Mangelnder Opferschutz in Brandenburg - Was eine vergewaltigte 16-Jährige nach der Tat erlebte

Mi 28.06.23 | 07:53 Uhr | Von Ute Barthel
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Symbolbild:Blonde Frau von hinten bei Nacht mit Licht.(Quelle:picture alliance/CHROMORANGE/Florian Schumacher)
Video: rbb|24 Brandenburg aktuell | 28.06.2023 | Ute Barthel | Bild: picture alliance/CHROMORANGE/Florian Schumacher

Nach einer Vergewaltigung braucht das Opfer Schutz - dafür gibt es gesetzliche Empfehlungen. Die werden in Brandenburg nicht immer angewendet, wie die Mutter einer 16-Jährigen erfahren musste, die nach einer Feier vergewaltigt wurde. Von Ute Barthel

Eine Sommernacht im August 2022 in einem Ort bei Berlin. Anja L.* wacht auf, als ihre 16-jährige Tochter Mia* von einem Fest in Berlin nach Hause kommt. Normalerweise schaut Mia kurz bei den Eltern herein. Aber dieses Mal stürmt das Mädchen sofort in ihr Zimmer. Kurz darauf klopft ihre Schwester ans Schlafzimmer der Eltern. "Sie hat gesagt: Da stimmt was nicht. Mia weint und hat ihr Kleid verkehrt herum an. Da ist was passiert", erinnert sich die Mutter.

Erst will Mia nicht erzählen, was vorgefallen ist. Aber dann bricht es doch aus ihr heraus: Sie sei auf dem Heimweg von einem Mann vergewaltigt worden.

"Ich habe meinen Mann geweckt und sofort die Polizei gerufen. Dabei habe ich immer meine Tochter im Arm gehabt und versucht, sie zu trösten", erzählt die Mutter im Interview mit dem rbb.

Sofortige Spurensicherung im Krankenhaus

Die Polizei ist schnell da. Nach einer ersten Befragung fährt die Familie zur Spurensicherung ins Klinikum Ernst von Bergmann (EVB) nach Potsdam. Die Spuren der Vergewaltigung sollen gesichert werden. Doch in dieser Nacht hat ein männlicher Gynäkologe Dienst. "Ich habe ihm erklärt, dass unsere Tochter noch nie gynäkologisch untersucht wurde und ich jetzt nach einer Vergewaltigung es garantiert nicht zulassen werde, dass sie von einem Mann untersucht wird", sagt Anja L.

Weil die Mutter nicht nachgibt, springt schließlich eine Assistenzärztin ein. Eigentlich soll nur erfahrenes Personal mit Facharztexpertise diese Untersuchung und die Dokumentation vornehmen. Denn das Ergebnis muss letztlich als Beweismittel vor Gericht standhalten.

Chefärztin: Es ist ein absolutes Dilemma

Das Klinikum Ernst von Bergmann ist eines von sechs Krankenhäusern in Brandenburg, die seit 2014 im Rahmen eines Modellprojektes medizinische Soforthilfe und die vertrauliche Spurensicherung nach einer Vergewaltigung anbieten. Außerdem ist das noch im St.-Josef-Krankenhaus in Potsdam, im Carl-Thiem-Klinikum in Cottbus, dem Klinikum Frankfurt (Oder), dem Städtischen Klinikum in Brandenburg an der Havel und den Ruppiner Kliniken in Neuruppin möglich.

Dass aber Tag und Nacht eine weibliche Ärztin mit der notwendigen Expertise Dienst hat, kann niemand garantieren, erklärt die Chefärztin der Frauenklinik am EVB, Dorothea Fischer. "Das würde von unserem Dienstplan her gar nicht gehen. Das würde bedeuten, dass wir deutlich mehr Fachärztinnen oder Oberärztinnen im Team haben müssten, die das dann leisten können."

