich gar nicht hören wollen und immer das Falsche tun, würden wohl Folgen auftreten, die dann etwa wieder zur Arbeitslosigkeit führen. Das würden wir nicht durchstehen können, das würde niemand durchstehen. Aber das Merkwürdige ist eben, wenn es gut geht, dann will niemand etwas vom Staat wissen. Ich nehme da die Unternehmer und die Arbeitnehmer durchaus zusammen. Aber wenn es schlecht geht, dann kann man überzeugt sein, dass alle nach dem Staat rufen.
Gaus: Was würde geschehen, wenn wir eine größere Arbeitslosigkeit bekämen?
Erhard: Ich glaube, das ist auch überwunden, und zwar deshalb, weil wir nicht mehr darauf angewiesen sind, im nationalen Raum Spannungen und Störungen dieser Art auszugleichen; die Welt ist schon zu integriert, ist zu sehr miteinander verflochten, als dass irgendein Land für sich sein eigenes Schicksal gestalten könnte. Der weitere Raum schafft sehr viel bessere Möglichkeiten, um gefährlichen Entwicklungen rechtzeitig entgegen zu wirken und Störungen auf sehr viel breiterer Grundlage von vornherein zum Ausgleich zu bringen.
Gaus: Unter welchen Bedingungen glauben Sie, gleichzeitig Vollbeschäftigung, Mengenkonjunktur und stabilen Geldwert garantieren zu können?
Erhard: Garantieren zu können ist ein kühnes Wort, aber ich habe es ja oft deutlich ausgesprochen: Es wird nicht gehen, ohne dass die Menschen eben Vernunft annehmen, oder – ich will es duldsamer sagen – ohne dass sie bereit sind, sich innerhalb der Maße zu bewegen, die nun einmal durch die Realitäten des Lebens gesetzt sind. Der Streit um den Anteil am Sozialprodukt ist müßig. Das war ja auch einer der tragenden Gedanken 1948, dass ich gesagt habe: Wenn wir uns darüber zerstreiten, wie von diesem auf ein Minimum zusammengesunkenen Sozialprodukt jeder einen gerechten Anteil erhalten soll, dann verkommen wir in Armut und in Not. Es gibt nur ein fruchtbares Mittel, sich daraus zu erlösen: zu arbeiten, produktiv zu arbeiten und aus dem größeren Kuchen dann auch für alle größere Rationen verteilen zu können. Nicht in der Zuteilung, sondern im Wettbewerb und im freien Markt.
Gaus: Sie haben sich erst Mitte 1949 vor der Wahl zum ersten Bundestag zur CDU bekannt. Das war Ihr erster Parteieintritt überhaupt. Warum haben Sie sich für die CDU entschieden?
Erhard: Weil es galt, eine liberale, freiheitliche Politik, wie sie mir vorschwebte, in der Praxis zu verwirklichen. Dazu gehörte nicht, dass ich noch einmal eine liberale Partei stärke, sondern es gehörte dazu, dass ich die große Volkspartei, die CDU, für mich, für meinen Gedanken gewinne und dann auch darauf festlege.
Gaus: Haben Sie seit Ihrem Eintritt in die CDU Zugang zum Parteiapparat gefunden?
Erhard: Ja, natürlich. Durch die politische Arbeit als solche und dann durch die zunehmende Geltung, die ich innerhalb der Partei errang, wurde es unausweichlich und natürlich, dass ich stärker zu den politischen Gremien der Partei herangezogen wurde. Ich gehöre ja heute dem Präsidium an.
Gaus: Manchmal sagt man, Herr Erhard, dass Sie einmal das Rauschen des Mantels der Geschichte gehört hätten und zugegriffen hätten, nämlich 1948, als Sie die Bewirtschaftung und Preisbindung aufgehoben haben. Darüber gibt es viele Anekdoten, und ich würde gerne Ihre Lesart hören. Wie ist das damals gewesen?
