Sendung vom 04.03.1965 - Mann, Golo
Günter Gaus im Gespräch mit Golo Mann
Ich hasse alles Extreme
Golo Mann, geboren am 27. März 1909 in München, gestorben am 7. April 1994 in Leverkusen.
War nach Erika und Klaus das dritte von sechs Kindern des Schriftstellers Thomas Mann und dessen Frau Katharina (Katia) Pringsheim. Studierte Philosophie in München, Berlin und Heidelberg, Promotion bei Karl Jaspers über Hegel (1932). 1933 folgte er seiner Familie in die Emigration nach Frankreich, in die Schweiz und die USA. Bis 1935 Lektor in St. Cloud und Rennes, 1937 bis 1940 Redakteur für die Zeitschrift „Maß und Wert“ in Zürich. 1942 bis 1943 Geschichtsprofessor am Olivet College/ USA. Nach mehrjähriger Tätigkeit im Dienst der US-Regierung war er 1947 bis 1958 Geschichtsprofessor am Claremont Men's College in Claremont/Kalifornien. Ende der 50er Jahre Rückkehr nach Europa, nach Kilchberg bei Zürich, dem letzten Aufenthaltsort von Thomas und Katia Mann. 1960 bis 1964 Professor für Politische Wissenschaften an der Technischen Hochschule Stuttgart. Fortan Arbeit als literarischer Historiker. Erhielt 1974 seine eigene Fernsehsendung in der ARD („Golo Mann im Gespräch mit ...“). Ende der 80er Jahre votierte Mann dafür, die nationalsozialistische Vergangenheit endlich als abgeschlossen zu betrachten – weswegen der Bundespräsident im September 1989 zum 50. Jahrestag des Angriffs von Nazi-Deutschland auf Polen nicht nach Polen fahren sollte, wie der Schriftsteller meinte. Diese Art der öffentlichen Äußerung – so auch das Plädoyer, die Einwanderungsquote zu senken und den RAF-Terroristen nur noch Pflichtverteidiger zu gestatten – hat Freunde und Bewunderer Manns oftmals ratlos gemacht, weil sie nicht passen wollte zu einem Wissenschaftler, der mit seinen differenzierenden Betrachtungen Maßstäbe in der Zunft gesetzt hatte.
Veröffentlichungen u.a.: „Friedrich von Gentz“ (1947), „Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts“ (1958), „Wallenstein“ (Biographie, 1971), „Eine Jugend in Deutschland“ (Autobiographie, 1987), „Wir alle sind, was wir gelesen“ (Reden, Aufsätze, 1989).
Das Gespräch wurde gesendet am 4. März 1965.
Gaus: Herr Professor Golo Mann, Sie sind der Ausbildung nach Philosoph und Historiker. Sie promovierten 1932 bei Karl Jaspers. Bis vor einigen Monaten waren sie dem Berufe nach Professor für Politische Wissenschaft an der Technischen Hochschule in Stuttgart. Diesen Lehrstuhl haben Sie aufgegeben, aber Sie sind weiterhin gelegentlich vielbeachteter politischer Publizist. Ihrer Fachwissenschaft, der Historie, dienen Sie als Herausgeber einer vielbändigen Weltgeschichte. Dies alles ist eine breite Skala: Philosoph, Historiker, bis vor kurzer Zeit Hochschullehrer. Wenn Sie diese Skala verkürzen könnten, wenn Sie ein Leben, auch ein Arbeitsleben, einrichten würden ganz nach Ihrem Geschmack, wie würde es aussehen, was würden Sie betreiben?
Mann: Der goldene Mittelweg ist ja im Leben schwer zu finden. In meinem eigenen Leben war die Erfahrung die – und das wird auch die Erfahrung vieler anderer Menschen sein –, daß die Welt zunächst und lange Zeit zu wenig von einem will, sie also auch zu wenig von mir wollte, und nun, in später Zeit, ist es oft eher ein bißchen zu viel. Ich würde mich gern viel mehr konzentrieren auf eine große Arbeit, als ich es heute kann. Ich würde also gern den größeren Teil des Jahres auf dem Lande verbringen und ein Buch hinbringen, das sich sehen lassen kann und das meiner eigenen Seele und vielleicht ein paar anderen Seelen gut tut.
Nebenbei würde ich wohl gern auch ein bißchen nach außen wirken, würde gern von den Medien, die nun einmal da sind, zum Beispiel vom Medium Fernsehen, ein wenig Gebrauch machen, ein paar Artikel, ein paar Aufsätze schreiben ... Aber alles nicht so dicht, wie es gegenwärtig der Fall ist. Da Sie von der Breite der Skala sprechen: Es gab wohl Zeiten, da die Skala noch breiter war. Als ich in Amerika zu unterrichten anfing und Dinge unterrichten mußte, von denen ich überhaupt keine blasse Ahnung hatte, stand ich einen Winter lang jeden Morgen um drei Uhr auf und paukte von drei bis acht, was ich dann zu unterrichten hatte – in Fächern, die ich lieber nicht erwähnen will.
Gaus: Erwähnen Sie sie mal.
Mann: Ach, es waren Geschichte und Geographie und amerikanische Politik ...
Gaus: Sie haben gesagt: Vielen wird es so gehen, und Ihnen sei es so gegangen – daß die Welt zuerst gar nicht so sehr viel und vielleicht sogar zu wenig von einem zu wissen wünsche, und dann zu viel. Hat es Sie geschmerzt, daß man vielleicht jahrelang von Ihnen nicht so viel wissen wollte, wie Sie zu geben bereit waren?
Mann: Nicht bewußt geschmerzt, da es ja in jenen Jahren anders überhaupt nicht zu erwarten war. Mal davon abgesehen, daß ich wohl auch selber noch zu unreif war. Aber ich würde sagen, daß es hart war.
Gaus: Brannten Sie darauf, sich mitzuteilen?
Mann: Ja, ein bißchen mehr, als ich mich viele Jahre lang mitgeteilt habe.
Gaus: Sie sind als politischer Schriftsteller vor allem in den Vordergrund gerückt, Herr Professor Mann, teils gelobt, teils gescholten, weil Sie den Politikern der Bundesrepublik eine beweglichere Ostpolitik empfohlen haben, einschließlich einer nüchternen Betrachtung der deutschen Grenzfrage. Wir werden darauf sicherlich noch kommen in diesem Gespräch. An dieser Stelle interessiert mich zunächst eines: Ist die Beschäftigung mit der Politik für Golo Mann auch ein Lebenselixier, ein Bedürfnis, eine Notwendigkeit oder eine selbstauferlegte Pflicht?
Mann: Beides. Ich habe, seit ich ein junger Mensch war, also seit meinem 16. Lebensjahr etwa, Politik mit starkem, oft leidenschaftlichem und manchmal leidendem Interesse verfolgt. Ich habe auch zwischen meinen historischen Interessen und Bemühungen sowie dem Politischen oft eine Verbindung gesehen, das heißt, ich habe meine Anteilnahme am Gegenwärtigen sozusagen in die Vergangenheit übertragen, in gewissen meiner Schriften.
Gaus: Nicht umgekehrt? Die Anteilnahme gehörte dem Gegenwärtigen, und Sie übertrugen dieses Engagement in die Vergangenheit, nicht umgekehrt?
Mann: Es geht wohl in beide Richtungen, aber die von mir zuerst erwähnte ist wohl die stärkere gewesen. Das ist eine Seite der Sache. Aber man wird ja älter, und die Wiederholung der Dinge wird manchmal ermüdend und ein wenig deprimierend. Ich würde sagen, wenn ich mich heute gelegentlich, sehr gelegentlich, politisch äußere, dann ist das in der Tat mehr aus Pflicht und Schuldigkeit, denn zu meinem Vergnügen.
Gaus: Sie haben einmal in einer Unterhaltung – und das paßt zu dem, was Sie eben äußerten – über Ihre politische Publizistik gesagt: „Sie macht keine Freude, nein, mir nicht und anderen nicht.“ Ich finde, dies klingt doch recht pessimistisch. Sie haben seinerzeit erklärend hinzugefügt, Sie betrieben das politische Kommentieren nur, weil Sie nicht noch einmal den Vorwurf hören wollten, Ihre Generation – Sie sind 1909 geboren – habe sich politisch zu passiv verhalten. Ich möchte gerne von Ihnen wissen, Herr Professor, ob die Art der Kritik, die Sie als politischer Publizist in der letzten Zeit gelegentlich auf sich gezogen haben, Sie verletzt hat?