Für die Spurensicherung sei eine gewisse Erfahrung wichtig. Deshalb würde das Team auch besonders geschult. Wenn unerfahrene Ärztinnen oder Ärzte Spuren übersehen oder nicht dokumentieren, sei das schlecht für das Opfer, sagt die Chefärztin. "Es ist ein absolutes Dilemma. Ich würde mir wünschen, dass wir in Deutschland die Möglichkeit hätten, weiblichen Opfern immer eine Ärztin zur Seite zu stellen, die eine extrem gute Expertise hat." Doch dafür fehlen Geld und Mitarbeiterinnen.

Weißer Ring fordert Verpflichtung zum Opferschutz

In der Strafprozessordnung heißt es in § 81d, dass dem Wunsch, die Untersuchung von einer gleichgeschlechtlichen Person durchführen zu lassen, möglichst entsprochen werden soll. Aber einen Rechtsanspruch darauf gibt es nicht. Die Opferschutzorganisation Weißer Ring fordert deshalb, dass aus der unverbindlichen Regelung eine Verpflichtung wird.

Das Brandenburger Modellprojekt hat also Lücken. Ministeriumssprecher Gabriel Hesse kündigt an, dass das Kliniknetz erweitert werden soll: Auch ambulante Ärztinnen sollen einbezogen werden. Aber das sei erst mittelfristig geplant.

Brandenburg ist nicht das einzige Land, in dem die Regelung aus der Strafprozessordnung nicht verbindlich umgesetzt wird. Bislang, so das Ergebnis einer bundesweiten Umfrage von rbb24 Recherche, ist dieser Standard in keinem Bundesland etabliert.

Als Zeugin vor Gericht: "Das ist noch mal traumatisierend"

Die Spurensicherung bei Mia im Ernst-von-Bergmann-Klinikum dauert eineinhalb Stunden. Inzwischen ist es früh um acht, erzählt Anja L. Ein Polizist fragt, ob sich das Mädchen jetzt noch zur Vernehmung bei der Kripo in der Lage fühle. Die Mutter sagt zu, besteht aber auf einer Vernehmungsbeamtin. Der Polizist reagiert unwirsch: "Er sagte wortwörtlich zu mir: 'Hören Sie mal zu, junge Frau. Das ist ja kein Wunschkonzert. Wir machen das jetzt so, wie ich das sage.'" Anja L. insistiert weiter. Schließlich befragen doch zwei Frauen bei der Kripo Mia im Beisein der Mutter.

Ein halbes Jahr später muss Mia noch einmal vor Gericht aussagen. "Man kann sich ungefähr vorstellen, was das für ein 16-jähriges Mädchen bedeutet", sagt Anja L. "Sie soll Fragen beantworten, die mit einem wahnsinnigen Trauma zu tun haben. Und das, während lauter fremde Leute, im Übrigen vorwiegend Männer, um sie herumsitzen? Das ist noch mal traumatisierend." Um dem Mädchen das zu ersparen, hatte der Anwalt der Familie schon mehrere Monate vor der Gerichtsverhandlung eine richterliche Videovernehmung beantragt. Damit soll vermieden werden, dass insbesondere minderjährige Opfer vor Gericht aussagen müssen. Aber die zuständige Richterin reagiert nicht auf den Antrag.

In Berlin läuft es anders

Auch hier lassen die Formulierungen in der Strafprozessordnung einen Ermessensspielraum. Am Ende entscheiden Richter und Staatsanwälte darüber, ob im Interesse der Opfer gehandelt wird oder nicht. Wie oft eine richterliche Videovernehmung angeordnet wird, kann das Justizministerium in Potsdam nicht sagen - das wird statistisch nicht erfasst.

Nach den Beobachtungen des Berliner Opferbeauftragtem Roland Weber wird "soweit ich es beurteilen kann, im Hinblick auf den Opferschutz diese Möglichkeit der Videovernehmung weitestgehend missachtet". Immer wieder würden sich Frauen, die in Brandenburg Opfer einer Sexualstraftat wurden, hilfesuchend an ihn wenden, sagt Weber.

In Berlin sei die Videovernehmung dagegen inzwischen gängige Praxis, die Erfahrungen damit seien sehr gut, sagt Weber: "Es geschieht nur noch selten, dass wir mit minderjährigen Opfern oder Geschädigten von Sexualstraftaten vor Gericht gehen müssen."

