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In Thüringen macht ein linker Politiker Karriere, obwohl er sich zu DDR-Zeiten ganz der SED hingab und der Stasi Ausreisewillige auslieferte. Doch inzwischen wird er auch von seinen ehemaligen Opfern und Bürgerrechtlern toleriert. Alles vergeben und vergessen? Kontraste auf der Suche nach Erklärungen - 25 Jahre nach Mauerfall.
Nächste Woche will sich zum ersten mal ein Politiker der Linkspartei zum Ministerpräsidenten wählen lassen, in Thüringen. Das hat bei vielen grosses Unbehagen ausgelöst. Selbst die Kanzlerin und der Bundespräsident konnten ihre Kritik nicht zurückhalten: Ob die Linkspartei schon so weit weg von den Vorstellungen der SED sei, dass man ihr vertrauen könne, wollte Gauck wissen. In Thüringen haben die Wähler das bei ihrer Stimmabgabe bejaht. Aber wie erklärt sich das? Wir wollten verstehen, wie es heute - 25 Jahre nach Mauerfall - um die Seele der ostdeutschen Wähler und Politiker steht. Dafür haben sich Chris Humbs und Markus Pohl mit einem besonders umstrittenen Abgeordneten beschäftigt.
An ihm scheiden sich die Geister: Frank Kuschel in der Tiefgarage des Thüringer Landtags. Der Abgeordnete der Linken eilt zum nächsten Termin. Er will auf die Wartburg, dort wird heute die „Thüringer Rose“ verliehen. Ein Preis für Menschen, die sich im Land ehrenamtlich engagieren.
KONTRASTE
„Befürchten sie dort ausgebuht zu werden? Oder dass ihnen die Leute die Hand nicht geben?“
Frank Kuschel (DIE LINKE)
Landtagsabgeordneter Thüringen
„Also, das passiert mir selten. Also das war in der Zeit vor 1994 ab und zu der Fall, aber seitdem eigentlich nicht mehr.“
Frank Kuschel wird bereits erwartet.
Frank Kuschel (DIE LINKE)
Landtagsabgeordneter Thüringen
„Ich bin zu spät.“
Er ist Ehrengast.
Und das obwohl Frank Kuschel noch Ende der 80er Jahre als SED-Bürgermeister in Ilmenau aktiv das DDR-Regime stützte, Ausreisewillige drangsalierte. Nebenbei berichtete er als inoffizieller Mitarbeiter an die Stasi. Frank Kuschel gehört zur High Society, sitzt wieder vorne, wenn die Ministerin spricht.
DER TÄTER
Frank Kuschel (DIE LINKE)
Landtagsabgeordneter Thüringen
„Ich war immer bereit, zu meiner Zusammenarbeit mit dem MfS Erklärungen abzugeben und dies weit über die eigentliche Aktenlage hinaus.“
Eine Ethikkomission des Thüringer Landtags stufte Frank Kuschel wegen seiner Stasi-Vergangenheit als „parlamentsunwürdig“ ein. Eine Beurteilung, die aber keine weiteren Konsequenzen hat. Er hält an seinem Mandat fest.
Frank Kuschel ist eine zentrale Figur bei den Linken in Thüringen. Hier im Fraktionssaal wurde in den letzten Wochen der Koalitionsvertrag eingefädelt. Er strickte mit am Bündnis mit den Sozialdemokraten und den Grünen - trotz seiner damaligen „Methoden“ gegen Ausreisewillige im Altkreis Ilmenau. Frank Kuschel – hier Fotos aus der Wendezeit - sollte die Bittsteller dazu bringen, ihren Antrag zurückzunehmen:
Frank Kuschel (DIE LINKE)
Landtagsabgeordneter Thüringen
„Es wurde schon Druck aufgemacht, das ist richtig. Und das war schon - klar - heftig, weil zum Schluss stand ja die Verurteilung wegen Paragraph 249 Absatz 5 Strafgesetzbuch.“
KONTRASTE
„Also unterm Strich: Ich bring Sie in Knast, wenn Sie nicht mitspielen?“
Frank Kuschel (DIE LINKE)
Landtagsabgeordneter Thüringen
„Ich nicht, das macht ja ein Gericht, aber ich bring das Verfahren auf den Weg.“
Frank Kuschel distanziert sich heute von seiner Arbeit in der SED. Er hat sich dafür entschuldigt und seine Stasi-Akte als IM Fritz Kaiser schon bald nach der Wende offengelegt. Aber reicht das aus, dass Leute wie er wieder mitbestimmen dürfen?