Mann: Das kommt drauf an. Es gibt eine Art von Kritik, die mich an die Verse von Goethe denken läßt: „Wanderer gegen solche Not, wolltest du dich sträuben, Wirbelwind und trockner Kot, laß sie drehen und stäuben“. Es gibt Dinge, die ich überhaupt nicht lese, sondern sofort wegwerfe, von denen mir aber wohlmeinende Bekannte dann doch berichten, also indirekt weiß ich dann davon. Und da möchte ich auf österreichisch sagen: Die können mir gar net meinen, nicht wahr, das berührt mich nicht weiter. Es gibt ernstere Kritik, die mich zwar nicht kränkt, aber die mir zu denken gibt und die mir oft auch Ursache ist, das eigene Denken zu überprüfen. Ich habe Diskussionen gehabt, etwa mit Vertretern von gewissen Vertriebenenorganisationen, und habe von diesen Menschen gelernt, wie tiefernst ihre Argumente sind. Das gab mir also die Pflicht auf – und die Chance! –, mein eigenes Denken zumindest zu überprüfen. Mitunter, das gebe ich offen zu, bin ich auch ein klein wenig deprimiert, wenn das Echo auf Äußerungen, die ich in aller Bescheidenheit für maßvoll und gutwillig halte, ein sehr gehässiges und verzerrendes ist. Dann fragt man sich manchmal: Willst du nun noch auf deine älteren Tage deine Zeit und deine Kraft wieder und wieder in dieser Wirrsal verbrauchen?
Gaus: Neigen Sie zur Resignation, und bedeutet der Entschluß zu kämpfen und für etwas einzustehen, eine Überwindung?
Mann: Ja, das würde ich sagen. Die Resignation ist eine schwere Versuchung für mich, der ich Widerstand leisten muß.
Gaus: Bewußt Widerstand leisten?
Mann: Ja, bewußt Widerstand leisten.
Gaus: Sie würden es für ein Vergehen gegen Ihre Pflicht ansehen, wenn Sie dieser Versuchung, zu resignieren, leichtfertig nachgeben würden?
Mann: Ja, das wäre in der Tat ein Verrat an der eigenen Pflicht, nebenbei auch an Menschen; es mögen nun wenige sein oder viele, die zu meiner Überraschung etwas von mir erwarten, im Bereich der politischen Kritik.
Gaus: Herr Professor Mann, wie beurteilen Sie den Stil, die Sitten sozusagen, nach denen die politische Auseinandersetzung in Westdeutschland geführt wird? Würden Sie, aufgrund eigener Erfahrungen, eine Verwilderung dieser Sitten in den jüngsten Jahren konstatieren wollen?
Mann: Bis zu einem gewissen Grade, ja. In den ersten Jahren nach 1945 waren diese Sitten fast zu gut, fast zu maßvoll, um dauerhaft wahr zu sein. Ich habe mir damals gesagt, so kann das nicht immer sein, es wird auch in Deutschland wieder, wie schließlich auch anderswo, irgendwann auf scharf gehen. Ja, auch anderswo, denn glauben wir doch nicht, daß die politischen Sitten, etwa in Amerika, so sehr sanfte und zuverlässig faire wären. Das sind sie keineswegs. In den letzten Jahren, zumal im letzten Jahr, habe ich also eine gewisse, ja, man kann sagen Verwilderung, zumindest eine Verschärfung wahrgenommen. Eine Verschärfung, die über das hinausgeht, was ich für normal hielte in einer Demokratie.
Gaus: Worauf führen Sie das zurück?
Mann: Darauf, daß im Grunde im Jahre 1945 nichts gelöst worden ist. Daß der deutschen Nation nur eine äußere, eine militärische, eine physische Niederlage beigebracht wurde, die freilich zunächst Beweiskraft hatte, die aber das, was in Deutschland so lange gewesen war, doch nicht einfach eliminiert hat. Mit der wiederkehrenden Macht, mit den Säften der Hochkonjunktur und auch mit dem Schwächerwerden der politischen Führung in der Bundesrepublik fühlen gewisse Kräfte nun, daß es für sie wieder Frühling werden könnte.
Gaus: Sie sagen „gewisse Kräfte“, und mich würde in dem Zusammenhang interessieren, wie Sie selbst Ihre Generation einschätzen. Ich habe im Zusammenhang mit Ihrer politischen Publizistik bereits erwähnt, daß Sie einmal Bezug genommen haben auf eben Ihre Generation, indem Sie ihr vorwarfen, sie sei politisch zu passiv gewesen. Ihr persönliches Schicksal, Herr Mann, ist gewiß nur bedingt generationstypisch gewesen, aber dennoch würde ich von Ihnen gern eine Charakteristik jener Generation erfahren, zu der Sie gehören. Das sind also die Leute, die heute zwischen 55 und 65 Jahre alt sind, die also die Weimarer Republik als Heranwachsende noch erlebt haben und die in die Mannesjahre gelangten nach 1933. Gibt es da durchgehende, allgemeine Vorzüge und Schwächen?
Mann: Von Vorzügen kann ich nicht reden, von Schwächen schon eher. Es ist eine Generation, die historisch kein Glück gehabt hat – mit Ausnahme derer, die stark genug waren, sowohl in Deutschland als auch außerhalb, in der sogenannten Emigration, all den Versuchungen zum Verzweifeln Widerstand zu leisten. Hier in Deutschland ist diese Generation durch den Zweiten Weltkrieg sehr stark aufgerieben worden. Sie fehlt heute weitgehend. Und in der Emigration ist ihr der Mut zwar nicht immer gebrochen, aber doch stark beeinträchtigt worden. Weil man eben sehr lange unter harten und schweren und wenig hoffnungsvollen Bedingungen gelebt hat. Es ist eine Generation, die historisch erfahren ist, und von der man – ich spreche noch nicht vom Individuum – wohl durchaus etwas lernen könnte.
Aber sie steht wohl auch in der Gefahr, zu resigniert oder zu pessimistisch zu sein oder wieder und wieder die Wiederholung schlimmer Dinge zu befürchten, die sie einmal erlebt hat. Ich würde übrigens sagen: Ich wollte, ich wäre einige Jahre früher oder einige Jahre später geboren als etwa mein jüngerer Bruder, der zehn Jahre jünger ist. Für den hat der Aufstieg Hitlers nichts bedeutet. Der ist damals nicht seelisch verwundet worden wie unsereiner. Wiederum: Wäre ich zehn Jahre älter gewesen, dann wäre ich in Deutschland schon fest verwurzelt gewesen und hätte nach dem Krieg zurückkehren können, hätte also etwas vorgefunden, hätte weitermachen können ... Nun, ich war 23, als Hitler zur Macht kam, das allerbiegsamste Alter, möchte ich sagen, aber auch eines, in dem man eigentlich wenig Widerstand leisten konnte; man hatte noch wenig zu bieten, nicht wahr, und wurde dann also hinausgewirbelt. Das lag nicht glücklich, generationsmäßig.
Gaus: Neigt Ihre Generation zur Selbstbemitleidung?
Mann: Das kommt nun ganz auf den persönlichen Fall an. Das könnte ich für die Generation nicht verallgemeinern.
Gaus: Zur Person Golo Mann?
Mann: Ich würde ehrlich glauben, nicht zum Selbstmitleid zu neigen, wohl aber manchmal zum Reflektieren über das eigene Schicksal und darüber, was aus meinem Leben unter einem günstigeren Stern vielleicht hätte werden können.
Gaus: Sie haben einmal gesagt, bei durchaus ebenfalls vorhandener Kritik an jener Zeit, Sie hätten ganz gern im wilhelminischen Zeitalter gelebt. Was wären Sie dann gewesen, ein Privatgelehrter?
Mann: Ja, wenn ich Geld gehabt hätte! Ja, ich wäre ganz gern ein Privatgelehrter, ein Schriftsteller und Publizist gewesen. Aber diese Bemerkung, die Sie anführten, die galt eigentlich nicht so sehr meiner eigenen möglichen Stellung in diesem Zeitalter, als vielmehr dem Zeitalter als solchem. Das eben trotz tiefer innerer Schwächen, die ja dann später zum bitteren Ende führten, mehr Leichtigkeit, mehr Heiterkeit hatte als unseres. Man konnte es sich noch leisten, sich um Politik überhaupt nicht zu kümmern. Das war doch schön, nicht?
Gaus: Haben Sie ein Bedürfnis nach Leichtigkeit und Heiterkeit?
Mann: Ja. Man bedarf ja oft dessen, was man nicht so sehr besitzt, nicht wahr?
Gaus: Sie würden von sich sagen, Sie besitzen es nicht in dem Maße, in dem Sie es sich wünschen?
Mann: Ungefähr so.
Gaus: Daß Sie, Golo Mann, nur ein bedingt generationstypischer Zeitgenosse sind, dies ergibt sich wohl schon aus dem familiären Hintergrund. Sie sind, Herr Professor, am 27. März 1909 in München als Sohn des Dichters Thomas Mann geboren worden, was sicherlich Besonderheiten geschaffen hat. Ich meine, daß aus einer solchen Sohnschaft sich eine Reihe von Fragen ergibt. Zunächst also: Der Sohn eines berühmten Vaters zu sein – hat darin für Sie jemals auch eine Last gelegen, etwa in dem Sinne, daß sich jemand wie Sie, der selbst schreibt, als Sohn von Thomas Mann Maßstäbe setzt, an denen man schier verzweifeln möchte?
