Eine Volkspartei zerlegt sich selbst -
Kaum ist Sigmar Gabriel im Urlaub, da diskutiert die SPD offen über ihren Kurs: Juniorpartner der CDU mit Merkel als Kanzlerin bleiben oder Rot-Rot-Grün anstreben, verbunden mit dem Rücktritt Gabriels vom Parteivorsitz? Kontraste hat Ortsvereine, Landes- und Bundespolitiker getroffen und Antwort auf die Frage gesucht: Wie könnte eine SPD aussehen, die mehr als der sozialdemokratische Flügel der CDU ist?
Anmoderation: Harte Tage für die SPD. Da räsoniert ein SPD-Ministerpräsident öffentlich darüber, ob die Partei bei der nächsten Wahl 2017 überhaupt noch einen eigenen Kanzlerkandidaten braucht. Schließlich habe man gegen Merkel eh keine Chance. Da erklärt der frühere Kanzlerkandidat, die SPD reiße niemanden mehr vom Hocker. Erleben wir die Kapitulation der großen Volkspartei? Oder hat Sigmar Gabriel noch ein Ass im Ärmel? Unsere Autoren Ursel Sieber und Chris Humbs waren auf Spurensuche.
"Lieber Sigmar Gabriel, mein Parteibuch habe ich, seit ich 13 bin ...." So beginnt Yascha Mounk den Brief an den Vorsitzenden seiner SPD. Wir treffen ihn in Berlin, er war der SPD eng verbunden. Jetzt tritt er aus. Es ist ein schmerzhafter Abschied. Für ihn hat die Partei unter Sigmar Gabriel sozialdemokratische Ideale verraten.
0-Ton Yascha Mounk
20 Jahre in einer Partei beheimatet gewesen zu sein, das Gefühl zu haben, dass man politisch etwas mit so einer Organisation verbindet und dann die Hoffnung aufzugeben, dass die Partei auch weiter für diese Prinzipien entsteht, das ist natürlich auch ein sehr trauriger Moment.
Es kam einiges zusammen. Doch für den Austritt entschied sich der Dozent der Harvard-Universität erst im Zuge der Griechenlandkrise: Sigmar Gabriels Stimmungsmache fand er unerträglich.
0-Ton Yascha Mounk
Was mich empört ist, dass Deutschland den Griechen eine Sparpolitik aufzwingt, die von den allermeisten internationalen Wirtschaftswissenschaftlern abgelehnt wird und Herr Gabriel stellt sich dann hin und verkauft das als Erfolg, anstatt zu sagen, wie sieht denn eine europäische Union aus, in der wir solidarische, gemeinsame, demokratische Politik machen können?
Dass sich die SPD mit ihrer Europapolitik nicht mehr von der CDU unterscheidet - das treibt auch die Berliner Jusos um. Krisentreffen.
0-Töne Umfrage Berliner Jusos
Weil von Gabriel ein Zick-Zack-Kurs gefahren wird, weil in Fragen von Griechenland, in Fragen von TTIP, in Fragen Vorratsdatenspeicherung sozialdemokratische Werte verloren gehen und weil ich merke, dass viele Bekannte, viele Freunde und viele Mitglieder überlegen, auszutreten.
Sigmar Gabriel kommt ja nicht mal mehr zu den Bundeskongressen der Jusos, anscheinend hat er überhaupt keine Lust, mit uns zu sprechen.
Es sind ja auch nicht nur wir, die Kritik äußern, sondern es ist eine Stimmung, die man generell zumindest bei der aktiven Parteibasis wahrnimmt, und die findet keinen Widerhall.
Das hören wir immer wieder auf unserer Recherchereise: Frust, Ratlosigkeit und Sorge. Sorge um das Profil der SPD, wie hier in Nordbayern, beim Sommerfest des Ortsvereins in Sand am Main. Heute werden langjährige Mitglieder geehrt.
0-Ton Frau am Mikro
Ihr habt dazu beigetragen, dass sich tatsächlich was geändert hat in unserem Land. Dafür herzlichen Dank.
