Gesundheitsökonom Prof. Dr. Stefan Greß (Quelle: rbb)
Prof. Dr. Stefan Greß Gesundheitsökonom Hochschule Fulda | Bild: rbb

Experteninterview - Eine Kampagne mit Halbwahrheiten, Mythen und viel Ideologie

Der Gesundheitsökonom Prof. Dr. Stefan Greß, Hochschule Fulda, hat für "Kontraste" die Behauptungen aus der aktuellen Lobbykampagne der privaten Krankenversicherer analysiert. Er kommt zu einem drastischen Urteil: Hier wird mit Halbwahrheiten und Mythen Stimmung gegen die Bürgerversicherung gemacht.

"Vorsicht, Einheitskasse!"
Das ist ja keine Einheitskasse über die wir da reden. Das ist ein häufig zitiertes Missverständnis. Wir haben ein einheitliches Versicherungssystem mit einheitlichen Wettbewerbsbedingungen mit ganz vielen unterschiedlichen Krankenkassen. So wie wir auch heute in der gesetzlichen Krankenversicherung ganz viel Wettbewerb haben und unterschiedliche Krankenkassen. Das wäre ein deutlicher Fortschritt zum jetzigen System. Weil in der privaten Krankenversicherung haben wir im Moment überhaupt keinen Wettbewerb. Insofern wär das keine Einheitskasse sondern gerade für die jetzt Privatversicherten gäbe es viel mehr Wahlmöglichkeiten und viel mehr Wettbewerb.

"Experiment Bürgerversicherung: Es würde nur Verlierer geben."
In einer Bürgerversicherung hätten wir eine einheitliche Vergütung für alle Versicherten und damit würden dann auch die Anreize für die Ärzte wegfallen, die einen besser und die anderen schlechter zu behandeln. Ein zweiter Vorteil, dass die verzerrten Anreize bei der Niederlassung entfallen würden. Das heißt die Ärzte würden sich nicht da niederlassen, wo es die meisten Privatversicherten gibt, sondern da, wo sie am meisten gebraucht werden. Und ein dritter Vorteil wäre, dass wir eine große Solidargemeinschaft hätten, dass eben nicht besonders gut verdienende Menschen und Gesunde sich aus dieser Solidargemeinschaft verabschieden können in die private Krankenversicherung.

Was in dieser Kampagne nicht thematisiert wird, ist die Situation der Privatversicherten, die in den letzten Jahren immer wieder vor enormen Prämiensteigerungen standen, ihre Verträge kündigen müssen, und dann in sogenannte Notlagentarife wechseln müssen. Höhere Selbstbeteiligungen in Kauf nehmen müssen, damit sie sich ihre private Krankenversicherung überhaupt noch leisten können. Davon redet die Private Krankenversicherung natürlich nicht.

"Tausende Praxen müssten schließen."

Das Argument, das Tausende von Praxen schließen müssen, ist in erster Linie ein politisches, ein ideologisches Argument. Es wäre ehrlicher, wenn die Ärzte sagen würden, dass sie Einkommenseinbußen befürchten. Das kann ich nachvollziehen, aber alles andere ist Ideologie.

"Einheitskasse bremst den medizinischen Fortschritt."

Der Leistungskatalog in der gesetzlichen Krankenversicherung wird völlig unabhängig von der privaten Krankenversicherung bestimmt. In der gesetzlichen Krankenversicherung wird geguckt: was gibt es an Innovationen, die zugelassen sind, auf dem Markt. Und im zweiten Schritt muss dann geprüft werden, ob diese zugelassenen Innovationen auch für die gesetzlich Versicherten finanziert und erstattet werden. Und das passiert eben nur, wenn ein Zusatznutzen nachgewiesen ist. Das kann etwas länger dauern als in der privaten Krankenversicherung, dafür ist dann aber auch weitgehend sichergestellt, dass nur das finanziert wird, was auch einen Zusatznutzen hat. Und alle anderen Scheininnovationen, die es auf dem Markt gibt, die aber für die gesetzlich Versicherten nicht sinnvoll sind, die werden eben nicht finanziert, das ist der entscheidende Unterschied zur Privaten Krankenversicherung.

"Die Bürgerversicherung ist der Turbolader einer echten Zwei-Klassen-Medizin…"

Das ist schlichtweg quatsch. Turbolader für die Zwei-Klassen-Medizin, das halte ich für nicht begründete und nicht begründbare Behauptung, weil gerade die Anreize für eine bevorzugte Behandlung von Privatpatienten würden ja in einer Bürgerversicherung wegfallen. Die hätten wir nicht mehr so, wie wir heute die unterschiedlichen Vergütungssysteme in den beiden Versicherungen haben. Das würde in der Bürgerversicherung entfallen. Was wir weiterhin hätten, wären Zusatzversicherungen für Chefarztbehandlungen, für Zweibettzimmer und ähnliches andere mehr. Das wäre aber dann kein Unterschied im Vergleich zu heute und würde auch keinen verbesserten Zugang zur Versorgung garantieren.

"Alle Länder mit Einheitskasse leiden unter Zwei-Klassen-Medizin."

England taugt gar nicht als Beispiel, England hat ein steuerfinanziertes Gesundheitssystem und das wäre eine Bürgerversicherung ja nicht. Bürgerversicherung würde bedeuten, dass weiterhin der Großteil der Ausgaben aus Versicherungsbeiträgen finanziert wird. In England ist das anders, da besteht eine große Abhängigkeit vom Staatshaushalt. Das heißt,, wenn grad wenig Geld in der Staatskasse ist, steht auch wenig Geld für die Gesundheitsversorgung zur Verfügung. Also insofern ist das ein ganz schlechtes vergleichendes Beispiel.

Beispiel: "Niederlande"

Als abschreckendes Beispiel taugen die Niederlande nicht, weil wenn wir uns da viele Bereiche angucken – Qualität der Versorgung, Zugänglichkeit der Versorgung, auch Wartezeiten – wenn man das alles zusammennimmt, da gibt es eben viele Bereiche, in denen die Niederlanden deutlich besser abschneiden als Deutschland. Und es wird in den Niederlanden auch noch weniger Geld pro Kopf der Bevölkerung für Gesundheit ausgegeben. Das heißt die Niederländer haben bessere Ergebnisse für weniger Geld als in Deutschland. Insofern ist das kein abschreckendes Beispiel aus meiner Sicht.

Kontraste: "Warum wird es trotzdem verwendet?"

Das ist häufig so bei internationalen Vergleichen. Gerade Interessengruppen legen sich die Erkenntnisse aus internationalen Vergleichen so zurecht, dass es ihren eigenen Argumenten entspricht. Ob das dann faktisch zutreffend ist, das ist dann egal.

Fazit

Das ist insgesamt eine Kampagne mit Halbwahrheiten, teilweise unbewiesenen Behauptungen. Da steckt viel Ideologie dahinter und ist sicherlich motiviert vor dem Hintergrund und der Befürchtung, dass ihre Existenz gefährdet ist. Das sollte man dann aber auch so sagen und nicht Halbwahrheiten, Mythen und Ideologie vorschieben und dafür auch noch das Geld der Versicherten auszugeben.