Mann: Ich würde sagen: Einen Sohn eines berühmten Vaters, für den das, was Sie beschreiben, nicht unter anderem auch eine Last gewesen wäre, werden Sie in der gesamten Geschichte kaum finden. Daß ein kleiner Baum im Schatten eines großen Baumes Wachstumsschwierigkeiten hat, nicht wahr, das ist ja bekannt aus der Naturkunde, und das gilt sicher auch für die menschliche Psychologie. Aber daß ich das Werk meines Vaters, in Quantität und Qualität, nie werde erreichen können – das ist mir keine besondere Belastung gewesen. Zumal ich ja vielleicht mit einem gewissen Instinkt mir eben doch einen Gegenstand, eine Kunstform zur rechten Zeit gewählt habe, die von der meines Vaters wesensverschieden war. Ich bin ja kein Romanschriftsteller. Wäre ich das, dann wäre die Belastung sicher eine direktere.
Gaus: Halten Sie es für denkbar, daß Historiker zu werden – wenn auch mit einem ganz erheblichen und beträchtlichen Schreibtalent – ein Ausweg war, ein Ausweg aus der Not, eventuell zu stark unter der Last des Vaters zu leiden?
Mann: Das ist denkbar, aber eigentlich hinge die Antwort auf diese Frage doch davon ab, ob ich Talent zum Romancier gehabt hätte oder nicht. Und das weiß ich nicht, da ich es ja nie versucht habe.
Gaus: Würden Sie es mal ausprobieren mögen?
Mann: Vielleicht, vielleicht. Man soll nie „nie“ sagen. Aber es wird noch ein Weilchen dauern.
Gaus: Es klingt so, als hätten Sie darüber schon nachgedacht?
Mann: Mitunter.
Gaus: Was für ein Roman sollte es nach Ihrem bisherigen Nachdenkensergebnis sein?
Mann: Da gäbe es nur zwei Möglichkeiten: entweder ein historischer Roman oder wieder ein äußerst subjektiver Roman, also mehr oder weniger autobiographischer Roman. Ein dritte Möglichkeit, also etwas Kritisches der Gesellschaft gegenüber, würde ich für mich überhaupt nicht sehen.
Gaus: Wenn es ein historischer Roman wäre, welches wäre der bevorzugte Stoff?
Mann: Das könnte ich Ihnen auf Anhieb nicht sagen, da gäbe es manches. Ich glaube aber, optimistischerweise, ohne es noch eigentlich bewiesen zu haben, daß man Geschichte so schreiben kann, daß es sich beinahe so fließend, so unterhaltend liest wie ein Roman – und trotzdem wissenschaftlich ist. Das hinzukriegen, das wäre mein Ehrgeiz.
Gaus: Erlauben Sie mir, daß ich Ihnen dieses Kompliment für Ihre „Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts“ mache.
Mann: Ich danke Ihnen, Herr Gaus, aber ich hoffe ... es noch besser machen zu können. (lacht)
Gaus: Sind Sie mit sich selbst unzufrieden?
Mann: Immer.
Gaus: Warum?
Mann: Weil’s nie so gut ist, wie es sein sollte und vielleicht sein könnte.
Gaus: Woran fehlt’s, am Stilistischen oder am Wissenschaftlichen?
Mann: Ja, an beidem, und oft fehlt es auch an der äußersten Anspannung, die nur bei äußerster Konzentration und Ruhe möglich ist. Die eben erwähnte „Deutsche Geschichte“ – da wollte man in Deutschland noch kaum was von mir, da saß ich am Bodensee zwei Jahre lang in erstaunlicher Ruhe. Ich denke oft mit Wehmut an diese Zeit zurück, wo man noch wochenlang ohne einen Brief, ohne ein Telefonanruf sitzen und lesen und schreiben konnte. Das ist vorbei. Vielleicht kommt es wieder.
Gaus: Welches von den Werken Ihres Vaters ist Ihnen das liebste?
Mann: Kann ich nicht eigentlich beantworten, weil sie zu verschieden sind. Ich könnte einige nennen, die mir ausgesprochen unlieb oder weniger lieb sind, wie etwa die Novelle „Unordnung und frühes Leid“, die vielen so sehr gefallen hat. Auch “Tonio Kröger“, abgesehen von der Kindheit, ist mir eigentlich fremd.
Gaus: Warum?
Mann: Weil es mir zu übertreiben scheint, weil mir die Askese und die Herzenskälte des Künstlers zu abstrahiert und zu übertrieben scheint. Ich meine, so war er doch selber in Wirklichkeit gar nicht, der Autor von „Tonio Kröger“, und so ist doch generell ein Künstler nicht. Kurz und gut, es spricht mich nicht sehr an. Aber ob ich nun „Buddenbrooks“ oder „Felix Krull“ oder „Königliche Hoheit“ lieber mag oder „Der Tod in Venedig“, das könnte ich nicht sagen. Ich würde allenfalls sagen, daß ich von den ganz großen Romanwerken den „Zauberberg“ vergleichsweise noch für das am wenigsten geglückte halten würde. Ja, verglichen mit „Buddenbrooks“, den Joseph-Romanen und „Doktor Faustus“, würde ich den „Zauberberg“ für den am wenigsten geglückten Roman halten.
Gaus: Ich hätte gemeint, daß „Lotte in Weimar“ für Sie sehr viel bedeutet.
Mann: Ja, tut es auch. Das Buch liebe ich sehr, das liebe ich sehr, ja.
Gaus: Ihr älterer Bruder, Herr Professor, Klaus Mann, der 1949 aus dem Leben schied, hat in seiner Autobiographie „Der Wendepunkt“ das Leben in Ihrem gemeinsamen Elternhaus beschrieben: den Vater, den die Kinder ob seiner Entrücktheit – bei gelegentlicher zärtlicher Aufmerksamkeit für die Kinder – den Zauberer nannten; die Mutter, die ein strahlender Mittelpunkt der Familie gewesen ist und vielleicht noch ist; und die Kinder selbst, die sechs Kinder, das älteste Paar Klaus und Erika, das mittlere Paar Golo und Monika und das nachgeborene Paar, Elisabeth und Michael. Dies alles scheint in einem halb großbürgerlichen, halb künstlerisch-literarischen Rahmen sich abgespielt zu haben. Wenn Sie selbst zurückdenken, Herr Professor Golo Mann, zurückdenken an diese Ihre Kindheit und an das Heranwachsen – welches ist Ihr stärkster Erinnerungseindruck an das Elternhaus?
Mann: Eine freilich schier unerschöpfliche Frage für jeden Menschen. Hinzu kommt, daß ich mit einem, glaube ich, besonders scharfen und lebendigen Kindheitsgedächtnis belastet bin. Viele hunderte oder tausende von Eindrücken aus der Kindheit und frühen Jugend sind also heute noch in meinem Geist lebendig.
Gaus: Darf ich dazwischenfragen? Könnten Sie eine genauere Autobiographie schreiben als Klaus?
Mann: Ich will nicht sagen, daß seine ungenau war. Meine könnte genauer auf eine andere Art sein, ich will nicht sagen: genauer an sich. Aber noch heute wird unter meinen Angehörigen mein Gedächtnis immer zu Hilfe gerufen, wenn es irgendeine Person, irgendeinen Vorfall aus dem Jahre 1914 zu erinnern, zu identifizieren gibt.
Gaus: Damals waren Sie fünf Jahre alt.
Mann: Ja, und das reicht nun vom Allerunbedeutendsten bis zum Bedeutenden, also etwa die häufigen Vorlesungen meines Vaters, wenn er aus einem werdenden Werk uns abends in seinem Arbeitszimmer vorlas, also die typische Atmosphäre und die Art seines Vortrages, da raucht seine Zigarre ... und da ist dann eben die einzelne Vorlesung, das einzelne Kapitel, ob es aus dem „Zauberberg“ war oder später aus dem „Felix Krull“ ... das ist mir alles unvergeßlich. Oder die Qualen der Emigration, nicht wahr, als mein Vater schon in Südfrankreich war, im Frühsommer ‘33, und ich war noch in Deutschland – da besuchte ihn ein paarmal, und es wurde immer wieder darüber gesprochen, ob er zurückkehren solle oder nicht. Die Qual dieser Diskussionen ist mir ein unvergeßlicher Eindruck. Oder irgendeine Bemerkung zur Politik des Tages oder zur Kriegslage im Jahre 1914/15, als ich zum ersten mal den Namen Hindenburg oder Tannenberg hörte – das ist mir auch unvergeßlich. Also da gäbe es sehr viele und sehr verschiedene Arten von Erinnerung, vom Heitersten bis zum recht Ernsten ...
Gaus: Ist es, alles in allem, eine gute Erinnerung?
Mann: Nicht immer, wie sollte es das sein.
Gaus: Sie haben in Ihrem schon erwähnten Buch, Herr Professor, „Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts“ im Hinblick auf die politische Haltung Ihres Vaters geschrieben, ich darf zitieren: „Sein Ja“ – wobei Sie sein Ja zur Weimarer Republik meinen –, „sein Ja war immer nur ein halbes, von Kritik und Selbstkritik geschwächtes gewesen, sein Nein“ – Sie meinen das Nein gegenüber der Diktatur Hitlers –, „sein Nein war eindeutig und stark“. In welcher Weise hat Ihr Vater Sie selbst als jungen Mann politisch beeinflußt? Welche Wertmaßstäbe für das öffentliche Leben haben sie vom Tisch Thomas Manns mitgenommen?
