Sendung vom 11.06.2003 - 18. September 2011: Kurt Sanderling gestorben
Einen Tag vor seinem 99. Geburtstag ist am Sonntag die Dirigenten-Legende Kurt Sanderling in Berlin gestorben. Das teilte sein Sohn Stefan mit. "Er ist friedlich im Kreise der Familie eingeschlafen", sagte sein Sohn, der ebenfalls Dirigent ist.
Das rbb Fernsehen wiederholt aus diesem Anlass am Montag, 19. September 2011, 00:15 Uhr eine "Zur Person"-Sendung mit ihm aus dem Jahr 2003.
Sanderling galt als einer der letzten großen Dirigenten seiner Generation. Er verfügte über ein reiches Repertoire. Zu DDR-Zeiten war er von 1960 bis 1977 Chefdirigent des jungen Berliner Sinfonie-Orchesters (BSO) in Ost-Berlin.
Er musizierte auch mit großen amerikanischen Orchestern und wurde in Kopenhagen, Zürich, Wien, Paris oder Tel Aviv gefeiert. Schon vor der Maueröffnung schätzten die Berliner Philharmoniker Sanderlings Qualitäten.
1995 ernannte ihn das Londoner Philharmonia Orchestra zum Ehrendirigenten. 2002 stand Sanderling zum letzten Mal am Pult.
Günter Gaus im Gespräch mit Kurt Sanderling
Günter Gaus:
Mein Interviewpartner ist Kurt Sanderling, ein jüdischer Deutscher, der in der Zeit des Nationalsozialismus in die Sowjetunion emigrierte, wo er den Krieg erlebte. Erst 1960 kehrte er nach Deutschland zurück, in die DDR. Eine Weltkarriere begann. Sanderling war zweimal verheiratet, er hatte drei Söhne – alle sind Musiker.
Sehen Sie Zur Person – Kurt Sanderling.
Ein großes Leben liegt hinter Ihnen, Herr Professor Sanderling, schwere Zeiten, aber auch künstlerische Arbeit. Als Emigrant in der Sowjetunion, Triumph als Dirigent in der DDR und in aller Welt – von Tokio über Los Angeles, New York, Boston, Chicago, Cleveland, bis London.
Können Sie im Rückblick in Worte fassen, worin für Sie das Glück im Leben lag?
Kurt Sanderling:
Es fällt mir schwer, präzise darauf zu antworten, denn es gibt doch verschiedene Arten des Glücks. Es gibt persönliches Glück. Es gibt das Glück, aus schwierigen Situationen unbehelligt herausgekommen zu sein. Und es gibt – vor allem auch, möchte ich sagen – das Glück einer Tätigkeit, die einen zufrieden und glücklich macht. Und da habe ich ja nun einen Beruf, der das eigentlich zur Voraussetzung hat. Man kann nicht Künstler sein, ohne eine bestimmte Menge Glück zu haben. Und die habe ich gehabt.
Günter Gaus:
Sie haben einmal gesagt, ihre ganz erstaunliche Karriere, ihre bedeutende Karriere – wir werden auf Einzelheiten kommen in diesem Interview – sei natürlich nicht nur Ihrer Begabung zu verdanken. Ist das, was dazugekommen ist, eben Glück?
Kurt Sanderling:
Ja, natürlich.
Günter Gaus:
Ist vieles dann auch an einer solchen Karriere ein glücklicher Zufall?
Kurt Sanderling:
Ja, zweifellos.
Günter Gaus:
Haben Sie darauf ein bisschen gehofft in Ihrem Leben? Nachdem Sie einige Erfahrungen gemacht haben – es wird schon wieder Glück dazukommen? .. Haben Sie auf Glück vertraut?
Kurt Sanderling:
Vertraut nicht, gehofft ja.
Günter Gaus:
Die Annäherung eines Dirigenten an ein musikalisches Werk: Ist Ihnen mit dem Alter etwas zugewachsen in der Gestaltung von Musik als Dirigent? -
und was ist Ihnen möglicherweise verlorengegangen?
Kurt Sanderling:
Oh. Darauf eine schnelle und präzise Antwort zu finden...
Günter Gaus:
...Wir haben Zeit...
Kurt Sanderling:
...ist schwer. Im Alter gewinnt man natürlich an Erfahrung, an Erfahrung auch im Aneignen eines Kunstwerkes. Ich habe an mir nicht die Erfahrung gemacht, dass das, worüber sich manche beklagen, dass die Unmittelbarkeit des Erlebnisses leidet - dass das bei mir stattgefunden hat. Ich kann noch heute die Partitur einer Beethovensinfonie so durchblättern, als fällt sie mir zum ersten mal im Leben in die Hände.