Auch der Verein "Opferhilfe" aus Potsdam hat die Erfahrung gemacht, dass die Videovernehmung an den Amtsgerichten in Brandenburg weniger häufig durchgeführt wird. Oft liege dies auch daran, dass Richter und Staatsanwälte für den Umgang mit Opfern von Sexualstraftaten nicht ausreichend geschult seien, sagt Katharina Göpner vom Bundesverband der Frauenberatungsstellen. Sie fordert, "dass es Schwerpunkt-Staatsanwaltschaften und Gerichte geben sollte, die solche Fälle von Gewalt gegen Frauen schwerpunktmäßig bearbeiten".

Vergewaltiger zu drei Jahren Haft verurteilt

Mias Vergewaltiger wird noch in der Tatnacht gefasst. Ende Januar wird er zu drei Jahren Haft verurteilt. Das Mädchen leidet noch immer unter den psychischen Folgen der Gewalttat. Sie bekommt Antidepressiva und versucht, diese Nacht zu vergessen.

Ihre Mutter hofft, dass sich die Mitarbeiter in den zuständigen Institutionen mehr in die Opfer hineinversetzen und in ihrem Sinne handeln. "Es gab ganz viele Punkte, wo es eine Kann-Situation war, wo man so oder hätte entscheiden können", sagt Anja L. am Ende des Interviews. "Es wurde aber nie im Sinne des Schutzes der Jugendlichen entschieden."

*Namen geändert

Sendung: rbb24 Inforadio, 28.06.2023, 06:00 Uhr

Strafprozessordnung zum Opferschutz

  • Körperliche Untersuchungen

  • Aufzeichnung der Vernehmung

  • Audiovisuelle Vernehmung in der Verhandlung

31 Kommentare

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  1. 31.

    Und sie kümmern sich gefälligt um ihren eigenen Kram! Wie ich mit "anders Denkenden" [sic!] umgehe ist immer noch meine Sache.

    Was sie unter Andersdenkenden verstehen machen sie mit ihren rechten Narrativ von "Klima-Chaoten" sehr deutlich. Rechtsextreme bezeichnen sich gerne verharmlosend als Andersdenkende, schon um der Opferrolle gerecht zu werden.

  2. 30.

    Sehr geehrter Herr Rabe, das ist ja unglaublich, was Sie da herausgearbeitet haben als Experte. Gern rege ich an, dass Sie daraus eine bundesweite Petition gegen diese "Männerwelt" starten.

  3. 29.

    Den Mut der Mutter, sich durchgesetzt zu haben in einer Männerwelt, ist schon bewundernswert. Haben denn all die Beteiligten in diesem Verfahren noch nichts vom Paragrafen 1 im GG gehört: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Zur Würde gehört auch Sensibilität. Hier muss sich in den Köpfen mancher Handelnder so manches noch ändern. Das betrifft auch die Krankenhäuser.

  4. 28.

    Also ich habe an den Sachinformationen der Brandenburgerin nichts auszusetzen; im Gegenteil. Im Übrigen werden Kinder aus Berlin in Brandenburger Kinderheimen genau wie behandelt?

  5. 27.

    Volle Zustimmung. Ließt sich wie ein vorgezogenes Sommerloch dieser Artikel.

  6. 25.

    Sie schreiben: "Zu diesen wahren Problemen gehören auch die Klima-Chaoten. Oder möchten Sie eine unterschiedliche Beurteilung von Straftaten, damit es Ihnen in den Kram passt?" - Aber das ist hoffentlich nicht Ihr Ernst. Sie setzen eine Vergewaltigung mit Klimaprotesten gleich? O_O Was zum ...? Ich möchte gerade sehr unhöflich werden.

  7. 24.

    Das hier dargestellte Thema ist uralter Wein in alten Schläuchen in Brandenburg. Leider auch teilweise grob falsch, unvollständig, falsche Begriffe und arg vermischt usw. Wenig hilfreich, wenn überhaupt. Die Mutter kann von Glück reden, dass sie von der polizeilichen Vernehmung ihrer Tochter nicht ausgeschlossen wurde. Das wäre für die Polizei rechtlich möglich gewesen. Und in NRW hätte diese Mutter sofort eine Vorladung vom Jugendamt bekommen, so die neue Gesetzeslage.