Mann: Ich denke, in den 20er Jahren doch die humanitäre, die liberale, die halbdemokratische Wertung, der er nun huldigte. Ich war als ganz kleiner Junge in Opposition und im Deutsch-Nationalen Jugendbund und bei den Pfadfindern und tat alles, was man im königlichen Wilhelmsgymnasium in München im Jahre 1919 eben tat. Und davon wurde ich doch wohl recht schnell losgeeist oder irgendwie befreit, wenn Sie so wollen, ich wurde weggelockt durch die Atmosphäre in meinem Elternhaus.
Gaus: Der Eintritt in den Deutsch-Nationalen Jugendbund im Wilhelmsgymnasium in München, war das Opposition gegenüber dem Elternhaus?
Mann: Weiß ich nicht. Jedenfalls war es Sehnsucht, so zu sein wie die anderen. Ich kann mich erinnern, im Jahre ‘19 oder ‘20 oder ‘21 bekam ich zu Weihnachten eine Pfadfinderjoppe, ein Speer und die Werke von Theodor Körner geschenkt, und mein älterer Bruder höhnte über dieses reaktionäre Weihnachten. Davon kam ich dann weg, zu einem Teil durch den Einfluß der Gespräche, die ich zu Hause bei Tisch hörte, ganz ohne Frage.
Gaus: Diese Wertmaßstäbe also wären, wie Sie gesagt haben, Humanität, Liberalismus, Toleranz.
Mann: Toleranz, Friede vor allen Dingen, also deutsch-französische Versöhnung, diese Dinge, an die wir doch in den 20er Jahren so sehr glaubten, auf die wir so sehr hofften.
Gaus: War dies ein Schlüsselwort auch für Ihren Vater?
Mann: Oh ja, oh ja! Dann, in den späten 20ern, kam schon Paneuropa und kamen diese Dinge, die damals ja leider Illusionen waren. Dieses Träumen habe ich von meinem Vater, ganz ohne Zweifel, und ich hätte es ohne ihn vielleicht nicht gehabt.
Gaus: Was danken Sie ihm noch?
Mann: Auch wieder eine fast unerschöpfliche Frage. Ich würde sagen: den Respekt vor der Sprache, Liebe zur Sprache, den Respekt vor dem Stil, die Anstrengung, einen Stil zu schreiben, den man verantworten kann. Ob mir das immer gelungen ist, weiß ich nicht, aber die Anstrengung habe ich geleistet. Vielleicht auch dies noch: einen ausgeprägten Ekel vor dem Gemeinen, den hatte er nämlich, sehr stark sogar, und ich könnte mir denken, daß ich da auch etwas von ihm abbekommen habe. Auch Bildung natürlich. Das ist vielleicht nicht ganz so wichtig, aber die Art meiner Bildung im Literarischen ist doch stark von der Kenntnis seiner Werke, seiner Essays geprägt. Ich bin eben den Dingen nachgegangen, die auch er kannte und liebte, Tolstoi oder Flaubert zum Beispiel.
Gaus: Sind Sie diesen Dingen nachgegangen, um vielleicht das Gegenteil zu beweisen?
Mann: Nein, das glaube ich nicht. So weit ist meine "söhnliche" Opposition doch wohl nie gegangen.
Gaus: Ihr Onkel Heinrich Mann – ist er auch für Sie ein Beeinflusser und Anreger gewesen?
Mann: Kaum. Er war uns lange Zeit fremd, also gerade im äußerst bildsamen Alter, da er und mein Vater sich während des Ersten Weltkrieges und danach nicht gut standen. Es ist ja etwas hart, es zu sagen, aber seine Romane wie auch seine Essays haben mich nie so recht angesprochen. Es gibt Ausnahmen, »Der Untertan« bleibt meisterhaft.
Gaus: Wie ist es mit „Die kleine Stadt“?
Mann: Ja, das ist ein ganz schönes Buch, der „Henri Quatre“ ist auch ein schönes Buch. Also, er war schon jemand, die Klaue des Löwen merkt man auch oft bei geringeren Sachen. Nichts gegen ihn. Ich sage nur, daß er mir nicht, oder richtiger gesagt, ich ihm nicht sehr nahe stand. Ich hielt seine politischen Bemühungen für illusionär, für fiktiv. Er hatte da etwas geradezu Kindliches, ja eine Mischung aus Intuition und Naivität, die ich jedoch durchschaute. Ich traf ihn ja im Jahre ‘40 in Frankreich, inmitten des damaligen Chaos, und wir machten zusammen unseren Weg nach Spanien und dann nach Amerika und kamen uns da menschlich durchaus nahe. Kurz gesagt, ein geistiger Führer ist er mir niemals gewesen.
Gaus: Ihre älteren Geschwister, Klaus und Erika, haben in den zwanziger Jahren als Literaten und Kabarettisten und auch, so will mir scheinen, als bewußt Wilde viel von sich reden gemacht. Sie selbst sind von Ihrem Bruder Klaus stets als ein ernsthafter Typ geschildert worden. Fast mit Bosheit, so habe ich den Eindruck, hat er einmal in der frühen Fassung seiner Autobiographie von Ihrer skurrilen Ernsthaftigkeit gesprochen und gemeint, Sie seien als Kind geradezu würdevoll gewesen wie ein Gnomenkönig. Ich habe dazu einige Fragen. Haben Sie manchmal das Gefühl gehabt, im Schatten Ihrer älteren Geschwister zu stehen?
Mann: Im Schatten ein bißchen. Daß ich aber neidisch gewesen wäre, glaube ich nicht. Im Schatten ja. Sie waren älter, der Altersunterschied wirkte in der frühen Kindheit nicht sehr wesentlich. Aber als ich ein 15jähriger Schuljunge war, und mein Bruder war ein eleganter junger Schriftsteller, da war natürlich eine tiefe Kluft. Sie waren auch ungleich aktiver, vor allem mein Bruder. Es waren elegante, äußerst unterhaltsame, attraktive junge Leute, begehrt auf allen Parties, und ich war nun fast das genaue Gegenteil davon, vielleicht auch ein bißchen aus Trotz, das weiß ich nicht. Also, daß ich anfangs ein bißchen in ihrem Schatten stand, will ich zugeben. Aber sie waren beide, gerade damals, nett und hilfreich zu mir. Das möchte ich betonen.
Gaus: Eine ganz kleine Frage zwischendurch. Sie sind auf den Namen Gottfried getauft worden, ist es richtig, daß die Form Golo die Verballhornung durch Ihre Geschwister ist?
Mann: Also das wuchs mir zu, ehe ich sprechen konnte oder als ich sprechen lernte. Es kommt nicht von Gottfried, sondern von Angelus, was mein erster Name war. Ich wurde von meiner Kinderfrau Gelo genannt, und ich lallte Golo, na ja, dann blieb’s dabei. Ich möchte sagen, ich habe es versäumt, zur rechten Zeit von diesem Namen wegzukommen, und jetzt ist es nun nicht mehr möglich, jetzt muß ich halt dabei bleiben.
Gaus: Sie sind, um zurückzukommen auf die Frage der älteren Geschwister, schon als junger Mann auf eine bürgerliche, auf die akademische Laufbahn ausgewesen. Wie war und wie ist Ihr Verhältnis zur Ungebundenheit einer bestimmten Art literarischen Lebens und Betriebs, einer Art, für die Ihre älteren Geschwister zeitweilig durchaus zum Beispiel geworden sind, einer Art, die sich manchmal zum gewollten Bürgerschreck steigerte? Was halten Sie davon?
Mann: Was Sie eben sagten, würde eher für meinen verstorbenen Bruder gelten als für meine Schwester. Aber das nur nebenbei. Ich würde sagen, daß dies Treiben mir fremd war. Ich war nicht dagegen, aber dieser äußere Lebensstil der Bohème, also viele Stunden in einer schlechtgelüfteten Bar zu verbringen, was man damals ein Nachtlokal nannte oder so – ich habe nie Freude dabei empfunden. Ich hab’s einfach nicht ausgehalten. Das war mir fremd, und ich war nie in der Versuchung, es mitzumachen. Mein Bruder Klaus war ganz entschieden ein Großstädter oder Weltstädter, der eigentlich nur in Berlin oder Paris oder zum Schluß in New York leben konnte.
Gaus: Sie sind das nicht?
Mann: Nein. Ich bin das Gegenteil. Ich würde in einer solchen Stadt früher oder später eingehen. München, so wie es in der guten alten Zeit war, vor 30 Jahren, war mir noch gerade so recht, nicht zu groß, verstehen Sie. Aber am liebsten lebe ich auf dem Land.
Gaus: Könnten Sie versuchen, die Umgebung, in der Sie leben möchten, einmal zu skizzieren?