Günter Gaus:
Das heißt, Sie haben – das kann jetzt der ganz falsche Ausdruck sein – Sie haben eine gewisse Naivität der Frische sich bewahren können?
Kurt Sanderling:
Ja, aber ich hatte damit auch nie Probleme.
Günter Gaus:
Also es ist Ihnen im Alter zugewachsen die Erfahrung. Ist Ihnen Leidenschaft abhanden gekommen beim Musizieren?
Kurt Sanderling:
Ich glaube nicht.
Günter Gaus:
Hat sich Ihr Dirigierstil geändert?
Kurt Sanderling:
Ja sicher. Das ist etwas, wobei sich Erfahrung natürlich besonders bemerkbar und bezahlt macht.
Günter Gaus:
Nach Ihrer Selbsteinschätzung, Herr Sanderling, Worin lag Ihre stärkste Begabung in der Orchesterarbeit?
Kurt Sanderling:
Das kann ich nicht sagen. Das weiß ich wirklich nicht. Ich glaube, an allem hat es mir gefehlt und ich musste mir – nicht ohne Mühe – vieles erobern.
Günter Gaus:
Fleiß!
Kurt Sanderling:
Fleiß am wenigsten.
Günter Gaus:
Das müssen Sie dann erklären! Es hat Ihnen an allem gefehlt, Sie mussten sich vieles erobern... Fleiß lehnen Sie ab. Können Sie das erklären? Es hat Ihnen an allem gefehlt – übertrieben gesagt von Ihnen – aber vieles mussten Sie sich erobern. Was heißt das?
Kurt Sanderling:
Sehen Sie, die Arbeit eines Dirigenten – wahrscheinlich eines jeden Künstlers, aber eines Dirigenten besonders – ist eine Arbeit des Durchdringens des Kunstwerkes und des Übermittelns an das Orchester. Und erst dann kommt das Publikum – wenn ich es dem Orchester vermittelt habe. Und selbstverständlich, solange man wenig Erfahrung hat, wie man es Übermitteln kann, was man selbst schon weiß und erfahren hat – solange muss man halt lernen. Und deshalb fehlt es vielleicht daran – natürlicherweise – bei sehr vielen jungen Dirigenten.
Günter Gaus:
Als Sie 90 Jahre alt wurden 2002, haben Sie in Berlin im Konzerthaus Ihr letztes Konzert dirigiert: Brahms, Mozart, Schumann. Ein triumphaler Abschied. Vermissen Sie gelegentlich das Dirigieren? Träumen Sie manchmal davon?
Kurt Sanderling:
Noch vermisse ich es nicht, aber ich weiß nicht, was morgen sein wird. Ich vermisse es auch deshalb nicht, weil ich mich – nachdem ich mich... zur Ruhe gesetzt, ist ein falsches Wort – nachdem ich mich zurückgezogen habe vom praktischen...
Günter Gaus:
Was immer freiwillig bei Ihnen war...
Kurt Sanderling:
Ja. Vom Musikbetrieb und vom Musikmachen. Ich bin aber noch weiter mit Partituren beschäftigt, die mich interessieren und die ich daraufhin abklopfe, wie ich sie dirigieren würde – wenn ich noch dirigieren würde. Deshalb – mir ist die Beziehung zur Musik nicht abhanden gekommen mit meinem beruflichen Rücktritt. Und aus diesem Grunde vermisse ich Musik auch noch nicht. Aber das kann sich ändern.
Günter Gaus:
Haben Sie Angst davor?
Kurt Sanderling:
Nein, ich hoffe, ich werde auch das bewältigen.
Günter Gaus:
Zur Person : Kurt Sanderling. Geboren am 19. September 1912 in der Kleinstadt Arys, 3000 Einwohner etwa, in Ostpreußen. Sohn eines jüdischen Holzkaufmanns. Die Mutter, ebenfalls eine jüdische Deutsche, stammt aus Berlin. Die Ehe hat nicht gehalten. Das Geld ist knapp. Kurt Sanderling geht nach einer kurzen Internatszeit auf Schulen in Königsberg und von 1926 an, als 14jähriger, nach Berlin - wo er Abitur macht. Er ist auf die Unterstützung seiner Großeltern und Onkel mütterlicherseits angewiesen, ein ärmliches Leben. Manche Fragen ergeben sich daraus, Herr Sanderling. Zunächst diese: Wie bewusst war Ihnen von Hause aus – oder wurde Ihnen von der nichtjüdischen Umwelt bewusst gemacht – ein Jude zu sein?
Kurt Sanderling:
Da stellen Sie mir eine schwere Frage. Aber ich werde versuchen, sie sowohl wahrheitsgemäß, wie möglichst kurz, zu beantworten.
