Einfach ungerecht -
Als Kind Vater oder Mutter zu verlieren, ist hart. Um wenigstens den materiellen Verlust auszugleichen, bekommen die gut 300.000 Waisen- und Halbwaisen eine Rente. Doch mit dem Rentenbescheid kommt die Ernüchterung: Die Kinder müssen jetzt in der Regel ihre Krankenversicherungsbeiträge selbst aufbringen, weil die Halbwaisenrenten als eigenes Einkommen behandelt werden.
Anmoderation: Wenn man sieht, was diese Kinder durchmachen müssen, erscheinen die Probleme, mit denen wir hier zu kämpfen haben, vielleicht minimal. Doch für die betroffenen deutschen Kinder, um die es in unserem nächsten Beitrag geht, sind es wichtige Probleme. Halbwaisen, die VAter oder Mutter verloren haben. Doch ungeachtet der persönlichen Tragödie müssen sie zusätzlich auch noch finanzielle Belastungen ertragen! Andrea Everwien.
Nils ist 16 Jahre alt und zornig. Seit dem Tod seines Vaters hat die Familie weniger Geld. –
O-TON Nils Stahl
Ich soll für einen Verlust bezahlen – das ist nicht gerecht.
Nils vermisst seinen Vater. Der sei ein Draufgänger gewesen, so wie er selbst, sagt sein Sohn. Frank Schäper, 50 Jahre, Pathologe in Berlin – und Motorradfahrer. Manchmal, nach einem Wochenendbesuch, nahm er seinen Sohn auf dem Motorrad mit.
O-TON Nils Stahl
Manchmal hinten drauf –zum Bahnhof hat er mich gebracht – am Wochenende.
Die Eltern sind schon lange getrennt, Nils lebt mit Mutter und Halbbruder auf dem Land. Doch jedes zweite Wochenende besuchte er seinen Vater in Berlin. Der ging mit ihm aus – zum Beispiel ins Konzert der „Ärzte“.
O-TON Nils Stahl
Hab ich zur Konfirmation bekommen, das Konzert.
Einen Wunsch konnte sein Vater ihm nicht erfüllen.
O-TON Nils Stahl
An meinem 16. Geburtstag - da hätte ich es cool gefunden, wenn er dabei gewesen wäre.
Da war der Vater schon tot. Ein Unfall mit dem Motorrad.
O-TON Nils Stahl
Er ist mit dem Kopf gegen die Bordsteinkante. Der Helm hatte eigentlich keinen Kratzer, aber da war er gehirntot. Nannte man das, glaube ich.
Ein emotionaler Schock. Doch dann kamen noch finanzielle Einbußen. Seit Nils Vater gestorben ist, fehlt jeden Monat Geld. Deshalb muss die Mutter mehr arbeiten. Dabei sah es zunächst so aus, als hätte die Familie trotz des Todes von Nils’ Vater keine Geldsorgen. Als Halbwaise hat Nils Anspruch auf eine Rente – Ersatz für den Unterhalt des Vaters. Laut Bescheid der Rentenversicherung immerhin monatlich: 514 Euro und 31 Cent.
O-TON Katia Stahl
Da habe mich auch sehr gefreut, als der Bescheid dann endlich kam. Das waren 50 Euro mehr als ursprünglich ich Unterhalt erhalten habe. Diese Freude hat aber gerade eine Woche angehalten. Dann rief eine sehr nette junge Dame von der Krankenkasse an und begann das Gespräch: Ja, ihr Sohn verdient ja jetzt so viel Geld! Da sage ich: Nein, der verdient kein Geld, der hat nur die Halbwaisenrente eben. –‚ Ja, aber das ist ja so hoch, er könne eben damit nicht mehr familienversichert sein, sondern müsse sich jetzt selbst krankenversichern.
Wie Nils geht es über 300.000 Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Sie müssen nicht nur den Tod eines Elternteils verkraften, sondern werden auch noch finanziell bestraft.
Solange beide Eltern leben, sind sie für den Unterhalt der Kinder verantwortlich. Sie zahlen Krankenkassenbeiträge; die Kinder sind in der Regel betragsfrei über Vater oder Mutter familienversichert.
Altersrentner dagegen sind für ihren Unterhalt selbst verantwortlich. Sie zahlen von ihrer Rente die Beiträge für die Krankenversicherung. Wenn aber ein Elternteil stirbt, erhält das Kind zum Ausgleich für den ausfallenden Unterhalt eine Halbwaisenrente.
Jetzt gilt das Kind – als Rentner, fällt aus der Familienversicherung heraus und muss, bis auf wenige Ausnahmen, selbst für die Krankenkassenbeiträge aufkommen.
Je nach Kasse und Art der Versicherung zahlen Halbwaisen so zwischen rund 7 und 35 % ihrer Rente an die Kranken- und Pflegekassen.
Bei Nils sind das jeden Monat 165,17 Euro für Kranken- und Pflegeversicherung. Von seinen 514 Euro Halbwaisenrente bleiben so gerade mal 349 Euro und 14 Cent übrig.