Mann: Kaum abstrakt, aber ich kann Ihnen die Gegenden nennen, die mir die liebsten sind: Das wäre etwa die Landschaft zwischen der oberen Donau und dem Bodensee, also Oberschwaben, und dann das angrenzende Badener Land. Da wären weiter gewisse Gebiete in Oberbayern, nicht so sehr das Hochgebirge, eher so auf 1000 m Höhe oder 800 m Höhe. Und ein dem entsprechendes Land wäre die Schweiz. Das ist die Landschaft und die Kultur, die mir die liebste ist.
Gaus: Und darin ein kleines Haus und ein Garten?
Mann: Ja, das wäre schön.
Gaus: Sie haben die vornehme und exemplarische Internatsschule Schloß Salem am Bodensee besucht, Herr Professor, und es will scheinen, daß dies eine angemessene Ausbildungsstätte für den Sohn eines höchst erfolgreichen Schriftstellers und für den Enkel einer sehr wohlhabenden Familie gewesen ist. Später an der Universität sind Sie nach eigener Bekundung zu einer Gruppe eher linksgerichteter Studenten gestoßen. Ich würde gern wissen: War dies ein Ausbruchsversuch aus dem Herkömmlichen, aus dem Familiären, oder aus welchen anderen Motiven ergab sich diese politische Haltung?
Mann: Nein, das waren die Sozialdemokraten und deren Studentengruppe an der Universität, und das tat ich im Kampf gegen den aufsteigenden Nationalsozialismus. Aus keinem anderen Grunde. Damals nannten wir uns noch Genossen, der Ausdruck ist ja nun erfreulicherweise weggefallen. Ich sagte damals den Genossen, ich sei kein Marxist, und ich habe also schon damals immer gegen den Marxismus gesprochen. Aber ich sagte mir, man muß auch in der Sphäre der Hochschule tun, was man kann, und viel konnte ich freilich nicht tun gegen den Aufstieg dieser Gefahr. Jedenfalls war diese Studentengruppe für mich die geeignetste Möglichkeit. Darum habe ich es getan.
Gaus: Dies ist erstaunlich, so will mir scheinen. In einer Zeit, in der die jungen Leute zu den linken und rechten Extremen drängten, also in der Endzeit der Weimarer Republik, sind Sie bei einer Partei geblieben, die faktisch doch zur gemäßigten Mitte, links von der Mitte, gehörte. Woraus haben Sie diese Vernunft, diesen Sinn für Maßhalten empfangen?
Mann: Das weiß ich nicht. Ich würde glauben, daß ich ihn einfach habe, diesen Sinn. Solche Temperamentsneigungen oder Neigungen des Denkens kann man, glaube ich, ganz beliebig und mit ebensoviel Recht negativ und positiv interpretieren. Man kann sagen, es kommt aus Friedfertigkeit, es kommt aus Schwachheit, es kommt aus Scheu vor dem Kampf, nicht wahr, oder man kann sagen, es kommt aus gutem Willen, es kommt aus Vernunft … Mir wär’s im Grunde ganz egal, wie man es benennt, die Sache bleibt nämlich immer die Gleiche, wie sie auch benannt wird. In der Tat: Maß ist für mich in der Politik immer sehr wesentlich gewesen. Freilich würde ich hinzufügen, daß wir jungen Leute in Heidelberg damals die offizielle Politik der SPD doch scharf kritisiert haben, vor allem ihr ohnmächtiges Tolerieren
Gaus: Sie fanden die SPD zu sehr im Detail verhaftet?
Mann: Ja, und zu ohnmächtig. Die haben mitgemacht und waren doch nicht an der Macht, also die haben Brüning möglich gemacht.
Gaus: Trotzdem schlossen Sie sich ihr an?
Mann: Ja, aber nicht nur ich. Wir als Gruppe schickten Telegramme an den Parteivorstand nach Berlin, nicht wahr, mit Warnungen, die gar nicht so dumm waren – die aber so beantwortet wurden, wie Sie sich's ja vorstellen können. Wir sollten erst mal lernen, was Politik ist und dergleichen mehr.
Gaus: Dennoch würde ich gern die Frage wiederholen: Was war die Barriere für Sie vor dem Verfall ans Extreme?
Mann: Ich hasse das Extreme, temperamentsmäßig. Ich habe es immer gehaßt, wo immer es mir in Büchern auftrat, also ich habe eine Figur wie Calvin gehaßt oder eine Figur wie Robespierre, eine Figur wie Trotzki oder Lenin. Gehaßt. Das Extreme in jeder Erscheinung ist mir immer verhaßt gewesen. Ich war nie in der Versuchung, mich den Kommunisten zuzuwenden. Da kam vieles zusammen: Instinkt, Temperament und auch Analyse. Ich habe nämlich den Karl Marx schon ein bißchen studiert und habe ohne viel eigenen Genius herausfinden können, wo die Denkirrtümer bei diesem Mann waren – der mir auch rein menschlich von vornherein äußerst unsympathisch war. Kurz und gut, in der Versuchung war ich nie, selbst nicht in Zeiten, als es populär war, also in den 30er Jahren, als eine Volksfront die Hoffnung, das Idol vieler meiner Schicksalsgenossen war. Ich bin nie drauf reingefallen.
Gaus: Wenn Sie sagen müßten, worin Sie Ihrem Vater, Thomas Mann, am ähnlichsten sind – können Sie es für möglich halten, daß Sie sagen würden: in der Unlust am Extremen?
Mann: Ja, das würde mir einleuchten. Ich würde eine völlig andere Sache hinzufügen: die Liebe zu Gedichten und das Auswendigkönnen von Gedichten. Mein Vater konnte sehr viel auswendig, aber ich glaube, ich habe ihn darin übertroffen.
Gaus: Können Sie mir sagen: Gibt es ein absolutes Lieblingsgedicht von Golo Mann?
Mann: Nein, es gibt zwanzig.
Gaus: Nennen Sie mir die ersten zwei, wenigstens.
Mann: Nein, das kann ich auf Anhieb nicht. Es reicht nicht sehr weit in die Gegenwart, da nur etwa bis Hofmannsthal oder Ricarda Huch, von da ab bin ich leider Gottes gedichtblind. Es fängt mit dem Barock an, also das Abendgedicht von Claudius, ich denke an Gryphius oder an Günther, dann an Brentano und Heine und Eichendorff, Rückert vor allem, also den liebe ich besonders. Kurz und gut: Ich könnte eine ganze Anthologie von Gedichten erheben, die ich auswendig kann. Es gäbe ein paar Hundert, glaube ich, und das habe ich, nebenbei bemerkt, von meinem Vater wohl eher geerbt als gelernt.
Gaus: Lernen Sie immer noch Gedichte auswendig?
Mann: Immer noch, ja. Ich halte es für eine ausgezeichnete Gewohnheit.
Gaus: Welche Vorbilder haben Sie in Ihrer Jugend gehabt? Welche Figuren der Geschichte sind es gewesen, die Sie begeistern konnten?
Mann: In meiner späten Jugend – nein, das kann man nicht mehr Jugend nennen –, also in meinen frühen Mannesjahren habe ich mich sehr ausführlich mit einem deutschen Politiker und Schriftsteller befaßt, Friedrich von Gentz.
Gaus: Es ist Ihr erstes Buch gewesen.
Mann: Ja.
Gaus: War das ein Vorbild für Sie?
Mann: Nicht in jeder Beziehung.
Gaus: Er war nicht so unbedingt liberal.
Mann: Zweifelsfrei. Er war auch ein klein wenig ... nun, ich will nicht sagen korrupt, aber er nahm doch Geld, wo er es kriegen konnte.
Gaus: Und er war auch nicht ausgesprochen liberal.
Mann: Das bin ich auch nicht durchweg. Kurz und gut, es ist der Schriftsteller, glaube ich, von dem ich politisch am meisten gelernt habe und den ich also manchmal stilistisch auch ein wenig nachgeahmt habe.
Gaus: Durchaus bewußt?
Mann: Ja, bewußt. Ich glaube, daß ein Schriftsteller einen Meister haben muß, an dem er sich übt. Ich habe manche gelesen, habe mich sehr viel mit Hegel befaßt, gottlob bin ich von dessen Stil wohl nicht sehr beeinflußt worden. Ich habe andere Dichter und Schriftsteller wie etwa Heine geliebt, der nun wieder völlig anders war, aber Gentz ist der, von dem ich am meisten gelernt zu haben glaube. Und dann gab es Figuren, die mich in gewissen Lebensphasen fasziniert haben. Der allererste, als ich neun Jahre war, war Wallenstein. Zu dem möchte ich auch auf meine älteren Tage zurückkehren.
Gaus: Ich habe gehört, Sie möchten eine wissenschaftliche Biographie über Wallenstein schreiben.
Mann: Das würde ich gerne, aber dieser Plan ist nun buchstäblich schon etwa 45 Jahre alt.
Gaus: Können Sie erklären, warum es gerade Wallenstein ist?
Mann: Nein, das war Liebe auf den ersten Blick. Ich las Schillers „Dreißigjährigen Krieg“, und sobald ich zu Wallenstein kam, fing ich fast an zu zittern. Von da an war ich hingerissen. Es gibt wirklich sonderbare Begegnungen.