Ich habe in meiner Jugend die Tatsache, dass ich jüdischer Abstammung war, als... immer als lästig empfunden. Ich habe mich immer als Außenseiter gesehen und habe es weitgehend auch, vor allem, wo ich etwas älter wurde, versucht zu verdrängen. Ich wollte mich um jeden Preis als Deutschen sehen und es war mir lästig und irgendwie auch unverständlich, dass ich zum Beispiel von meinen Mitschülern als Jude gehänselt wurde, abseits gestellt wurde. Und nachträglich muss ich gestehen, dass ich versuchte, das zu überkompensieren durch eine Betonung des Intellektuellen. Da konnte ich am ehesten noch eine – nun sagen wir ruhig – eine gewisse Überlegenheit zeigen. Ich war immer ein schlechter Turner und ein Sportsgegner gewesen, obwohl ich als kleiner Junge natürlich auch meinen Fußball gespielt habe. Aber bis in mein hohes Alter hinein habe ich eine gewisse ironische Beziehung zum Sport. Das rührt sicher daher, dass ich verkloppt wurde in der Schule.
Günter Gaus:
Das heißt verkloppt auch aus antisemitischen Gründen, d.h., wegen der Besonderheit.
Kurt Sanderling:
Wegen der Besonderheit. Wobei es meinen Mitschülern wahrscheinlich gar nicht...
Günter Gaus:
...es war wahrscheinlich gar nicht bewusster Antisemitismus, sondern es war...
Kurt Sanderling:
Der Außenseiter.
Günter Gaus:
...der kreatürliche Widerstand gegen einen Außenseiter.
Kurt Sanderling:
Ja.
Günter Gaus:
Waren Sie politisiert genug um zu erkennen, was in Deutschland heranwuchs und 1933 unter Adolf Hitler die Macht ergriff?
Kurt Sanderling:
Nein, das war ich nicht. Das war ich nicht. Ich protestierte zwar gegen die Meinung in der Oper, z.B. des künstlerischen Personals: Wir machen unsere Kunst und da draußen soll geschehen, was geschieht. Das habe ich schon damals als nicht – wie soll ich es sagen – als nicht gehaltvoll dem Leben gegenüber empfunden. Das wurde mir dann gründlich ausgetrieben. Als ich in die Sowjetunion kam, da wurden mir viele Dinge bewusst gemacht.
Günter Gaus:
Ich komme darauf. Aber Sie sind, kann man sagen, beinahe hineingeschlittert in den –Nationalsozialismus?
Kurt Sanderling:
Man kann es so formulieren. Man kann es so formulieren - umso mehr, als ich ja vom Land kam, aus Ostpreußen.
Günter Gaus:
Nun waren Sie seit 1926 in Berlin?
Kurt Sanderling:
Ja, aber ich hatte ja immer noch Kontakte, zumindest zu meinem Vater, der dort wohnte und besuchte ihn zu meinen Ferienzeiten. Und ich hatte auch meine Jugend noch nicht vergessen. Für mich war Arys doch immer ein Angelpunkt in meinem Leben.
Günter Gaus:
Heimat?
Kurt Sanderling:
Heimat, ja, ich würde das Wort ruhig so nennen.
Günter Gaus:
Ein Themenwechsel an der Stelle. Berichten Sie bitte von Ihrem Eintauchen in die Musik als Ihrem Lebenselixier, Herr Sanderling. Wann und wie haben Sie sich sozusagen als Musiker entdeckt? Wie entstand der Wunsch, das Bedürfnis, Dirigent zu sein? Sie waren ausgebildet worden am Klavier und in Musiktheorie. Wann kommt nun – ich weiß nicht, soll ich sagen, das `Damaskus-Erlebnis`? Wann, wann sagt Kurt Sanderling: Das ist es! Das muss ich werden. Sie sind 1931 Korrepetitor an der Berliner, an der Städtischen Oper in Berlin geworden. Wann haben Sie sich als Musiker entdeckt, wann wurde es Ihr Bedürfnis?
Kurt Sanderling:
Das kann ich nicht beantworten. Man hat mir erzählt, dass ich schon mit drei, vier Jahren immer am Klavier saß und klimperte, mir Melodien zusammensuchte, manchmal auch Harmonien fand. Ich kenne mich gar nicht anders, als der Musik verhaftet. ... Arys hatte den zweitgrößten Truppenplatz im damaligen Deutschland und hatte immer Garnisonen dort und die hatten Militärorchester. Einige Male mussten mich meine Eltern zurückholen vom Exerzierplatz der Soldaten, weil ich mit der Kapelle mitgelaufen bin.
Günter Gaus:
Das haben auch Leute getan, die nicht Dirigent wurden.
Kurt Sanderling:
Ja.
Günter Gaus:
Aber Sie reklamieren: Ich bin nicht wegen der bunten Uniformen, ich bin wegen der Musik mitgelaufen.
