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Nach dem Haasenburg-Skandal in Brandenburg wird wieder über geschlossene Heime für Kinder und Jugendliche diskutiert. Einst als angeblich „schwarze Pädagogik" abgeschafft, steigt die Zahl der geschlossenen Heimplätze inzwischen wieder langsam an.
Was tun, wenn Kinder notorisch die Schule schwänzen, sich Alkohol und Drogen zuwenden oder kriminell werden - und wenn die Jugendhilfe nichts mehr bringt? Sind geschlossene Heime dann der letzte Ausweg? Nein, sagen Kritiker, und begründen das mit einem aktuellen Fall aus Brandenburg. Dort hatten Jugendliche von schlimmen Zuständen und Misshandlungen in einem Heim berichtet. Kaum jemand weiß allerdings, wie es in diesen Einrichtungen tatsächlich zugeht. Meinen Kollegen Lisa Wandt und Markus Pohl ist es gelungen, in zwei anderen Heimen Filmaufnahmen zu machen. Dabei haben sie so manches Vorurteil aufgeben müssen.
Die Lage in der Nähe von Karlsruhe ist idyllisch, die Unterbringung nicht. Hohe Metallzäune, Gitter, Überwachungskameras - wer im geschlossenen Bereich der Jugendhilfe-Einrichtung in Stutensee landet, kommt so schnell nicht wieder heraus. Der 13-jährige Sascha ist hier seit einem Dreivierteljahr eingeschlossen. Schon mit Zwölf ging er kaum mehr zur Schule, statt dessen beging er schwere Straftaten.
Sascha
„Ich bin zum Beispiel in ein Autohaus eingebrochen, hab ein paar Autos gefahren. Und alles mögliche, Einbruch, Zigarettenklau oder so was halt. Mir war alles egal, ich hab gemacht, was ich wollte, als ob´s keine Regeln geben würde."
Jetzt lebt Sascha unter einem strengen Regiment. Jeden Morgen müssen die Jungen in Stutensee ihr Zimmer auf Vordermann bringen. Erzieher Matthias Biesinger kommt mit einer Checkliste zur Kontrolle. Aufstehzeit, Hygiene, Ordnung - alles wird akribisch notiert.
Matthias Biesinger
Erzieher Schloss Stutense
„Ich sag oft, unsere Jugendlichen können vielleicht besser putzen wie manch einer in einer normalen Familie, aber ich denk es wird nicht ihr Schaden sein. Und sie müssen einfach die Struktur lernen, das gehört einfach zu unserer Tagesstruktur dazu, dass die Zimmer sauber sind."
Zwang und Drill - für Professor Friedhelm Peters hat das nichts mit Erziehung zu tun. Der Erfurter Sozialwissenschaftler, der die Partei „Die Linke" berät, lehnt geschlossene Heime als unmenschlich grundsätzlich ab.
Prof. Friedhelm Peters
Erziehungswissenschaftler Fachhochschule Erfurt
„Selbst wenn man davon ausginge, dass Kinder und Jugendliche auch durch Prügel irgendwas lernen, ist das kein Argument für die Prügelstrafe. Und genau so, denke ich, kann man auch mit dieser geschlossenen Unterbringung also umgehen. Es gilt, die anderen Hilfsmöglichkeiten so zu qualifizieren, dass sie auch schwierige oder belastete Kinder und Jugendliche aushalten können."
Doch bei Sascha versagten die Angebote der offenen Jugendhilfe. Aus einem betreuten Wohnprojekt lief er einfach wieder davon.
Sascha
„In der Wohngruppe hat man zu viele Freiheiten, man baut halt Scheiße. Man denkt, ja die können mir eh nichts, ich bin schon im Heim, da scheiß ich mal auf die Regeln. Dann kommt man hierher, sieht: Scheiße, ein Zaun mit abgeschlossener Tür, Sicherheitsgläser. - Wo wärst du denn jetzt, wenn du nicht hierher gekommen wärst? - Wahrscheinlich wäre ich jetzt draußen irgendwo auf der Straße mit irgendwelchen falschen Leuten und hätte Scheiße gebaut."
Jede Woche wird das Benehmen der Kinder bewertet. Je mehr Punkte sie sammeln, desto größer ihre Freiheiten. Für Wohlverhalten gibt es Ausgänge in den Hof, ins nächste Dorf oder zu den Eltern. Weil Sascha sich zuletzt gut benommen hat, darf er heute für zwei Stunden raus. Ein verfehltes pädagogisches Konzept, so Kritiker Peters.
Prof. Friedhelm Peters
Erziehungswissenschaftler Fachhochschule Erfurt
„In so einer geschlossenen Einrichtung lernt man, in so einer geschlossenen Einrichtung zurechtzukommen, man lernt sich also sozusagen mit diesen Stufenplänen zu arrangieren, man lernt also dort seine Vorteile zu suchen, man lernt also eine oberflächliche Anpassung. Aber man lernt nicht, reflektiert sozusagen mit normativen Vorgaben umzugehen."
Doch vielleicht müssen manche Jugendliche Regeln erst einmal kennen lernen, ehe sie diese in Frage stellen können. Vielleicht sind manche Heranwachsende mit zu viel Freiheit auch überfordert. Bianca ist seit fast einem Jahr im Mädchenheim Gauting bei München eingesperrt. Vor allem die Anfangszeit war für die 15-jährige extrem hart.
