-
Wenn mitten in Deutschland ein Kind an Misshandlung oder Vernachlässigung stirbt, ist die Empörung jedes Mal groß. Geht es aber ans konkrete Handeln, versagt die Politik. Trotz Ankündigung im schwarz-roten Koalitionsvertrag gibt es nach wie vor kein bundeseinheitliches Kinderschutzgesetz.
Wenn mitten in Deutschland ein Kind an Misshandlung oder Vernachlässigung stirbt, so wie der kleine Kevin aus Bremen, ist die Aufregung jedes Mal groß. Zu Recht. Geht es aber ans konkrete Handeln, versagt die Politik. Bis heute gibt es in Deutschland- das wissen die wenigsten – kein bundeseinheitliches Kinderschutzgesetz! Gesetze zum Schutz der Grünanlagen, der Kulturpflanzen und der Tiere, die haben wir – aber unsere Kinder, die werden vom Gesetzgeber sträflich vernachlässigt. Susanne Katharina Opalka und Ursel Sieber zeigen, warum wir dringend ein Gesetz brauchen, das allen Kindern die Chance gibt, ihre Persönlichkeit zu entfalten.
Pamela Lanzke mit ihrem Sohn Korvin. Sie erzieht ihr Kind allein. An einem Tag vor einem Jahr wusste sie einfach nicht mehr weiter.
Es ist ein ganz normaler Samstagvormittag in dieser Wohnsiedlung in Eberswalde bei Berlin, als Pamela Lanzke verzweifelt. Sie rennt mit ihrem Sohn aus dem Haus. Corvin ist 8 Monate alt, schreit viel, ist unruhig, schläft schlecht. Sie versteht nicht, warum. Pamela Lanzke ist am Ende ihrer Kräfte. Sie läuft zu diesem Haus, klingelt, bei einer Frau, der sie vertraut.
Gudrun Heideck, Netzwerk „Gesunde Kinder“
„Plötzlich seh’ ich die junge Mutti durch den Garten gestürmt kommen und sagt, sie kann nicht mehr, steht völlig neben sich, drückt mir den Kleinen in die Hand und war verschwunden.“
Pamela Lanzke geht in den Wald, schluckt Tabletten. Ein Selbstmordversuch. Sie wird gerettet.
Dass sie heute wieder harmonisch mit ihrem Kind zusammenlebt, verdankt sie dieser Frau: Gudrun Heideck, sie betreut die junge Mutter seit ihrer Schwangerschaft. Ohne sie hätte die Alleinerziehende für sich und ihr Kind keinen Ausweg gewusst.
Pamela Lanzke
„Also, ich denk mal, dann würden wir heute nicht mehr sein, weil in dem Moment hätt’ ich dann nicht mehr realisieren können, was ich überhaupt mache.“
KONTRASTE
„Was heißt denn das?“
Pamela Lanzke
„Also, der Kleine und ich. Dann hätte ich uns beiden bestimmt das Leben genommen.“
Den Alltag bewältigen - gemeinsam mit Gudrun Heideck: Sie arbeitet ehrenamtlich, als Patin, für ein Modellprojekt: das Netzwerk „Gesunde Kinder“. Es bietet umfassende Hilfen schon vor der Geburt des Kindes an, wenn nötig, rund um die Uhr. Gudrun Heideck betreut 14 junge Familien.
Gudrun Heideck, Netzwerk „Gesunde Kinder“
„Ja, ich berate sie in medizinischen Fragen, Kinderpflege, oder wie es ums Impfen steht, gucke, ob sie zu den Untersuchungen waren, wie die Entwicklung der Kinder ist, manchmal aber auch über ganz normale Sachen, manchmal wollen sie sich nur über ein Backrezept austauschen.“
In der Geburtsklinik beginnt das Netzwerk mit seiner Arbeit, finanziert als Modellprojekt vom Krankenhaus, der Stadt und dem Land. Eine Mitarbeiterin bietet den Müttern gleich nach der Geburt die Zusammenarbeit mit einer Patin an –die Patin begleitet die Familie dann die ersten drei Lebensjahre. Initiiert hat das Projekt die Chefärztin der Kinderklinik, Dr. Steffi Miroslau. Sie will Fehlentwicklungen in der Familie früh erkennen, helfen, bevor Kinder auffällig werden.
Dr. Steffi Miroslau, Chefärztin,Klinikum Barnim
„Bisher lassen wir häufig Kinder in den Brunnen fallen, obwohl wir wissen, dass wir sie da nicht wieder herausbekommen und richten unseren Fokus auch auf Reparaturmechanismen, die sicher notwendig sind, aber die Prävention ist das eigentliche Anliegen.“
Vorbeugen, Eltern früh unterstützen - das ist Aufgabe der Prävention.
Doch heute funktioniert das Kinder- und Jugendhilfesystem in der Bundesrepublik in der Regel anders: Ämter greifen erst ein, wenn schon etwas passiert ist. Manchmal ist es dann zu spät.
Erinnert sei an Lea Sophie, 5Jahre alt, vernachlässigt, verhungert, verdurstet. Kevin, 2 Jahre alt, misshandelt, tot abgelegt im Kühlschrank.
Jacqueline, 14 Monate, verhungert.
Es sind diese spektakulären Kinderschicksale, die die Politik wachrütteln.