Kurt Sanderling:
Ganz zweifellos.
Günter Gaus:
Aber – entschuldigen Sie die Hartnäckigkeit – Sie lieben Musik, Sie klimpern am Klavier, Sie laufen mit einer Militärkapelle mit. Sie haben Klavierunterricht, Musiktheorie. Daraus hätte noch ganz viel werden können. Wann kommt der Dirigent als Ziel in dieses Leben hinein? Wann und wodurch?
Kurt Sanderling:
Ich glaube nicht, dass man das mit Datum bestimmen kann. Der Anreiz für einen kleinen Jungen, Dirigent zu werden, ist doch die scheinbare Befehlsgewalt, die der Dirigent dem Orchester gegenüber hat. Und endlich kann der Vater nicht mehr mir befehlen – sondern ich kann dem Orchester befehlen! Und so liegt das sehr nahe, dass man, wenn man genügende Affinität zur Musik überhaupt hat und jeden Tag eine Militärkapelle vor sich sieht, dass einem der Stab schwingende Tambourmajor natürlich imponiert.
Günter Gaus:
Solist mit einem Instrument zu werden, war nicht Ihre Begabung oder kam Ihnen nicht in den Sinn? Oder war das eine Wechselwirkung?
Kurt Sanderling:
Es kam mir in den Sinn. Aber ich glaube, es war die nicht genügende Begabung.
Günter Gaus:
Sie haben gesagt: Dirigent, die scheinbare Macht über das Orchester. Also scheinbar ist Dirigent und Orchester ein andauernder Kompromiss – oder gibt es eben die Macht über das Orchester, die nicht nur scheinbar ist, sondern real? Wie war es bei Ihnen, ein Kompromiss?
Kurt Sanderling:
Kompromiss würde ich nicht sagen. Aber vielleicht hilft es uns, wenn ich den Vergleich Lokomotivführer und Zug benutze. Ich wollte auch eine Zeitlang als kleiner Junge Lokomotivführer werden.
Günter Gaus:
Wer nicht!
Kurt Sanderling:
Eben, wer nicht. Und umso mehr, weil an unserem Anwesen eine Eisenbahn vorbeifuhr und ich jeden Tag kontrollieren konnte, ob die Züge pünktlich gefahren sind.
Günter Gaus:
Damals waren sie wahrscheinlich pünktlicher als heute.
Kurt Sanderling:
Ich weiß nicht, wie es heute ist, damals waren sie pünktlich.
Günter Gaus:
Sir Simon Rattle, selbst ein bedeutender Dirigent, hat Sie, Herr Sanderling, einen der prägenden Meister des 20. Jahrhunderts genannt. Sie haben in Ihren jungen Jahren andere, frühere Große am Dirigentenpult erlebt. Klemperer, Furtwängler, Kleiber, Bruno Walter, Fritz Busch, Leo Blech. Können Sie sagen, wer Sie am stärksten beeindruckt, vielleicht auch beeinflusst hat?
Kurt Sanderling:
Am stärksten – das kann ich zufällig sagen, obwohl ich heute nicht so unbedingt das wiederholen würde. Aber damals hat mich am aller stärksten beeindruckt: Klemperer. Klemperer war eine umwerfende Erscheinung, nicht nur äußerlich. Äußerlich auch mit seiner Riesengröße. Er brauchte kein Podium, wenn er dirigierte. Er war unerbittlich, und vielleicht weil er auch am ehesten dieser Idealvorstellung: der Chef und die Untertanen – entsprach. Aber natürlich, Furtwängler war in anderer Weise genauso.
Günter Gaus:
Ist es möglich, dass Sie mir den Unterschied: Das war Klemperers Meisterschaft und das war Furtwänglers Meisterschaft – den Unterschied erläutern?
Kurt Sanderling:
Ich kann es versuchen. Aber solche Analysen sind immer sehr heikel. Ich würde es so sagen, wenn Ihnen diese Formulierung etwas gibt: Furtwängler am Pult ließ das Werk entstehen. Man hatte das Gefühl, oder zumindest ich hatte das Gefühl, der Komponist komponiert es in dem Moment, wo Furtwängler dirigiert. Und bei Klemperer war das Werk in seiner ganzen Einmaligkeit und Unerbittlichkeit da. Es stand da. Vielleicht manchmal – na, man soll mit Begriffen richtig und falsch möglichst wenig umgehen – vielleicht nicht immer richtig. Aber immer unbedingt so und nicht anders.
Günter Gaus:
Sind Sie eher Klemperer oder eher Furtwängler gewesen?
Kurt Sanderling:
Ich? Leider keiner von beiden.
Günter Gaus:
Der Art nach?