Gaus: Sie vermuteten eben von sich, Sie seien durchaus nicht in allen Punkten liberal, und das scheint mir richtig zu sein. Denn Ihre heutigen historischen und zeitkritischen Betrachtungen verraten dem Leser eine Hinwendung zum Konservativen. So haben Sie zum Beispiel in einem Vortrag gesagt, ich zitiere: „Ohne Bindung, ohne Treue, von nichts anderem getrieben als dem ökonomischen Interesse kann keine Gesellschaft bestehen“. Und Sie haben in diesem Zusammenhang mit deutlicher Sympathie die bindende, stilgebende Rolle etwa des Adels und anderer konservativer Gesellschaftskräfte erwähnt. Versuchen Sie bitte, mir den sinnvollen Konservativismus, zu dem Sie sich bekennen möchten, zu skizzieren.
Mann: Ja, da bin ich nun beinahe im Doktorexamen. Ich glaube im allgemeinen nicht sehr an Ismen.
Gaus: Sie haben eine Abneigung gegen Ideologie?
Mann: Ja, und in diesem Sinne auch gegen das Konservative, insofern es ein Ismus ist und seine Vertreter behaupten, sie hätten die Weisheit mit Löffeln gegessen. Ich mag das nicht. Es ist ja so, daß meistens der Vertreter jedes Ismus, ob es nun ein Konservativer oder ein liberaldemokratischer Sozialist ist, für sich in Anspruch nimmt, alle guten Eigenschaften und die Fähigkeit zum einzig richtigen Handeln zu besitzen. Also abgesehen von der Gefahr der Ismen: Es scheint mir trotzdem sinnvoll, gewisse Denkneigungen und gewisse fundamentale Einschätzungen des menschlichen Treibens als konservativ zu bezeichnen. Das wäre etwa: Liebe zur Vergangenheit und Respekt vor der Vergangenheit; Scheu, sie auszurotten, wo es nicht unbedingt notwendig ist. Das ist die eine Seite. Dann: Skeptizismus. Nicht Zynismus, aber ein gewisser maßvoller Pessimismus dem Menschen und seinem Treiben gegenüber. Also ich meine die Ablehnung eines Glaubens an die zuverlässige Güte oder Vernunft des Menschen. Von daher plädiere ich auch für die Wertschätzung von Bindungen, und seien sie auch irrationaler Art. So lange sie den Menschen binden und ihm ein moralisches und geistiges Heim geben, ist es gut. Also das scheint mir eine konservative Haltung zu sein.
Gaus: Sind Sie eigentlich immer ein Konservativer gewesen, selbst in der Zeit, in der Sie, äußerlich betrachtet, ein eher linksgerichteter Student waren? Oder was hat Sie veranlaßt, konservativ zu werden?
Mann: Wahrscheinlich Temperament und Studium der Geschichte und gewisser Schriftsteller. Ich wäre heute sehr wohl imstande, sozialdemokratisch zu wählen, dies nebenbei bemerkt, und ich würde darin keinen Widerspruch zu gewissen konservativen Grundtendenzen in mir sehen. Ich sah ihn jedenfalls im Jahre 1932 nicht.
Gaus: Warum sind Sie nicht bei der Philosophie geblieben, sondern Historiker geworden?
Mann: Weil ich kein schöpferischer Philosoph werden zu können glaubte, weil ich also das Ingenium in mir nicht spürte, und weil bloße Philosophiegeschichte und Benachbartes mich nicht befriedigte. Ich würde aber glauben, daß sich ein klein wenig Philosophie in meinen historischen Schriften findet. Ich jedenfalls finde sehr viel Philosophie in der Geschichte und ihren Problemen.
Gaus: Sind Sie ein Moralist, Herr Professor? Sie haben einmal geschrieben, nur ein Narr könne sich weigern, die Notwendigkeit moralischer Begriffe anzuerkennen. Welches sind bitte, in Ihren Augen, die moralischen Kategorien, derer die Öffentlichkeit bedarf?
Mann: Ja, auf diese Frage war ich nicht recht vorbereitet. Es ist wieder eine unerschöpfliche.
Gaus: Ich lege Wert auf die Feststellung, daß wir auf keine Frage vorbereitet waren.
Mann: Gut, das trifft zu, aber die anderen Fragen waren biographischer Art, und daher war die Antwort gewissermaßen aus dem Ärmel zu schütteln. Nun, ich weiß natürlich, daß Politik immer ein, teilweise wenigstens, schmutziges Geschäft war und wohl bleiben wird. Selbst entschieden moralisch denkende Staatsmänner schrecken häufig nicht vor solchen Kompromissen mit der anderen Seite der Politik zurück, die sie vermeiden konnten. Ich gebe mich also betreffs des Handwerks der Politik keinen Illusionen hin. Ich würde mich da ungefähr als einen Schüler von Immanuel Kant denken. Politik wird niemals ein ganz sauberes Geschäft sein können, aber sie sollte es sein, und sie muß es sein, obwohl sie es nicht sein wird, weil der Mensch eben aus krummem Holz geschnitzt ist, was ja wieder eine konservative Grundeinsicht ist. Nun, im menschlichen Bereich kommt aber alles auf den Gradunterschied an, nicht wahr. Ein bißchen Unmoral, die Leute mitunter ein klein wenig betrügen, Kompromisse schließen, nicht wahr, oder in der Vergangenheit ein klein wenig Gewalt anwenden – so lief es in der Politik immer. Es gab aber Leute, die gingen in diesen Dingen halt sehr, sehr weit und irgendwann viel zu weit, und gerade dies Erlebnis hat uns doch alle gezwungen, die moralischen Grundlagen und Bedingungen des Politischen neu zu überdenken. Und entschieden festzustellen, daß Mord schlecht ist, daß Lüge schlecht ist, daß Unterdrückung schlecht ist. Darin stimmen wir doch wohl überein.
Gaus: In diesem Zusammenhang würde ich gerne auf jenen Punkt kommen, bei dem Sie in jüngster Zeit die meiste Kritik auf sich gezogen haben: zur Möglichkeit nämlich, Moral in die Politik zu tragen, bei gleichzeitiger Anerkenntnis, daß die Politik bis zu einem gewissen Grade und zwangsläufig ein unsauberes Geschäft ist. Sie haben gesagt, Deutschland werde die Veränderungen in Osteuropa, einschließlich seiner eigenen neuen Grenzen, als das anerkennen müssen, was sie seien, nämlich Tatsachen. Sie haben also zum Beispiel eine Anerkennung der jetzigen Oder-Neiße-Linie angemahnt, und man hat Ihnen vorgeworfen, Sie seien ein Illusionist. Nicht die Politiker, die Sie tadeln, hingen Illusionen nach, sondern Sie seien Illusionist, weil Sie meinten, daß die Anerkennung unserer Ostgrenzen politisch sinnvoll und nützlich sei. Dazu habe ich zwei Fragen, Herr Professor. Wie sind Sie, ganz allgemein gefragt, zu dieser Auffassung in Sachen Ostgrenzen überhaupt gelangt? Warum meinen Sie, daß die Anerkennung sinnvoll wäre? Kamen Sie als Moralist zu dieser Ansicht?
Mann: Nein, jedenfalls nicht nur als Moralist. Ich habe während des Krieges auf einen vernünftigen Frieden gehofft, also auf das Gegenteil eines Rachefriedens. Selbst mein Buch über den alten Gentz hat ja diesem Zweck gedient: Es sollte zeigen, wie man nach einer solchen Katastrophe mit dem schuldigen und besiegten Staat einen Frieden schließt, der dauern kann und das Ganze befriedet.
Gaus: Es war eine wahrhaft andere Zeit, und es waren wahrhaft andere Menschen.
Mann: Ja, ja ... also jedenfalls war dies der Zweck dieses Buches, und in meiner nun äußerst niedrigen und ohnmächtigen Sphäre habe ich also damals der Vernunft das Wort zu reden versucht: Ich wußte freilich sehr bald, daß es nicht so wie erhofft ausgehen würde, und ich sah nun diesen teils elementaren und teils von den Kabinetten gebilligten oder ausgeheckten Rückschlag und Racheakt, die Vertreibung der Deutschen aus diesen Ostgebieten. Damals glaubte ich, aus Schlechtem sei halt Schlechtes gekommen, und aus diesem Schlechten kann nur wieder neues Schlechtes kommen. Das ist damals mein Urteil gewesen. Mittlerweile haben die Dinge sich ja ein wenig konsolidiert. Wir haben auf der einen Seite die unglaublichen Erfolge Westdeutschlands gehabt, und wir haben auf der anderen Seite den Wiederaufbau sowie die Besiedlung dieser Gebiete, vor allen Dingen durch die Polen, als vollzogene Tatsache.
Da muß sich der denkende Mensch doch fragen, was soll nun eigentlich daraus werden? Mehr habe ich ja nie gefragt. Meine Äußerungen sind, wie das eben so geht, im politischen Kampf oft vergröbert oder vereinfacht worden. Ich freue mich doch nicht nur über diese Lösung, ich habe sie furchtbar gefunden, und ich suche auch heute noch nach der Wiederherstellung des Rechtes auf beiden Seiten. Das heißt: Ich würde es sehr begrüßen, wenn auch die andere Seite irgendwelche Gesten zeigen könnte – was sie aber bestimmt nie tun wird, solange man auf der deutschen Seite auf dem Recht der Grenzen von 1937 besteht, nicht wahr? Ich habe immer nur gesagt, wir müssen die vollzogenen Tatsachen als eine historische Grundlage anerkennen, von der man auszugehen hat. Gewisse Veränderungen besonders im Falle Böhmens würde das doch keineswegs ausschließen.