Stolz sind die Genossen auch auf die Erfolge in der großen Koalition: gesetzlicher Mindestlohn, Rente mit 63, Fortschritte in der Familienpolitik. Doch es zahlt sich für die SPD nicht aus.
O-Ton SPD-Mitglied
Wir haben unsere Themen schon durchgebracht, die im Koalitionsvertrag standen. Werden nicht anerkannt. Fällt alles auf die CDU zurück.
Frage: Rente mit 63, Mindestlohn?
O-Ton SPD-Mitglied
Profitieren tut nur die CDU.
Und die Bundes-SPD stagniert bei 25%. Den Genossen ist der Parteichef in der großen Koalition zu angepasst, einfach zu brav.
O-Ton
Ich glaube, was wir brauchen, ist ein Profil als Partei. Es droht, etwas verloren zu gehen. Und das muss man, glaube ich, deutlicher erarbeiten, und dass ist auch eine Aufgabe für Gabriel, die er im Moment in dieser Form nicht erfüllt.
Profil zeigen - das interpretiert Sigmar Gabriel auf seine Weise: Er will die Partei in die "arbeitende Mitte" rücken, wie er das nennt.
0-Ton Sigmar Gabriel
Uns geht es um die Menschen, und zwar egal, ob sie Arbeitnehmer sind oder Unternehmer, ob Handwerksmeister oder Angestellte oder Facharbeiter, die jeden Tag arbeiten gehen und mit ihrer Arbeit dieses Land wohlhabend und sicher machen und die finde ich, müssen im Mittelpunkt von Politik stehen.
Der Parteienforscher Gero Neugebauer findet diese Ausrichtung für die SPD hochriskant.
0-Ton Prof. Gero Neugebauer, Freie Universität Berlin
Wie viele Menschen arbeiten in der Bundesrepublik? Wie viele zählen davon zur Mitte? Wir haben einen hohen Anteil von Leuten im Niedriglohnsektor, mit unsicheren Arbeitsverhältnissen. Die werden da alle nicht angesprochen. Die Rentner werden nicht angesprochen, Hausfrauen werden nicht angesprochen. Schüler und Studenten werden nicht angesprochen. Wer "arbeitende Mitte" in den Mund nimmt, grenzt andere aus und das sollte sich Herr Gabriel bewusst werden.
Gabriel will die gewinnen, denen es gut geht, die ihre Besitztümer wahren wollen, eher CDU-Wähler also. Nichtwähler und klassische SPD-Wähler lässt die Partei so links liegen. Und Gabriel meint es ernst: Das zeigt sein neues Strategiepapier: Starke Ideen für Deutschland 2025.
Wie dieses Papier an der Basis ankommt, erfahren wir in Heidelberg. Bei einer SPD-Ortverbandsitzung. Dort diskutieren die Genossen über das Stratetegiepapier. Ihnen ist es zu konservativ, zu deutschtümelnd. Der europäische Gedanke käme viel zu kurz. Sie haben die 18 Seiten mit einer speziellen Software ausgewertet und mit dem Parteiprogramm verglichen.
0-Ton Wolf-Eckhard Wormser (SPD), Ortsverbandsvorsitzender
Wenn man das Papier von Sigmar Gabriel anguckt, dann ist Deutschland das hier und Europa ist etwas kleiner geraten, um nicht zu sagen, Deutschland ist das wichtigste Wort, das in diesem Papier vorkommt. Ein zweites Beispiel ist das Wort Gerechtigkeit, im Parteiprogramm relativ prominent vertreten, während ich es beim Gabriel-Papier relativ lange gesucht hab. Ich weiß nicht - habt ihr es schon gefunden? Nächstes Zitat: Gleichzeitig zeigt ein patriotisches Selbstverständnis unsere Identifikation mit der Zukunft unseres eigenen Landes. Also das Wort Patriotismus habe ich bisher in einem Parteiprogramm der SPD noch nicht gefunden.