Kurt Sanderling:
Ja wenn ich mich einer Art zuordnen darf und wenn es so etwas wie eine mehr oder weniger objektive Innenschau auch gibt – dann vielleicht eher Klemperer.
Günter Gaus:
Im nationalsozialistischen Deutschland erhalten Sie als Jude 1933 Berufsverbot, Herr Sanderling. Sie schlagen sich durch beim Jüdischen Kulturbund, der noch einige Jahre arbeiten darf. Über einen in Moskau als deutscher Spezialist lebenden Onkel, ein Ingenieur, verschaffen Sie sich ein Einreisevisum für die Sowjetunion. Im Jahr 1935 wird Ihnen die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt, 1936 reisen Sie in die Sowjetunion ein. Lag das nur am Onkel, oder wirkte auch eine gewisse
Sympathie für den sowjetischen Sozialismus mit?
Kurt Sanderling:
Ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, dass eine besondere Sympathie für den sowjetischen Sozialismus mit im Spiel war. Es war vordringlich und hauptsächlich eine Möglichkeit, doch mein Leben weiter zu fristen. Wo hinzu kam selbstverständlich, als jüdischer Intellektueller war ich jemand, dem das Herz links schlug, so dass ich nicht mit Horror dorthin ging, wie viele meiner Zeitgenossen, die aufgesessen waren den Horrormeldungen, die es im damaligen Europa allzu reichlich über die Sowjetunion gab.
Günter Gaus:
Wir kommen darauf noch. In Moskau werden Sie Assistent beim Chefdirigenten des Rundfunkorchesters Sebastian, den Sie aus Berlin kennen. Ihre Dirigentenlaufbahn beginnt, Sie debütieren mit Mozarts „Entführung aus dem Serail“ in Moskau, Dirigentenposten in Charkow und Leningrad folgen. Inzwischen sind Sie sowjetischer Staatsbürger, ein Leben zwischen Musik und den Besonderheiten, auch den Bedrängnissen der Stalinzeit. Wie viel nahmen Sie wahr vom Stalinismus? Von den Schauprozessen? Empfanden Sie Unsicherheit, vielleicht sogar gelegentlich Angst? Und wie war in diese Musik, in diesem Leben zwischen der künstlerischen Arbeit und dem Leben in den 30er Jahren der Sowjetunion – wie war dabei denn die künstlerische Zusammenarbeit, die Kollegialität mit den sowjetischen Künstlern?
Kurt Sanderling:
Das sind viele Fragen auf einmal.
Günter Gaus:
Ja, wir haben Zeit.
Kurt Sanderling:
Fangen wir mit der letzten an. Unkollegialitäten habe ich keine erlebt. Nicht mehr, als es sie überall in der Welt, die ich kannte, auch gegeben hat. Im Gegenteil, vielleicht sogar besonderes Interesse. Denn ich war für viele meiner Kollegen – auch der wohlbestallten Dirigenten übrigens, also nicht nur der Korrepetitoren oder Sänger oder Solisten – ich war doch eine exotische Frucht. Jemand, der den Wind aus dem Westen um sich wehen hatte und auch ließ. Ich spielte darauf auch, ich gebe es zu. Ich verschaffte mir dadurch eine gewisse Autorität und ein gewisses Interesse. ...
Günter Gaus:
Und nun die Stalinzeit.
Kurt Sanderling:
Und nun die Stalinzeit. Auch da muss ich etwas ausholen. Ich kam in die Sowjetunion, nachdem ich mein ganzes bis dahin gelebtes Leben als Jude Außenseiter war. Ich wollte es nicht wahrhaben, aber ich war es und es konnte mir nicht verborgen bleiben. Nicht zuletzt in Deutschland selbst, aber auch außerhalb Deutschlands. Und nun kam ich in die Sowjetunion und in der damaligen Sowjetunion war Antisemitismus als – wie soll ich sagen – als Nationalitätenfeindlichkeit gesetzlich verboten. Und ich spürte plötzlich überhaupt nichts an Antisemitismus. Es gab ihn zumindest in den Kreisen, mit denen ich es zu tun hatte – d.h. also die Intellektuellen, die künstlerischen Kreise – gab es ihn nicht. Ich weiß nicht, wie es auf dem Land war und in kleineren Städten.
Günter Gaus:
Ängste unter Emigranten, die politisch stärker engagiert waren und in die Verfolgung Stalins hineingeraten konnten – wie viel haben Sie davon wahrgenommen? Wie weit war das Teil des Lebens?
Kurt Sanderling:
Zunächst mal habe ich sehr wenig wahrgenommen, weil ich mit den aus politischen Gründen dorthin emigrierten sehr wenig Kontakt hatte. Wir waren mehr oder weniger davon abgegrenzt. Nachträglich glaube ich, annehmen zu können, dass die politischen Emigranten ein bisschen besser eingeweiht waren in die Realität und Angst hatten, Scheu hatten, vor nicht nachprüfbaren Kontakten. Sie suchten also gar nicht den Kontakt mit mir und es ließ sich für mich auch umgekehrt wunderbar leben ohne sie.