DIE OPFER
Das Ehepaar Lange beschloss 1988, die DDR zu verlassen. Beide waren Lehrer – nachdem sie ihren Ausreiseantrag stellten, wurden sie fristlos gekündigt, ihr Sohn flog von der Oberschule. Etliche Male wurden die Langes zu Frank Kuschel ins Ilmenauer Rathaus vorgeladen.
Otto Lange
Ausreisewilliger in der DDR
„Ich habe bei ihm immer wieder so eine diebische Freude gesehen, denen kann ich es aber jetzt zeigen… Das hat ihm schon sehr viel Spaß gemacht, hier einen sozusagen drauf zu geben, hier zu zeigen, hier bin ich, bestimme über dich, du bist ein armes Würstchen sozusagen, mit dir können wir machen, was wir wollen.“
Beide wurden von Kuschel hingehalten, zermürbt. Lange Zeit bekamen sie keine Arbeit, auch nicht als Reinigungskraft - dafür verhängte Kuschel Bußgelder, weil sie die Auflage, einer Arbeit nachzugehen, nicht befolgen konnten. Zusammen mit anderen Ausreisewilligen stufte Kuschel den angeblichen Arbeitsverweigerer Otto Lange als „kriminell-gefährdet“ ein.
Otto Lange
Ausreisewilliger in der DDR
„Eine Entschuldigung, wenn er die wirklich treffen würde, würde ich sagen: ,Herr Kuschel, ich nehme ihre Entschuldigung an, aber unter einer Bedingung nur, Sie geben ab sofort sämtliche politische Ämter auf, dann weiß ich, Sie meinen es ehrlich und nicht nur als Mittel zum Zweck: Ich entschuldige mich, weil das vielleicht für meine Karriere gut wäre.‘“
Nach langer Recherche finden wir einen weiteren Ausreisewilligen aus Ilmenau. Wir skypen mit Günter Schramm, er lebt mittlerweile in Thailand. Auch er sagt, Frank Kuschel habe ihn in die Mangel genommen.
KONTRASTE
„Wie hat sich denn Herr Kuschel in diesen Gesprächen verhalten, wie ist er denn aufgetreten?“
Günter Schramm
Ausreisewilliger in der DDR
„Er war sehr arrogant, überheblich und meinte, dass ich gar keine Chance hätte auszureisen, es sei denn, ich würde für sie arbeiten und Zuträgerdienste machen. Da könnte man eventuell über meine Ausreise reden. Aber ansonsten hätte ich gar keine Chance.“
KONTRASTE
„Das heißt, Herr Kuschel hat versucht, Sie für Spitzeldienste zu gewinnen?“
Günter Schramm
Ausreisewilliger in der DDR
„Richtig. Er wollte mich als Zuträger aus der Ausreiseszene gewinnen, um andere zu verraten.“
Frank Kuschel erklärt uns dazu, dass er zwar ein Informantennetz zur sogenannten Kriminalitätsbekämpfung aufgebaut habe. Aber an eine Anwerbung von Ausreisewilligen könne er sich nicht erinnern.
Günter Schramm
Ausreisewilliger in der DDR
„Ich finde es eine riesengroße Sauerei, dass so einer, ein typischer Wendehals, sich so lange halten kann.“
DIE WÄHLER
Jeder Bürger hat in der Demokratie nur eine Stimme - auch die Opfer. Fehlt vielen anderen Wählern in Thüringen die Sensibilität, bei der Stimmabgabe auch an die Opfer zu denken? Wir sind in Ilmenau. Hier war Frank Kuschel zu DDR-Zeiten der Bürgermeister für Inneres.