Gaus: Die zweite Frage in diesem Zusammenhang: Es wird also gern gegen Sie ins Feld geführt, Sie befänden sich nicht auf dem Boden der sogenannten Realpolitik. Sagen Sie mir bitte, Herr Professor Golo Mann, gibt es Positionen, die auch entgegen den Bedürfnissen der wirklichen oder angeblichen Realpolitik behauptet werden müssen? Gibt es trotz allem, was Sie gesagt haben über das Unsaubere der Politik, es eine Möglichkeit der moralisch fundierten Außenpolitik? Oder ist dies ein schöner Traum? Ist es ein Luxus, den sich zwar der Historiker leisten kann, der Politiker jedoch nicht?
Mann: Es ist ja heute so, daß eine moralische Außenpolitik, das heißt eine Außenpolitik, die das eigene Recht und die eigenen Lebensnotwendigkeiten mit dem Recht und den Lebensnotwendigkeiten der Gegner zu versöhnen sucht, die also gewissermaßen zugleich Partei und über den Parteien ist, daß eine solche Außenpolitik zur praktischen Notwendigkeit geworden ist. Denn alle bisherige Außenpolitik, die nur leidenschaftlich, listig, blind für die eigene Partei kämpfte, hat noch immer zu Kriegen geführt. Der Krieg war die Ultima ratio, und nun kann doch Krieg, ausgewachsener Krieg in Europa nicht mehr sein! Folglich sind doch die politischen Künste eines Bismarck veraltet. Weil es Krieg nicht mehr geben kann, weil der Krieg nichts mehr lösen kann. Folglich muß doch was anderes versucht werden, folglich müssen wir doch zu einem echten Frieden mit diesen gegnerischen Leuten kommen, so oder so. Auch die müssen das wollen, und ich mache mir über die Polen und Tschechen durchaus nicht die Illusion, die man mir gelegentlich vorgeworfen hat. Daß das hinter dem Vorhang des Kommunismus arge Nationalisten sind, weiß ich nur zu gut. Je freier sie von Moskau werden, desto freier werden sie wieder in ihrem Nationalismus werden. Das weiß ich nur zu gut.
Gaus: Gibt es dennoch, trotz solcher Widrigkeiten, geradezu die Pflicht des Politikers, sich hoch gesteckte Ziele zu setzen, auch wenn die Gegebenheiten der Gegenwart dem entgegenstehen? Würden Sie zum Beispiel meinen, daß in diesem Zusammenhang de Gaulle ein solcher Politiker wäre?
Mann: Das würde ich glauben, aber de Gaulle weiß wie jeder große Staatsmann – und ich würde ihn alles in allem einen sehr großen Staatsmann nennen –, daß das große Ziel, sogar jenes Illusionäre, das in jeder großen Politik wohl sein muß, mit einer äußerst realen Beurteilung der Dinge verbunden werden muß. Denken Sie an die Art, wie er Algerien geräumt hat. Denken Sie an die Art, wie er heute das deutsche Problem beurteilt. Er beurteilt es so real, daß er buchstäblich gleichzeitig von Bonn, von Warschau und von Peking gelobt worden ist. Ein Meisterwerk, nicht wahr?
Gaus: Noch einmal allgemein gefragt: Gibt es die Pflicht für Politiker, sich Ziele zu setzen, die größer sind als die Gegenwart es zu erlauben scheint?
Mann: Ja, das glaube ich. Aber sie müssen gleichzeitig den Funken des Realismus in sich haben. Es gibt da kein sicheres Rezept, beide Elemente müssen drin sein. Die Gründung des Deutschen Reiches wäre im Jahre 1862 noch eine äußerst schwierige Sache gewesen, als Bismarck begann, darauf hinaus zu wollen. Bismarck hat aber damals – später nicht mehr, als sein Werk anfing, völlig unidealistisch und untransparent zu werden – in jenen wenigen Jahren Ziel und Realismus großartig zu verbinden gewußt.
Gaus: Kehren wir zurück zum Porträt Golo Mann. Herr Professor, im Jahre 1933 – Sie waren sozusagen frisch promoviert – begab sich die Familie Mann in die Emigration. Dies war ein Schritt, der zunächst gar nicht zwingend geboten schien, der aber allmählich von Ihrem Vater Thomas Mann zu einer konsequenten Stellungnahme gegen die nationalsozialistische Herrschaft gedeutet und ausgebaut wurde. Ihr eigener Emigrationsweg, Herr Professor, führte über Frankreich, wo sie als Lehrer arbeiteten, über die Schweiz, wo Sie bei der Zeitschrift „Maß und Wert“ tätig waren, nach Amerika – wo Sie bis zum Eintritt ins amerikanische Heer an einem kalifornischen College als Geschichtsprofessor arbeiteten. Der Entschluß zu emigrieren – wie war er begründet bei Ihnen selbst? Sind Sie nur Ihrem Vater gefolgt oder gab es eigene Gründe?
Mann: Ich war in den Winter- und Frühlingsmonaten 1933 in Deutschland tief unglücklich, vereinsamt, verzweifelt, habe mich also ein bißchen in der Rolle von Kassandra in dem Gedicht von Schiller gefühlt, also: verzweifelt inmitten des Jubels, der damals auf den Straßen herrschte. Das ist mir unvergeßlich, dieser Jubel über den Triumph einer Macht, die ich für eine gemeine hielt. Dies Erlebnis habe ich niemals völlig überwunden, nebenbei bemerkt. Ich blieb aber ein halbes Jahr länger in Deutschland als meine Eltern, wurde schließlich von Freunden nach Südfrankreich geschickt, um meinem Vater zu bewegen, zurückzukehren. Ich habe diesen Auftrag zunächst mit Feuereifer erfüllt. Aber in der dortigen Atmosphäre ist der Wille zur Erfüllung des Auftrags sehr schnell weggeschmolzen.
Gaus: Hätten Sie sich, als Sie noch in Deutschland waren, bevor Sie sich auf die Reise begaben, von einer Rückkehr Ihres Vaters auch politisch etwas versprochen? Hatten Sie diese Illusion?
Mann: Ich habe das doch damals im Detail nicht alles so richtig beurteilt. Nein, politisch allerdings keineswegs, aber ich wußte und sah, wie furchtbar hart ihn die Emigration traf und wie sehr schwer sie ihm fiel. Ich dachte: Wenn er wieder in seinem schönen Haus in München säße und in Ruhe arbeiten könnte, im Lande seiner Muttersprache usw., so wäre das doch das Beste für ihn. Und er selber hat ja, ich glaube zwei Jahre lang, geschwankt. Der endgültige Entschluß, nicht zurückzukehren, ist, wenn ich mich nicht täusche, erst im Jahre 1935 erfolgt.
Gaus: So lange haben Sie selbst nicht geschwankt?
Mann: Nein, dann nicht mehr. Ich wollte zunächst nicht heraus, bin aber heraus, bin mit meiner Familie, dem Clan, wie mein verstorbener Schwager das zu nennen pflegte, sozusagen hinausgeschwemmt worden. Ich konnte nicht anders, ich hätte mich von all meinen Angehörigen ja endgültig trennen müssen, wenn ich in Deutschland geblieben wäre. Folglich bin ich mit. Aber als ich draußen war und die Dinge nun von außen sah und aufgrund der auswärtigen Informationen erfuhr, was in Deutschland vor sich ging – da war ich entschlossen, nicht zurückzukehren, solange Hitler an der Macht war. Und so wurde ich dann ein willentlicher Emigrant, was ich zunächst nicht war. Wurde Emigrant, ohne je zu glauben, daß die Emigration politisch viel leisten könnte. Da war ich von vornherein äußerst pessimistisch. Das habe ich gelegentlich auch publizistisch ausgedrückt.
Gaus: Das ist richtig. Es gibt aus den 30er Jahren Essays von Ihnen, in denen Sie – bedenkt man Ihre damalige Situation – viel Verständnis für Deutschland bewiesen, nicht für die Nationalsozialisten, aber doch für Deutschlands Weg durch die Geschichte. Haben Sie Heimweh gehabt, Herr Professor?
Mann: Furchtbar! Heimweh, das mich zu Zeiten von Krisen, während derer ich glaubte, das Naziregime würde zusammenbrechen, vollkommen verzehrte. Dann tat ich wochenlang nichts außer Zeitung lesen. Das war so während der sogenannten Rheinland-Krise, also im Jahre ‘36, nach der Besetzung des Rheinlandes durch Hitler, als die Franzosen ein paar Tage so taten, als würden sie dagegen agieren. Ich dachte, nun stürzt Hitler, und in einer Woche bin ich wieder in München. So weit ging das, und ich bin, mein Gott, sechs, sieben Jahre immer um Deutschland gekreist und in der Nähe der deutschen Grenze gewesen.