Günter Gaus:
Lassen Sie uns versuchen, Ihr damaliges Leben in seiner Spannweite: Hoffnung, Verzweiflung, Rettung in zwei Geschichten zu skizzieren, die ich in Roloff-Momins Buch über Sie gefunden habe. Zwei Geschichten im Zusammenhang mit dem Krieg in der Sowjetunion. Zunächst die Geschichte von der Probe mit dem Leningrader Rundfunkorchester, 22. Juni 1941, Beethovens 8. Sinfonie, 3. Satz. Erzählen Sie bitte!
Kurt Sanderling:
Nun ja, der Krieg, den wir ja alle herankommen spüren konnten – aber es eigentlich verdrängt haben, weil er uns innerlich doch vor schwierige Probleme stellte. Wir wollten ganz eindeutig die Niederlage von Hitlerdeutschland, stand außer frage, eigentlich bei allen, mit denen ich damals zu tun hatte - von den Emigranten, wohlgemerkt. Bei den Russen war es etwas anders. Aber bei den Emigranten, mit denen ich zu tun hatte, war die Niederlage von Deutschland zweifellos erwünscht, erhofft und wir mochten es uns gar nicht anders vorstellen. Auf der anderen Seite, ob wir es wollten oder nicht, es war unsere Heimat. Es war auch das Land von Beethoven und Goethe und ja, selbst von Eichendorff, nicht? Und ich erinnere mich, dass mein guter Freund Gilels, der Pianist, mir mal sagte, er hätte mich mit einem Kollegen kurz nach Beginn des Krieges auf der Straße gesehen und hat zu seinem Kollegen gesagt: Was mag in dessen Brust jetzt vorgehen? Und natürlich, da gingen widersprüchliche Dinge vor.
Günter Gaus:
Und nun die Leningrader Probe am 22. Juni ...
Kurt Sanderling:
Die Leningrader Probe. Der Krieg, als er dann nun ausbrach, überraschte uns. Überraschte ist falsch. Erwischte uns, als ich gerade in Leningrad war und mit dem Leningrader Rundfunkorchester die 8. Sinfonie von Beethoven probierte. Und mitten in der Probe – ich war mitten im 3. Satz – kam die Redakteurin der Sendung herein und sagte: Bitte halten Sie ein, die Probe ist zu Ende, der Krieg hat begonnen. Die Deutschen waren eingefallen und hatten bereits weite Teile des sowjetischen Westens bombardiert. Das war so ungefähr um elf Uhr morgens oder so. Ja, es traf mich natürlich, die Nachricht. Aber ich war eigentlich – wie soll ich es sagen – ich war siegesgewiss. Irgendwann musste dieser Wahnsinn ja gebremst werden.
Günter Gaus:
Und die sagten im Orchester: Wir werden uns wiedersehen...
Kurt Sanderling:
Und ich sagte dem Orchester: Wir müssen jetzt aufhören, aber ich bin sicher, wir werden uns wiedersehen.
Günter Gaus:
Und nun kommt der Schluss.
Kurt Sanderling:
Und als ich 1944 dann zurückkam nach Leningrad, nach der Emigration und Evakuation mit der Leningrader Philharmonie, wurde ich wieder vom Rundfunkorchester eingeladen und ich verabredete, dass wir wieder die 8. Sinfonie ins Programm nehmen. Und nachdem ich das Orchester begrüßt hatte, sagte ich: So, nun bitte den 3. Satz. Da, wo wir 1941 aufhörten. Ich habe das mehr oder weniger als Gag gemeint. Aber kaum hatte ich es ausgesprochen, da war mir der Inhalt dieser Worte bekannt und ich merkte das auch an der Reaktion der Musiker im Orchester, die bis zu Tränen ging, die ich sah. In diesem Satz war die ganze Periode von 41 – 44 drin. Es war die Hälfte des Orchesters drin, die nicht mehr da saß. Und wir waren eigentlich alle einen Moment – nun ich will das vorsichtig formulieren – ergriffen.
Günter Gaus:
Und die zweite Geschichte. Sie hatten seit einiger Zeit, 1941, Veronal gehamstert, um sich gegebenenfalls umbringen zu können, damit Sie nicht lebend den deutschen Truppen in die Hände fallen. Wie war das nun im November 1941? Das ist jetzt die Geschichte, da fängt sie an – in Alma Ata, der Hauptstadt von Kasachstan, wohin Sie mit vielen Menschen aus der europäischen Sowjetunion evakuiert worden waren. Mit den Leningrader Philharmonikern, weil die Kunstausübung ganz bewusst und absichtsvoll weiter betrieben wurde in Sibirien.