O-TON Katia Stahl
Ich finde das ein Unding, dass ein Kind, das sowieso eine Wurzel verloren hat, dafür auch noch zur Kasse gebeten wird.
Ganz anders sieht das offenbar die Mehrheit der Abgeordneten. Gelegentlich auftauchende Skrupel, Halbwaisen mit Krankenkassenbeiträgen zu belasten, werden beiseite gewischt. Das Argument: aus Gerechtigkeitsgründen müssten Halbwaisen wie Altersrentner behandelt werden.
O-TON Hilde Mattheis (SPD), Sprecherin AG Gesundheit SPD-Bundestagsfraktion
Es geht nicht darum, was politisch wünschenswert ist, sondern: ist die Vergleichbarkeit mit anderen Renten.
O-TON Jens Spahn (CDU), Gesundheitspol. Sprecher CDU-Bundestagsfraktion
Wir haben schon mehrfach vorgeschlagen, Halbwaise auch wie Familienversicherte zu behandeln, das stößt aber immer wieder auf verfassungsrechtliche Bedenken. Die Sorge ist, dass es dann auch auf andere Rentnergruppen ausgedehnt werden müsste und dass es dadurch deutlich teurer wird.
Doch im Petitionsausschuss des Bundestags regt sich Widerspruch – bei allen Fraktionen von den Grünen bis zur CDU.
O-TON Peter Maiwald, (Bü‘ 90/Grüne), Bundestagsabgeordneter Petitionsausschuss
Rechtlich ist immer so lange etwas nicht möglich, bis das Recht geändert wird. Und das ist Aufgabe der Regierung.
O-TON Günter Baumann, (CDU), Bundestagsabgeordneter Petitionsausschuss
Rente ist nicht gleich Rente. Das sind unterschiedliche Fälle. Denn Halbwaisen sind ja Kinder oder Jugendliche, die vorher nicht gezahlt haben. Und die nachher zu veranlagen, gibt es überhauptkeine Begründung dafür.
Dass das Thema Halbwaisenrente im Petitionsausschuss behandelt wird – dafür hat Hermann Beckmann gesorgt. Vor sieben Jahren starb seine Tochter Meike, eine junge angestellte Ärztin, mit 37 Jahren. Sie hinterließ zwei kleine Kinder.
O-TON Kinder
Hier bin ich- auf den Bildern – du als kleiner Nikolaus – und hier ist Meike.
Seitdem die Kinder Halbwaisenrente bekommen, müssen auch sie sich selbst krankenversichern – obwohl ihr Vater lebt und sie über ihn beitragsfrei versichert werden könnten. So nehmen auch hier Kranken- und Pflegeversicherung einen Großteil der Halbwaisenrente weg: von rund 427 Euro, die jedem der beiden Kinder zustehen, mehr als ein Drittel. So bleiben ihnen pro Kopf rund 260 Euro.
O-TON Uwe Michel
Der erste Gedanke war: wie soll ich denn jetzt alleine von meinem Gehalt die Miete bezahlen. Das wäre so nicht gegangen.
Großvater Hermann Beckmann sprang damals ein, übernahm erst mal die Miete. Doch er sieht nicht ein, dass seine Enkel Krankenkassenbeiträge zahlen müssen, nur weil ihre Mutter gestorben ist. Er will, dass sie wie andere Kinder beitragsfrei versichert bleiben können - jetzt eben über den Vater. Deshalb stellte Hermann Beckmann schon vor sieben Jahren seinen Antrag an den Petitionsausschuss des Deutschen Bundestags.
O-TON Hermann Beckmann
Der entscheidende Unterschied ist, dass kleine Kinder weder bis zum Tod der Mutter für den Unterhalt haben sorgen können noch anschließend sorgen können. Und deswegen auch meine Forderung: solange diese Kinder Kindergeld beziehen – sprich also kein eigenes echtes Einkommen haben – sollen die von der Krankenkassenverpflichtung befreit werden und über die Familienversicherung wieder krankenversichert sein.
Ob das rechtlich möglich wäre? Durchaus, sagt der Berliner Sozialrichter Michael Kanert.
O-TON Michael Kanert, Sozialrichter Berlin
Im Grundgesetz gibt es ja den wichtigen Satz: man muss alle in einer Gruppe gleich behandeln. Jetzt gehören aber solche Jugendlichen oder Kinder zwei Gruppen an: sie sind einmal Kind und einmal Empfänger von einer Rente. Und das ist jetzt eine politische Frage, für welche Gruppe sich das Parlament, der Bundestag, entscheidet.
Schon im vergangenen Herbst hat der Petitionsausschuss des Bundestags die Bundesregierung im gebeten, die Petition in Sachen Halbwaisenrente zu berücksichtigen. Das zuständige Gesundheitsministerium prüft jetzt, wie sie ihr entsprechen kann - und prüft – und prüft -und prüft.
Abmoderation: Vielleicht bringt unser Beitrag ja mal ein bisschen Tempo in die Angelegenheit - im Sinne der vielen betroffenen Halbwaisen.
Beitrag von Andrea Everwien