Bianca
„Es fühlt sich so an, als wärst du hinter riesigen Mauern einfach und du weißt ganz genau, du kannst nicht über die Mauer drüber klettern. Und auch wenn du es noch so sehr willst, es geht einfach nicht. Und da fühlt man sich so leer und so allein gelassen, weil: man kennt hier ja noch niemanden. Keine Ahnung, und dann weint man halt den ganzen Tag und man weiß einfach nicht, was die Eltern jetzt von einem denken und ob die einen überhaupt noch wollen und so."
Friederike Ibels ruft zum Frühstück. Die Sozialpädagogin betreut heute Biancas Wohngruppe. Zu siebt leben die Mädchen in Gauting in einer Art WG. Neben dem Schulbesuch gehören gemeinsame Mahlzeiten zum Pflichtprogramm. Den Mädchen, die gewohnt waren, in den Tag hinein zu leben, sollen sie Struktur und Halt geben.
Friederike Ibels
Sozialpädagogin Mädchenheim Gauting
„Einige Mädchen haben Erfahrungen mit Drogen gemacht, waren viel unterwegs, sind nicht nach hause gekommen, waren oft abgängig, und sind dann auch von anderen Jugendhilfemaßnahmen, zum Beispiel von offenen Einrichtungen oder von der Familienhilfe, einfach nicht erreicht worden. Also das sind dann auch Mädchen, die sich allem entzogen haben."
So wie Bianca. Nach der Scheidung ihrer Eltern verlor sie den Boden unter den Füßen.
Bianca
„Ich hab immer getrunken, Alkohol und Drogen halt genommen, und dann hab ich mich immer gestritten mit meinen Eltern, und irgendwann wurd's denen halt zu viel, und dann haben die das Jugendamt eingeschaltet und so."
Doch Bianca lief immer wieder davon, ignorierte die Angebote der Jugendhilfe und fing an, sich selbst zu verletzen.
KONTRASTE
„Tust du dir auch selber weh manchmal?“
Bianca
„Ja, habe ich mal gemacht.“
KONTRASTE
„Ja? Und was machst du dann?“
Bianca
„Ich ritz mich.“
KONTRASTE
„Und warum machst du so was?“
Bianca
„Keine Ahnung, weil’s mir nicht gut gegangen ist in den Momenten.“
KONTRASTE
„Und damit ging’s dir dann gut?“
Bianca
„Ja, für einen Moment schon."
Erst wenn ein Familienrichter es genehmigt, dürfen Minderjährige wie Bianca auf Antrag der Sorgeberechtigten in ein geschlossenes Heim eingewiesen werden. Voraussetzung ist, dass sie sich selbst oder andere erheblich gefährden.
Die stellvertretende Heimleiterin Sabine Bauer ist überzeugt: bei besonders labilen Mädchen kann der Freiheitsentzug eine Stütze sein.
Sabine Bauer
stellv. Leiterin Mädchenheim Gauting
„Einem 3-, 4-jährigen sagt man ganz klar nein und setzt eine Grenze. Bei Jugendlichen in der Form eigentlich nicht mehr, aber was mache ich mit einem Jugendlichen, der diese Grenze braucht? Wie gebe ich ihm die? Der braucht keine Freiheit, die hatte der die ganze Zeit in der einen oder anderen Form. Der braucht Halt, der braucht Orientierung, der braucht Sicherheit!"
Doch die Vorbehalte gegen die geschlossene Unterbringung bleiben groß. Bundesweit gibt es an den verschiedenen Standorten nur 366 Plätze. Vor allem im Osten und Norden bieten zahlreiche Länder keinen einzigen Platz an. Die Folge: aus ganz Deutschland fragen Jugendämter in Gauting an, weit mehr als die Einrichtung bewältigen kann.
Sabine Bauer
stellv. Leiterin Mädchenheim Gauting
„Manchmal habe ich für einen Platz 10-15 Mädchen, die den gerne hätten, weil in dem Moment vielleicht nur der eine Platz frei ist und dann muss ich von 15 Mädchen 14 Mädchen sagen, tut mir leid, ich habe kein Platz, was für Mädchen, die weglaufen, im schlimmsten Fall einfach bedeutet, die landen auf der Straße, die bleiben auf der Straße, da gibt's nichts!“
Auch am Deutschen Jugendinstitut in München wehrt man sich gegen eine pauschale Verurteilung der geschlossenen Unterbringung. Sabrina Hoops hat für eine Langzeitstudie ehemalige Heimkinder interviewt. Nicht immer war die Maßnahme erfolgreich, der Großteil der Abgänger aber blickt positiv zurück.
Sabrina Hoops
Sozialforscherin
"Letztlich haben wir schon deutliche Stimmen gehört im Sinne von, ja das war wirklich hart, da in der geschlossenen, das wünsch ich niemandem, aber geholfen hat’s mir schon. Ich hab gelernt, dass ich tatsächlich wieder zur Schule gehen kann, ich habe gelernt, dass ich nicht dauernd Stress haben muss mit Erwachsenen, und das will ich mir auch weiterhin in meinem Leben nicht kaputt machen."
Bianca scheint sich in Gauting zumindest stabilisiert zu haben. Vor einigen Wochen hat sie im Heim den qualifizierten Hauptschulabschluss geschafft.
In bestimmten Fällen können geschlossene Heime offenbar auch eine Chance sein ...
Beitrag von Lisa Wandt und Markus Pohl