Sie sind in Alma Ata, Sie haben Veronal gehamstert und denken, vielleicht ist es jetzt an der Zeit, es zu nehmen.
Kurt Sanderling:
Ja. Nur eines ist nicht ganz korrekt, was Sie gesagt haben. Ich war nicht mit der Leningrader Philharmonie da...
Günter Gaus:
Nein, Sie waren aus Moskau dorthin gekommen...
Kurt Sanderling:
...sondern ich war allein. Ich war allein.
Günter Gaus:
In dem großen Evakuiertentransport.
Kurt Sanderling:
Ja. Und zwar mit dem Transport, mit dem das wissenschaftliche Institut meines Onkels evakuiert wurde. Da kam ich nun nach Alma Ata. Und es war eine vollständig hoffnungslose Situation. Niemand brauchte mich, niemand konnte mir Unterkunft geben. Die Stadt war überflutet von Flüchtlingen. Und nach einigen Tagen des Wild-um-mich- herumschlagens von Institution zu Institution: Könnt ihr mich brauchen, wollt ihr mich haben – und ich die Hoffnungslosigkeit meiner Situation einsah, beschloss ich mit meiner damaligen ersten Frau: Jetzt ist es Zeit, das Veronal, das ich gehortet hatte für einen möglichen solchen Fall, einzunehmen. Und es ging jetzt nur noch darum an diesem Tag, ein stilles Örtchen zu finden, wo wir hätten uns hinlegen können mit der Sicherheit, dass uns niemand zu früh aufweckt. Und wie ich da über die Straße ging, spricht mich ein Musiker aus dem Moskauer Staatsorchester an, den ich kannte und den es auch dorthin verschlagen hatte. Und der sagt mir: Was machen Sie hier, wissen Sie denn nicht, dass der stellvertretende Minister für Kultur Sie überall sucht? Die Leningrader Philharmonie möchte Sie unbedingt haben! Er ist gerade hier, da und da, gehen Sie zu ihm hin. Und natürlich war ich sofort bei ihm, ich bekam Papiere für den Kauf eines Billetts, was damals notwendig war...
Günter Gaus:
...nach Nowosibirsk.
Kurt Sanderling:
... nach Nowosibirsk und kam zur Leningrader Philharmonie. Und das ist einer jener unsäglichen, unbegreiflichen Glücksfälle in meinem Leben, ohne die ich wahrscheinlich heute nicht vor Ihnen sitzen würde.
Günter Gaus:
Im sibirischen Nowosibirsk, wo Sie nun musizieren konnten, lernten Sie den Komponisten Schostakowitsch kennen, dessen Werke Sie später mit größter Meisterschaft einem deutschen Publikum nahegebracht haben. Sie haben einmal gesagt, Herr Sanderling, Ihr Verhältnis zu Schostakowitsch sei das eines Jüngers zu seinem Meister gewesen. Kann man sagen, dass Sie in ihm den Komponisten Ihres Lebens gefunden hatten?
Kurt Sanderling:
Ich glaube, das könnte man sagen. Ich habe es mal anders formuliert: Wenn ich hätte komponieren können damals, dann hätte ich das und so geschrieben, wie er es geschrieben hat. Und wenn man mir nachrühmt besondere Qualitäten meiner Schostakowitsch-Interpretation, so glaube ich, dass sich das dadurch erklären lässt, dass ich nicht nur sein Zeitgenosse, sondern auch sein Platzgenosse war. Ich wusste bei jedem Takt, was er meinte. Denn niemand – ich kenne keinen zweiten Komponisten, auch aus anderen Zeiten und anderen Ländern - der so direkt das wiedergegeben hat, und niedergeschrieben hat, was er erfahren hat.
Günter Gaus:
Sie haben einmal gesagt, in Schostakowitschs Musik werde der Konflikt zwischen Persönlichkeit und Gesellschaft gespiegelt.
Kurt Sanderling:
Ja, ich glaube, dass das richtig ist. Und das war ja auch das tragende Motiv unseres ganzen Lebens dort.
Günter Gaus:
Haben Sie je versucht zu komponieren?
Kurt Sanderling:
Ja, ich habe diese kleine Sünde begangen, aber rechtzeitig genug gemerkt, dass es nicht reicht.
Günter Gaus:
Ist es richtig, dass Schostakowitsch, der seine eigenen großen politischen Schwierigkeiten hatte, sie 1952 bei Stalin vor der Deportation bewahrt hat? Weil inzwischen es eine Art Antisemitismus von Staats wegen gab. Ist das richtig?