Verärgert ist man hier, dass Sigmar Gabriel Stimmungen - wie bei Pegida - einfach hinterherlaufe. Und gleichzeitig mit seinem Papier Abschied nimmt von Kernforderungen der SPD: Von einer Vermögensabgabe etwa oder der Besteuerung großer Erbschaften.
0-Töne
Unser Anspruch als Sozialdemokraten ist schon ein anderer.
Wo eigentlich, wenn man es hinterfragt, eine sehr neoliberale und einseitige Denke dahinter steckt, die ich für ganz, ganz schwierig halte.
Ganz im Norden der Republik treffen wir ein Präsidiumsmitglied der Bundes-SPD, einen der Stellvertreter Sigmar Gabriels, Ralf Stegner, bei einer Erkundungstour auf dem Watt mit Umweltschützern. Er ist der Vorsitzende der SPD in Schleswig-Holstein und hat einen Gegenentwurf veröffentlicht: Ein Frontalangriff auf Gabriel.
0-Ton Ralf Stegner (SPD), Stellvertrender Bundesvorsitzender
Wir sind natürlich ein bisschen breiter, wir haben ein halbes Jahr daran gearbeitet. Wir haben auch verschiedene Instrumente der Steuerpolitik, die da vorkommen. Und andere Fragestellungen.
Während Gabriel in die Mitte drängt, sieht Stegner die Zukunft der SPD links.
O-Ton Ralf Stegner (SPD)
Wir wollen die Union ablösen, das geht nur, wenn wir die Alternative zur Union sind. Nicht wenn wir so werden wie die Union, die Union gibt es schon, sondern als klare Alternative.
Die SPD dümpelt bei 25 Prozent herum – und damit ist seine Partei nur noch einer der möglichen Juniorpartner der Union. Außer: sie freundet sich mit rot-rot-grün an. Und hierfür gibt es in der SPD-Fraktion einige Fürsprecher:
O-Ton Hilde Mattheis (SPD), Bundestagsabgeordnete
Wir wollen, dass 2017 es einen Kanzler der SPD gibt. Dafür tun wir alles. Und nach den Umfragewerten jetzt ist die einzige Option eine rot-rot-grüne Option, und die darf man sich jetzt nicht verstellen.
Doch obwohl die SPD auf ihrem Leipziger Parteitag 2013 ausdrücklich beschlossen hat, die Koalitionsfrage offen zu lassen, prescht Gabriel nun vor.
O-Ton Sigmar Gabriel (SPD), Parteivorsitzender
Frage: Rot-rot-grün - nicht?
So wie die Linkspartei sich radikalisiert in der Innen- und Außenpolitik wollen die das selbst nicht und wir auch nicht.
Und basta! Gesine Schwan war Kandidatin der SPD für das Amt der Bundespräsidentin. Nun ist sie Vorsitzende der Grundwertekommission der Partei und kritisiert ganz offen Gabriels Kurs.
0-Ton Prof. Gesine Schwan, Vorsitzende SPD-Grundwertekommission
Die Sozialdemokratie ist immer eine linke Partei gewesen, keine konservative. Immer mit konservativen Elementen, klar. Aber eine linke Partei, die die Welt verändern, verbessern will. Natürlich. Die Welt so zu lassen wie sie jetzt ist, ist ein Verschlechtern, denn die Dynamik geht im Moment nicht auf Verbesserung hin, sondern auf Verschlechterung. Die Sozialdemokratie muss verbessern. Sie muss diesen Impetus haben. Und wenn sie den nicht hat und sich darin nicht von Konservativen unterscheidet, dann ist es schlecht, auch für ihre Wahlchancen.
Der Rückhalt Gabriels in der SPD bröckelt. Der Richtungsstreit in der SPD ist entbrannt.
Abmoderation: Übrigens - nach dem neuesten ARD-Deutschlandtrend sind zurzeit nur noch 48% der Wahlberechtigten mit dem Politiker Sigmar Gabriel zufrieden. Damit liegt er weit abgeschlagen hinter Frank-Walter Steinmeier, der mit 72% weit höher in der Gunst der Deutschen steht.
Beitrag von Ursel Sieber & Chris Humbs