Gaus: Frankreich, Schweiz.
Mann: Frankreich, Schweiz, Böhmen.
Gaus: Erklären Sie dies Heimweh, wenn Sie es können. Was war der Grund? Die Sprache?
Mann: Ja, die Sprache – und weil ich doch überhaupt nichts anderes kannte. Vielleicht wissen Sie nicht einmal mehr, generationsmäßig, wie, ich möchte sagen provinziell unsere Erziehung gewesen war damals in Deutschland.
Gaus: Auch im Hause Ihres Vaters?
Mann: Im Grunde auch, ja. Ich kam ins nichtdeutsche Europa ohne wesentliche Sprachkenntnisse, ohne Kenntnisse irgendeines Landes, sei es Frankreich, sei es auch nur die Schweiz, sei es England. Ich kannte überhaupt nur Deutschland, nicht wahr, und konnte mich ohne Deutschland eigentlich nicht denken.
Gaus: Die Liebe zu Deutschland – haben Sie sie stets empfunden?
Mann: Ja, aber mitunter – ich leugne es nicht – mit dem Gegenteil vermischt; zu gewissen Zeiten.
Gaus: Dennoch neigen Sie dazu, wenn man das aus der Lektüre Ihrer geschichtlichen Arbeiten schließen will, viel zu verstehen und viel zu verzeihen. Ist das so?
Mann: Das würde ich glauben. Ob zu sehr, will ich nicht entscheiden.
Gaus: Liegt darin die Gefahr, daß Standpunkte verwischt werden? Weil man zuviel relativiert?
Mann: Die Gefahr ja, aber die Geschichtsschreibung ist immer ein Lauf auf dem Seil. Man ist immer in Gefahr, nach der einen oder anderen Seite herunterzufallen, nicht wahr?
Gaus: Sie sind 1940 von der Schweiz nach Frankreich zurückgegangen, um in der französischen Armee zu kämpfen. Es ist nicht so weit gekommen, Sie sind stattdessen in ein Internierungslager in Frankreich gelangt, von wo aus Sie über einige Umwege nach Amerika kamen. Aber Ihr Entschluß, gegen das damalige Deutschland mit der Waffe in der Hand zu kämpfen – was hat dieser Entschluß für Sie bedeutet? Was mußte dem vorausgehen?
Mann: Da wäre zu unterscheiden zwischen der sentimentalen Situation und der Theorie. Rein gefühlsmäßig war es einfach so, daß ich in der Schweiz todunglücklich war, nachdem der Krieg einmal begonnen hatte. Todunglücklich, weil die Schweiz damals ein Igel geworden war, also völlig mobilisiert, und alle meine Bekannten, alle meine Freunde nun einberufen waren oder irgendwas taten, was potentiell gegen Hitler gerichtet war. Denn die Schweiz erwartete ja jeden Monat, gelegentlich jede Stunde, angegriffen zu werden. Und ich war ausgeschlossen davon. Ich war mit knapper Not geduldet, aber ausgeschlossen.
Es ging so weit, daß ein altes Mütterchen mal an mich herantrat und fragte: »Warum sind Sie nicht im Dienst?« Ich habe das nicht ausgehalten. Einmal wurde ich, dies nebenbei gesagt, als deutscher Spion verhaftet. Ich habe es einfach nicht ausgehalten: Ich wollte mittun können, und weil ich's in der Schweiz nicht konnte und man mir sagte, ich könnte es in Frankreich, ging ich dorthin. Es war die eine Seite der Sache und die wirklich entscheidende. Gedanklich würde ich es aber damit rechtfertigen, daß Hitler der böse Mann war, er war eine teuflische Macht. Aber die Macht Hitlers war das deutsche Heer. Man konnte also Hitler nicht beseitigen, ohne das deutsche Heer zu besiegen. Nun zu wünschen, daß die deutsche Wehrmacht besiegt würde, aber zu sagen, persönlich kann ich da nicht mitmachen, weil ich ein geborener Deutscher bin – das hätte ich für falsch gehalten. Also es war eine Kriegslotterei, wenn Sie wollen, aber ich bereue sie nicht.
Gaus: Sie müssen Ihre Haltung nicht rechtfertigen. Sie sind Ende der 50er Jahre, Herr Professor, nach Deutschland zurückgekehrt, zunächst für eine Gastprofessur an der Universität Münster, dann als ordentlicher Professor für Politische Wissenschaft an der Technischen Hochschule in Stuttgart. Diese Professur haben Sie aufgegeben. Sie sind, wie man gelegentlich hört, auf der Suche nach einer kleinen Wohnung in München, aber es ist nicht ganz sicher. Ihr Wohnsitz jedenfalls ist Kilchberg bei Zürich, wo Ihr Vater die letzten Jahre seines Lebens verbrachte. Haben Sie eine Scheu, in Deutschland Wurzeln zu schlagen?
Mann: Nein, das nicht, aber, wenn ich ganz offen sein soll, hätte ich gern einen Fuß in Deutschland und einen Fuß woanders. Wenn man solang in der Welt umhergetrieben wurde, wie unsereiner …
Gaus: Was Sie beklagen?
Mann: Was ich beklage, was mir nicht in der Wiege gesungen war, da ich im Grunde als ein provinzieller Mensch gemeint war. Was mir nun einmal geschehen ist, ob ich es wollte oder nicht, das erbrachte halt eine Scheu, sich völlig an einen Ort zu binden. Also ich möchte schon in Deutschland sein, aber nicht ganz mit Haut und Haaren.
Gaus: Gilt diese Scheu Deutschland allein oder dem Wurzelschlagen im Ganzen?
Mann: Dem Wurzelschlagen im Ganzen. Ich habe zeitweise einen redlichen Versuch gemacht, in Amerika Wurzeln zu schlagen, und ich habe viel Grund, den Amerikanern dankbar zu sein. Aber es ist mir nicht gelungen. Es ist mir nirgends so ganz gelungen. Das würde ich im übrigen teilweise einfach für ein Zeitschicksal halten, es hat mit der radikalen und schnellen Veränderung aller Dinge zu tun. Ich könnte mir denken, daß auch vielen Deutschen, die immer in Deutschland geblieben sind, sehr vieles, was wir heute haben und ja haben wollen und also gar nicht vermeiden können, doch fremd wird. Also, ich komme da auf das berühmte Wort Entfremdung. Ich mag es nicht, aber Sie verstehen, was ich damit andeute, nicht wahr? Es trifft nicht nur auf Emigranten zu, zurückgekehrte Emigranten. Es trifft auf uns alle zu, glaube ich.
Gaus: Wir haben, Herr Professor, davon gesprochen, daß die politischen Sitten in Deutschland vielleicht – bis zu einem gewissen Grade und in manchen Kreisen – wieder verwildert sind. Lassen Sie mich von einer ganz anderen Seite her fragen, als letzte Frage, die Sie mir erlauben: Hat die Bundesrepublik nach Ihrer Auffassung der Dinge politische Gesinnungen entwickelt, die Rückfälle in unglückliche deutsche Verkrampfungen in der Politik verhindern könnten? Und welche Gesinnungen, die das verhindern könnten, wären dies?
Mann: Eine ganze Menge Bindungen – an Westeuropa und Amerika; dann: Weltoffenheit, eine Offenheit gegenüber West- und Südeuropa und Nordeuropa und Amerika. Konkret gesprochen: eine Reiselust aller Menschen nahezu, die eine provinzielle, sich ganz auf sich selbst zurückziehende Verstocktheit, wie sie gerade der frühe Hitlerismus darstellte, mit unmöglich zu machen scheint. Ich meine einen Zustand, bei dem junge Leute schon als Lehrlinge oder als Gymnasiasten eben Frankreich oder Sizilien oder England kennenlernen und da Bekanntschaften und Freundschaften schließen. So scheint mir eine Wiederholung jener bösen Dinge unmöglich. Man soll zwar nie „unmöglich“ sagen, aber erschwert könnte es dem Bösen auf solche Weise schon werden. Das ist sicher ein Bollwerk dagegen, und das Gleiche gilt natürlich für die großen wirtschaftlichen Neuerungen, gilt etwa für die EWG, die doch für den Kaufmann und Industriellen auch eine Gesinnung bedeutet oder früher oder später eine werden muß. Die EWG, das ist ja nicht nur ein toter Apparat, sondern setzt ja Gesinnungen voraus.
Ich würde auch glauben, daß innerhalb Deutschlands eine viel größere Entspanntheit herrscht als zu meiner Jugend, und daß die konkurrierenden Parteien sich doch mit viel größere Fairness behandeln als ebenfalls in meiner Jugend. Was da heute vorgeht, ist alles in allem keineswegs schlimmer als das, was in Amerika vorgeht. Das gehört nun mal zur demokratischen Politik. Die Art, wie heute Gewerkschaftler und Unternehmer oder Menschen von der SPD und der CDU zusammensitzen und einander persönlich schätzen – das ist neu, und das ist eine Leistung der Bundesrepublik, nicht wahr?