Kurt Sanderling:
Ja ich bin dort ganz unsinnigerweise und fast lächerlicherweise hereingeraten in eine Verfolgungskampagne, wo mir gedroht hätte, aus Leningrad wegzumüssen und vielleicht irgendwo in Krasnojarsk oder noch weiter östlicher zweiter Dirigent zu werden.
Günter Gaus:
Und da hat Schostakowitsch eingegriffen...
Kurt Sanderling:
Und da hat Schostakowitsch bei passender Gelegenheit, zusammen mit dem Lieblingsschauspieler von Stalin, eine ‚démarche’ unternommen und auch diesmal wieder mir das Leben gerettet.
Günter Gaus:
Ich zitiere Kurt Sanderling:“Die Kunst hat einen bestimmten Platz in der Gesellschaft und man begeht einen Fehler, wenn man sagt, alles andere außer der Kunst geht mich nichts an.“ Ende des Zitats. Haben Sie einen archimedischen politischen Standpunkt besessen in Ihrem wechselvollen Leben?
Kurt Sanderling:
Nein, ich glaube das nicht sagen zu können, ich glaube das nicht. Es war...
Günter Gaus:
Sie haben einmal gesagt: Mein Herz schlug links.
Kurt Sanderling:
Ja. Ich wollte gerade sagen: Es war nie mehr als „mein Herz schlug links“. Und viele – ich sage ruhig Erkenntnisse – wurden einem in der Sowjetunion eingebläut, über den Primat der Politik über die Kunst.
Günter Gaus:
Das war aber nicht der archimedische politische Standpunkt, den Sie für sich gesucht und besessen hätten.
Kurt Sanderling:
Nein, das war es nicht.
Günter Gaus:
Erst 1960 kehren Sie nach Deutschland zurück, in die DDR. Haben Sie nach Auschwitz gezögert, sich wieder unter die Deutschen zu begeben?
Kurt Sanderling:
Nein, ich habe nicht gezögert. Und ich wäre auch früher gekommen, wenn es sich so ergeben hätte. Aber man ließ mich nicht zurück.
Günter Gaus:
Warum ließ man Sie nicht zurück?
Kurt Sanderling:
Bei einer der Anfragen von der Seite der DDR hat mein Direktor dann in Moskau vor dem Zentralkomitee gesagt: Wir haben nicht dafür den Krieg gewonnen, dass wir die Leute, die wir selbst brauchen, zurückschicken.
Günter Gaus:
Hat Auschwitz Ihre Einstellung zum Judentum, zum Jude-Sein, verändert?
Kurt Sanderling:
Ja.
Günter Gaus:
Mögen Sie das in Worte fassen?
Kurt Sanderling:
Die unglaubliche Grausamkeit einer Gruppe von Menschen gegenüber einer, der ich auch angehörte, ob ich wollte oder nicht – diese unglaubliche Grausamkeit hat mir mehr bewusst gemacht, als es mir bis dato war: dass ich eben auch Jude bin.
Günter Gaus:
In der DDR werden Sie Chefdirigent des Berliner Sinfonieorchesters, des Ostberliner Gegenstücks zu den Westberliner Philharmonikern unter Karajan. Von 1964 – 67 sind Sie auch noch Generalmusikdirektor der Staatskapelle Dresden. Wie frei waren Sie in Ihrer künstlerischen Arbeit in der DDR?
Kurt Sanderling:
Ich muss zunächst mal korrigieren, es war ein geplantes Gegenstück zu den Philharmonikern.
Günter Gaus:
Bei der Vorbereitung auf das Interview habe ich viele Stellen gefunden in Rezensionen, die gesagt haben, dass es sich vielleicht politisch, marktgängig nicht durchsetzen ließ – künstlerisch ist es durchaus ein Gegenstück, ein Gegengewicht gewesen.
Kurt Sanderling:
Ich würde das nur mit Vorsicht bejahen.
Günter Gaus:
Also die künstlerischen Freiheiten in der DDR. Ihre.
Kurt Sanderling:
Ja, ich hatte eigentlich weitgehende Freiheiten. Vor allem, sehen Sie, mir kam das ganze Leben in der DDR – nach der Sowjetunion – viel freier vor, viel... Es ließ sich leichter arbeiten. Und ich habe es mal, glaube ich, so formuliert: In der Sowjetunion war es unmöglich, nicht mit Hurra zu schreien. In der DDR, wenn sie es nicht wollten, konnten sie – ich glaube, Sie sind der Erfinder des Wortes – sie konnten sich in eine Nische begeben und konnten überwintern, konnten weiterleben. Das war in der Sowjetunion nicht möglich. Sie mussten mit den Wölfen heulen.
Günter Gaus:
Erlauben Sie mir eine letzte Frage: Wie ist Ihre gewöhnliche Gemütsverfassung im Alter?
Kurt Sanderling:
Heiter.