Passanten
„Wer sich nach 25 Jahren noch unbedingt als Opfer fühlt, der hat´s nicht geschafft, seine eigene Vergangenheit aufzuarbeiten.“
„Politik, naja, haben wir nur so am Rande betrieben, nä? Also, ich hab so schlechte Erfahrungen nicht gemacht mit der DDR.“
„Viele, die damals in diesen Funktionen waren, haben ja nix Schlechtes gefühlt, ganz im Gegenteil! Ich war auch Genosse, ich habe auch im Sinne des Staates gedient, weil ich der Meinung war, dass alles in Ordnung ist.“
„Da sollte man irgendwo auch mal einen Schlussstrich ziehen. Für mich ist die Wahl die Wahl, und die Zeit die Zeit, und der Wählerwille der Wählerwille, ja?“
„Ich hab schon die Ausreise beantragt.“
„Ja, sie finden es nicht gut?“
„Nein.“
„Warum?“
„Ich kann die Roten nicht leiden.“
DIE WISSENSCHAFT
Meinungsforscher stellen fest: Viele Ostdeutsche verteidigen die DDR, sind der Meinung, dass damals so einiges besser war als heute. Diese Haltung, so der Politikwissenschaftler Oliver Lembcke von der Uni Jena, schweißt zusammen, grenzt Systemkritiker aus und bindet ehemalige SED-Kader ein.
Oliver Lembcke
Politikwissenschaftler Universität Jena
„Wenn jemand sagt, dafür stand ich und dafür war ich auch bereit, in Anführungsstrichen, zu kämpfen, ich habe meine Vita, ihr habt eure Vita, ich werfe euch euer Vita nicht vor, ihr wart Teil des Systems, ich war Teil des Systems, dann ist das eine Form sozusagen des Understandings, das auf, in weiten Teilen der Bevölkerung , weiß Gott nicht nur in Thüringen, aber auch hier, auf Zustimmung stößt. Das ist eine Form, dass man sich wechselseitig versteht.“
DIE KOALITIONÄRE
Die Vorstellung des Koalitionsvertrags in Erfurt vergangene Woche. Das rot-rot-grüne Bündnis hat nur eine Mehrheit von einem Sitz, es kommt also auf Frank Kuschels Stimme an. Dennoch unterstützen selbst Bürgerrechtler das Bündnis unter einem Ministerpräsidenten Bodo Ramelow.
Einer von ihnen ist der Thüringer Harald Seidel. Das Gründungsmitglied der Ost-SPD war im Visier der Stasi. Laut Akten überlegte man sogar, ihn „kurzfristig zu liquidieren“. Trotzdem sieht Harald Seidel diese Koalition mit der Linken eher pragmatisch.
Harald Seidel
Mitglied SPD
„Die Kuschels, die hat‘s überall gegeben, in der CDU gegeben, in der Linken … Aber nach einem Vierteljahrhundert sollte man einfach mal die Kirche im Dorf lassen und so. Das ist kein Thema mehr.“
Selbst in Ilmenau reichen ehemalige Regimegegner die Hand zur Versöhnung. Das Grünen-Mitglied Helmut Krause war hier Gründer des Neuen Forums, der wichtigsten Bürgerbewegung in den letzten Tagen der DDR. Wegen seiner Aktivitäten taucht er sogar in Frank Kuschels IM-Akte auf.
Helmut Krause
Mitglied Bündnis90/ Die Grünen
„Ich denke mit dem Blick nach vorne und mit dem Blick auf gelebte Demokratie ist spätestens jetzt und mit dieser Diskussion, die ich als durchaus auch, sag mal Läuterungsprozess wahrnehme, ein Zeitpunkt erreicht, wo man nach einer Generation schauen muss, was hat der Mensch in 26, 27 Jahren DDR getan oder verbrochen, und wie hat er sich in 25 Jahren bundesrepublikanischer Demokratie bewegt oder entwickelt. Dann darf man, denke ich auch, mehr den Blick nach vorne wieder wenden und sagen, wir wollen schließlich auch zusammen leben.“
VORWÄRTS – UND NICHT VERGESSEN?
Einen Konsens, wie man aus moralischer Sicht mit Politikern wie Frank Kuschel umzugehen hat, gibt es nicht. So macht Kuschel weiter Politik. Ohne Pause seit 1987. Er sagt, er will noch einmal Bürgermeister werden. Das sei aus seiner Sicht in Ordnung, schließlich stehe er heute zur Demokratie. Und seine Vergangenheit tue ihm leid.
In jedem Fall wird Thüringen politisch weiter spannend bleiben: Morgen in einer Woche sehen wir, ob rot-rot-grün wirklich geschlossen für einen ersten linken Ministerpräsidenten stimmen wird.
Beitrag von Chris Humbs und Markus Pohl