  8. 23.

    "[...] Oder möchten Sie eine unterschiedliche Beurteilung von Straftaten, damit es Ihnen in den Kram passt?"

    Diese von Ihnen gestellte Frage ist das Unhöflichste, was hier bisher geschrieben wurde. Und nur aus Höflichkeit nenne ich Ihre Frage unhöflich, eigentlich ist sie geschmacklos und dem Thema völlig unangemessen.

  9. 21.

    Woher wissen Sie, dass die Justizministerium nicht um "wahre" Probleme kümmert? Zu diesen wahren Problemen gehören auch die Klima-Chaoten. Oder möchten Sie eine unterschiedliche Beurteilung von Straftaten, damit es Ihnen in den Kram passt?

    Im übrigen bleiben Sie doch bitte mal höflich. Sie müssen anders Denkenden nicht das Verständnis absprechen.

  10. 20.

    "[...] Und dann gibt es noch politische (!) Ansichten zu „den Kindheitserfahrungen“ der Täter und deren Verdienstmöglichkeiten."

    Ohne genaue Erläuterung wirkt Ihr Kommentar lediglich wirr und deplatziert...

  11. 19.

    Wissen sie nicht mehr was sie geschrieben haben? Sie haben sich über die "läppische Strafe" und "Täterschutz statt Opferschutz" aufgeregt.

    Den eigentlichen viel größeren Skandal haben sie nicht verstanden.

  12. 18.

    Wie wäre es, wenn Sie meinen Post mal richtig lesen würden? In BB wird vom Land im groß getönt wie hoch die Gleichberechtigung und der Jugendschutz sei. Und was ist hier? Hier ist nichts mit Jugendschutz, da die entsprechenden Paragraphen der StPO, die der Jugendlichen einiges an zusätzlichen Problemen erspart hätte nicht angewendet wurden. Wie gesagt wird hier wohl Täterschutz statt Opferschutz betrieben!

  13. 17.

    "Eine solch läppische Strafe und dann wird in BB groß gebrüllt wie hoch in BB die Gleichberechtigung und der Jugendschutz wäre! Das was hier berichtet wird zeigt, dass immer noch das Täterschutz statt dem Opferschutzprinzip gilt und die Beteiligten auf staatlicher Seite die Gesetze ignorieren. "

    Sie haben offensichtlich den Artikel nicht verstanden. Die kann bei einer Vergewaltigung, hier auch noch fast ein Kind, nie angemessen ausfallen.

    Hier ist es die Justiz in Brandenburg, die völlig versagt hat. Aber was erwarten sie auch von einer Justizministerin die lieber friedliche Demonstranten kriminalisieren will, anstatt sich im wahre Probleme zu kümmern?

  14. 16.

    Gewalttätige Menschen haben es bie uns immer noch viel zu leicht. Unsere Gesellschaft verroht tatsächlich stärker. Es gibt wenige Menschen, die Schutz bieten, sich positiv einmischen. Und Brandenburg ist da wirklich rückständig.

  15. 15.

    Das ist wirklich eine große Sauerei.
    Als ob das Mädchen und die Eltern nicht schon genug durchmachen müssen.
    Es scheint immer noch so als würde sich mehr um den Täter bemüht, als um das Opfer.

  16. 14.

    Unfassbar daß man dann nicht einen Notfall Plan hat um eine Ärztin nachts zu wecken und Sie mit Taxi dahin zu fahren und nach Feststellung dann Retour.
    Da muss echt was passieren, das arme Mädchen.

  17. 13.

    Erst Täterschutz, dann Datenschutz. Auch Angaben zu den Tätern müssen verschwiegen werden. Gibt es einen angemessenen Opferschutz überhaupt???

  18. 12.

    traumasensible Vernehmung von Betroffenen hat NICHTS mit einem Wunschkonzert zu tun!! Wann wird das seitens der Polizei, der Richter (und auch der untersuchenden Ärzte) endlich begriffen??!!

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