Erhard: Ich wusste genau, was die Währungsreform bringen würde und was sie in ihren Auswirkungen bedeutete. Sie konnte nur gelingen, wenn wir gleichzeitig eine entscheidende Wirtschaftsreform von dem völligen Zwang hin zu einer möglichst großen Freiheit eröffneten. Das aber musste naturnotwendig die Auflösung aller Bewirtschaftungsmaßnahmen zur Folge haben, aller Preisbindungen und dergleichen mehr. Aber die Vorstellung war in den Köpfen jener Zeit so undenkbar, dass man das nur in einem kühnen Durchbruch erreichen konnte. Der Frankfurter Wirtschaftsrat hat mir in dem sogenannten Leitsätze-Gesetz weitgehende Vollmachten eingeräumt, in der Erwartung, dass man gegebenenfalls schnell handeln müsse. Dann habe ich seinerzeit als Direktor der Verwaltung für Wirtschaft heimlich und leise in meinen Schubladen alle Aufhebungen der Bewirtschaftung gesammelt. Die Mahnungen und Befürchtungen in meinem eigenen Beamtenapparat zerstreute ich mit der Ausrede, dies geschehe nur für alle Fälle. Natürlich konnte ich mich gar nicht mit der Militärbürokratie verständigen, denn die hätte noch weniger Verständnis dafür gehabt und ich noch weniger Einfluss. Und dann, am Sonntag der Währungsreform, habe ich die Aufhebung der Bewirtschaftung verkündet in der sicheren und richtigen Annahme, dass am Sonntag keine Verwaltungsbürokratie arbeitsfähig ist. Dann war's geschehen. Am darauffolgenden Montag bin ich gleich früh zur Militärregierung beordert worden. Mir wurde gesagt, was ich getan habe, sei unmöglich und unvorstellbar und verboten. Ich hätte gegen sämtliche alliierten Militärgesetze verstoßen. Sie haben mir vorgelesen, dass ich ohne Zustimmung der Militärregierung keine Änderung in der Bewirtschaftung und in der Preisbindung vornehmen dürfe. Daraufhin habe ich gesagt, ich hätte nichts geändert, sondern nur aufgehoben. Das war natürlich nicht gerade die Antwort, die man erwartet hat. Aber ich hatte, Gott sei Dank, einen Mann, der zu mir stand. Das war General Clay.
Gaus: Was gehört dazu, den Mut zu haben, einen solchen Schritt zu tun?
Erhard: Sehr viel. Einmal natürlich ein gereiftes Wissen über die Zusammenhänge, zweitens der Mut zur Verantwortung und drittens ganz klare Vorstellungen in bezug auf das gesellschaftliche Leben, wie es geordnet sein müsste, wenn nach diesem Zusammenbruch ohnegleichen, nach der Abnutzung aller Werte, wieder neues Leben entstehen soll.
Gaus: Wie haben Sie sich nach diesem Schritt gefühlt? Waren Sie sicher, dass es ein sehr entscheidender Schritt gewesen ist?
Erhard: Ja. Ich war mir bewusst, dass es ein lebensentscheidender Schritt ist. Und das hat mir auch die Kraft gegeben, gegen alle Widerstände und gegen alle Anfechtungen den Kurs zu steuern bis zum Erfolg.
Gaus: Das war Ihr größter Erfolg. Jetzt sagen Sie bitte, was war Ihre größte politische Niederlage?
Erhard: Das war vielleicht kein Ereignis, das man datenmäßig festhalten könnte. Ich betrachte es als einen Misserfolg, dass es mir bisher nicht gelungen ist, den Stil der Demokratie in der Weise zu ändern, wie es mir vorschwebt. Ich habe mich immer gegen die Politik der Wahlgeschenke gewehrt. Ich hab's auch in meinen eigenen Wahlreden praktiziert. Ich habe nie etwas versprochen, außer dass ich alle Kräfte einsetzen werde, um weiter ein gutes Gelingen zu gewährleisten. Ich habe nicht reihum allen Gruppen Zusagen gemacht und Vergünstigungen gewährt in der Überzeugung, dass das das Mittel wäre, die Wähler zu gewinnen. Bei einzelnen mögen Versprechungen ganz angenehm empfunden werden, aber schließlich hat das deutsche Volk doch ein gesundes Empfinden dafür, dass die Korrumpierung, die damit sehr nahegerückt ist, kein brauchbares und kein überzeugendes politisches Instrument ist.
Gaus: Man hat manchmal den Eindruck, dass Sie gerne auf Wahlversammlungen reden.
Erhard: Sehr gerne, ja.
Gaus: Sie gehen in Ihren Ansprachen nach Ansicht Ihrer parteipolitischen Gegner manchmal bis an die Grenzen der Demagogie. Macht Ihnen Wahlkampf Spaß?
Erhard: Macht mir Spaß, ja. Übrigens nicht nur Wahlversammlungen, sondern überhaupt die Ansprache an die Menschen. Denn weil ich frei spreche, bekomme ich Kontakt, weil ich natürlich spreche, finde ich das Gehör der Menschen und wohl auch meist ihre Zustimmung. Und ich kann es mir in meinen Reden leisten, meine Zuhörer hart anzupacken, sie aber auch besinnlich zu stimmen. Je nach der Stunde werden die Akzente etwas verlagert. Man spürt auch aus der Reaktion, aus der Resonanz, wie man dosieren muss. Nicht um einer Demagogie willen, sondern um das zu erreichen, was dem Politiker vorschwebt und was ihm als notwendig erscheint.
Gaus: Dabei fühlen Sie sich wohl?
Erhard: Dabei fühle ich mich wohl. Ich glaube, in unserer heutigen Zeit, in der modernen Zeit, kann ein Politiker auf diese unmittelbare Ansprache gar nicht verzichten. Das ist nicht so primitiv, dass man's mit Publicity ausdeuten kann. Es ist vielmehr das Gefühl der Verbundenheit mit den Menschen. Der Mann, der politisch Verantwortung trägt, muss sich auch stellen, und er muss für sich zeugen.