Kinderschutz wird Chefsache: Zweimal lädt die Bundeskanzlerin zu einem Kinderschutzgipfel mit allen Ministerpräsidenten. Und die zuständige CDU-Familienministerin? Vier Jahre ist Ursula von der Leyen in der Regierung. Doch sie hat kein Gesetz durchgesetzt, das den vorbeugenden Kinderschutz bundeseinheitlich vorschreibt. Es reichte nur für diese Internetplattform mit dem Namen „Nationales Zentrum frühe Hilfen“. Hört sich nach viel an, ist aber nur ein Informationsangebot über die wenigen, bereits bestehenden Modellprojekte,
Für Fachleute wie Prof Jörg Fegert, Kinder- und Jugendpsychiater an der Universitätsklinik Ulm ein eklatanter Mangel, denn solche Netzwerke für frühe Hilfen könnten vieles verhindern.
Prof. Jörg M. Fegert, Universitätsklinik Ulm
„Bis zu 20% der Kinder in Deutschland haben psychische Probleme, bei ungefähr 10% sind sie behandlungsbedürftig. Also haben wir dringend die Notwendigkeit, früh Eltern-Kind-Beziehungen zu unterstützen, um zu verhindern, dass immer mehr Kinder später sehr teure Hilfen brauchen.“
Mit einfachen Ratschlägen, wie vorlesen, mit dem Kind sprechen, damit stärkt die Patin Gudrun Heideck die Mutter-Kind-Beziehung, fördert zugleich die Sprachentwicklung des Jungen. Zu einem Buch zu greifen, war für diese Mutter nicht selbstverständlich.
Mutter
„Eine Ente. Und was ist das?“
Kind
„Ball.“
Mutter
„Ball.“
Frühe Hilfen kosten Geld. Bisher sind sie freiwillige Leistungen der Kommunen. Deshalb verlangen Fachleute ein Bundesgesetz, das Länder und Kommunen verpflichtet, solche Netzwerke mit frühen Hilfen aufzubauen
Prof. Jörg M. Fegert, Universitätsklinik Ulm
„Die Bürger und Bürgerinnen können nicht sicher sein, dass sie in ihren Kommunen diese Hilfe bekommen. Oft wissen sie auch nicht, wo sie sie bekommen. Die Ärzte wissen nicht, wen man wo hinschicken kann. Und ich denke, ein Bundesgesetz müsste einen Rahmen für solche Hilfeformen bieten, so dass man sicher sein kann, dass man überall in der Republik auch einen Zugriff auf diese Hilfen hat.“
Von der Bundesfamilienministerin hätte KONTRASTE gern gewusst, warum sie ein solches Kinderschutz-Gesetz nicht vorgelegt hat – doch für ein Interview mit KONTRASTE hat sie trotz vieler Anfragen dann doch keine Zeit. Schriftlich lässt sie uns wissen, im übervollen Terminkalender sei kein Platz. Und sie räumt gleichzeitig beim vorbeugenden Kinderschutz ein, dass ein solches Gesetz politisch nicht möglich gewesen sei.
Ursula von der Leyen scheiterte am konservativen Familienbild der Union. Familien stärken bedeutet für die CDU/CSU: Bargeld direkt an die Eltern statt in die Krippe, mehr Kindergeld: höhere Steuerfreibeträge für Gutverdienende.
Die Union ist nicht bereit, finanzielle Leistungen an die Eltern umzulenken in die öffentliche Förderung von Netzwerken zur Prävention, Das wäre ein Systemwechsel – dagegen wehrt sich der familienpolitische Sprecher der CDU-CSU-Fraktion in Bundestag:
KONTRASTE
„Diesen Systemwechsel, den hat die CDU ja offenbar nicht gewollt?“
Johannes Singhammer, Familienpolitischer Sprecher CDU/CSU-Bundestagsfraktion
„Das hielte ich auch für falsch. Jetzt Eltern, das muss man sich mal vorstellen, Kindergeld zu kürzen oder nicht mehr zu erhöhen, um es anderen Eltern zu geben, die möglicherweise mit der Kindererziehung überfordert sind, in Institutionen zu geben. Ich glaube, dass …“
KONTRASTE
„Nein, nicht anderen Eltern, sondern in die Prävention, in den vorbeugenden Kinderschutz zu investieren …“
Johannes Singhammer, Familienpolitischer Sprecher CDU/CSU-Bundestagsfraktion
„Ja, ich glaube, das ist kein Weg, den man beschreiten kann. Wir wollen die Eltern stark machen.“
Georg Ehrmann, Vorstand der Deutschen Kinderhilfe, hat unentwegt versucht, die Politik für einen Kurswechsel im Kinderschutz zu gewinnen. Funktioniert hat es nicht:
Georg Ehrmann, Vorsitzender „Deutsche Kinderhilfe“
„Der Tabubruch für Frau von der Leyen und für die CDU bestünde darin, weg vom bisherigen System zu gehen, was das Postulat hat: Bargeld hilft den Familien. Das Geld muss eingesetzt werden für Netzwerke, das wäre ein Wechsel hin zu einem präventiven, zu einem vorbeugenden System. Da fehlte der Mut.“
Fernab der großen Politik .kann Pamela Lanzke ihren Sohn umarmen – dank früher Hilfen durch ein Netzwerk. Diese Lebenschance wünscht sie sich für alle Kinder in Deutschland.
Beitrag von Susanne Opalka und Ursel Sieber