Gaus: Wenn Sie manchmal zurückdenken, wären Sie lieber Professor geblieben, oder ist Ihnen die Politik ein so interessantes Gewerbe, dass Sie sagen: Es war richtig?
Erhard: Das ist heute keine Entscheidung mehr, und ich trauere einem Professorendasein auch nicht nach, so würdig ich es empfinde. Aber ich bin heute natürlich Politiker aus Leidenschaft und aus der Überzeugung heraus, dass mir die Gabe verliehen ist, das Schicksal eines Volkes doch gnädig zu gestalten.
Gaus: Was treiben Sie privat, wenn Sie Zeit haben?
Erhard: Wenn ich Zeit habe. Damit ist die Frage schon beantwortet. Ich habe eben keine Zeit. Selbst das Hobby aus meiner Jugend, das ja bekannt genug ist, dass ich ein großer Liebhaber der Musik bin, auch selbst gut und gerne Klavier spiele, das ist natürlich auch versunken. Ich habe selbstverständlich viel zu lesen in meinen Mußestunden. Aber wenn ich wirklich Zeit habe, dann benutze ich sie, um nachzudenken. Denn in der Hast des Alltags, da kommt vielleicht das Gedankliche, das Besinnliche manchmal etwas zu kurz. Wer wirklich wahrhaftig sein will, der muss aber immer wieder sich selbst vor seinem Gewissen überprüfen und muss den Dingen auf den Grund zu gehen suchen.
Gaus: Schreiben Sie an einem neuen Buch?
Erhard: Nein.
Gaus: Würden Sie es gern tun?
Erhard: Ja.
Gaus: Und was wäre es für ein Buch?
Erhard: Es würde die Fortentwicklung der Sozialen Marktwirtschaft im gesellschaftspolitischen Bereich behandeln.
Gaus: Wenn dieses die wissenschaftliche Aufgabe ist, die Sie sich stellen, was bleibt Ihnen politisch zu tun, was sehen Sie als die große Zukunftsaufgabe des deutschen Politikers an?
Erhard: Ich sehe als die Zukunftsaufgabe an, die Politik überzeugender darzustellen und neben den rein materiellen Dingen auch dafür zu sorgen, dass die Werte in einem Volke wieder richtig gesetzt und zueinander geordnet sind. Neben aller Bedeutung der Außenpolitik, die im letzten natürlich schicksalhaft ist, bin ich der Meinung, dass der Gesamtbereich der Innenpolitik neu geordnet, neu geformt und neu durchdacht werden muss und dass wir wegkommen müssen von der Idee, das Leben eines Volkes ließe sich in Kästchen aufspalten und jedes einzelne bedeute ein Ganzes für sich. Ich glaube, das ist noch eine der ungelösten Aufgaben, mit denen wir zu ringen haben. Und im übrigen erschöpft sich ja das Leben unseres Volkes nicht mehr allein im nationalen Raum, ist von dort aus nicht mehr zu gestalten. Aus dem Grund bin ich immer dafür eingetreten, dass neben aller schon durchgeführten Integration, wie Montanunion und Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, das ganze freie Europa geeinigt werden müsse. Ich war auch sehr angesprochen von dem Gedanken des amerikanischen Präsidenten, im Trade Expansion Act sozusagen den Schlüssel zu finden, die Schicksale der Völker im nordatlantischen Raum enger aneinander zu binden, das Zusammenleben friedlich zu gestalten. Natürlich soll das auch wieder über die Enge dieses Bereiches hinausgehen. Unsere Haltung, unsere Gesinnung soll deutlich machen, dass uns an einer friedlichen Welt liegt. Als Deutscher gehört es natürlich zu meinen unverzichtbaren Aufgaben, dafür zu sorgen, dass das Recht der Selbstbestimmung auch für das ganze deutsche Volk Gültigkeit haben muss. Wenn wir das auch nicht erzwingen können, müssen wir doch darauf vertrauen und nach dieser Richtung hin wirken. Das ist die Aufgabe einer Politik. Sie ist also zum Teil wohl materiell bedingt, aber zu einem wesentlichen Teil greift sie doch darüber hinaus und will wieder im Leben des einzelnen, im Bewusstsein des einzelnen etwas deutlich machen von Werten, die im Zeichen des Aufbaus vielleicht etwas zu kurz gekommen sind, aber die nicht versinken dürfen, wenn wir nicht ein Termitenstaat werden sollen.
Gaus: Meine letzte Frage, Herr Minister: Es wird in den letzten Tagen viel von der Nachfolge des Bundeskanzlers gesprochen und damit auch von Ihnen. Möchten Sie gern Bundeskanzler werden, und würden Sie Wirtschaftsminister bleiben, wenn ein anderer Bundeskanzler wird?
Erhard: Ich habe natürlich diese Entscheidung getroffen, und ich möchte Sie fragen, ob denn wirklich soviel Phantasie dazu gehört, um diese Frage beantworten zu können. Ich glaube, nein.