Ostfriesland -
Der tiefste Nordwesten Deutschlands war bis zum 23. Februar tiefrot: In Ostfriesland hatte die SPD mit bis zu 62 Prozent meist ihre besten Wahlergebnisse erzielt. Doch bei der jüngsten Bundestagswahl rutschte sie auf 29 Prozent ab, mancherorts wurden die Sozialdemokraten sogar von der AfD überholt. Was in vielen Regionen im Osten der Republik zur Normalität gehört, ist für so manchen Ostfriesen eine Überraschung.
Beitrag von Daniel Donath, Daniel Schmidthäussler und Maria Wölfle
Doch warum konnte die AfD selbst in der SPD-Bastion so stark werden? Kontraste-Reporter haben Menschen vor Ort gesprochen, etwa mit Bauern, VW-Mitarbeitern oder einem parteilosen Bürgermeister, sie waren in Großheide, Emden-Transvaal, Leer und an der Nordsee unterwegs. Aber sie konnten kaum jemanden finden, der die AfD aus voller Überzeugung gewählt hat. Es wirkt ganz so, als wollten die Ostfriesen ihrer SPD nur einen Denkzettel verpassen. Dass aus diesem Denkzettel eine feste Größe wird, befürchtet der 100-jährige Holocaust-Überlebende Albrecht Weinberg. Auch er ist Ostfriese und macht sich große Sorgen um seine Heimat. Kürzlich hatte er aus Protest gegen Merz‘ Abstimmung mit der AfD sein Bundesverdienstkreuz zurückgegeben.
Anmoderation: Ostfriesland - viele denken da an Urlaub auf den gleichnamigen Inseln, an Osfriesentee, an Deiche und Schafe. Typisch für Ostfriesland waren bislang auch immer Rekordergebnisse für die SPD. Doch jetzt ist die Partei dort zwar immer noch vorn, hat aber massiv an Stimmen verloren. Gewonnen hat die AfD - mit Ergebnissen, die sie lange Zeit nur im Osten erreichen konnte. Wir wollten vor Ort herausfinden, was die Ostfriesen zur AfD trieb und haben dabei unter anderem einen Mann getroffen, der sie zwar gewählt hat, aber das eigentlich für - Zitat - "Scheisse" hält...
Ostfriesland: Das ist für viele Watt und Nordsee, plattes Land, Boßeln – die Ottifanten vielleicht noch – und die SPD.
Seit 1949 war sie hier stets stärkste Kraft, bekam bei Bundestagswahlen mehr als 60 Prozent. Doch zuletzt war hier auch die AfD erfolgreich, lag mit 21 Prozent nur 8 Punkte hinter der SPD. Warum?
Wir sind in Emden-Transvaal. Ein alter Arbeiterbezirk – zwischen Hafen und VW-Werk. Jahrzehntelang war das Viertel fest in SPD-Hand. Heute finden sich hier auch viele AfD-Wähler.
Einer von ihnen ist Karsten Rölling. Er arbeitet bei einem Sicherheitsdienst auf dem VW-Gelände.
Karsten Rölling
"Ich habe ja auch früher SPD gewählt, aber nein es ist nicht mehr so. Das geht auch nicht mehr. Und das, was die da jetzt alle mit dieser Brandmauer da machen und versuchen und tun. Das ist so ein Kindergarten ist es doch."
Kontraste
"Was macht Ihnen denn Sorge?"
Karsten Rölling
"Alles eigentlich zurzeit. Was mit VW los ist, was hier los ist, was mit den Menschen los ist. Hier werden alle nur noch ausgeraubt mit Messern, was ist das denn für eine Scheiße, wo sind wir gelandet, so langsam. Ich habe Angst. Die kommen hier einfach her, kriegen unser Arbeitslosengeld, wie die Sau, wenn sie da in dem Arbeitslosenamt da stehen da, ihr Bargeld auszocken lassen, das ist ja wie ein Gambling nur noch. Ich verdiene gerade mal 1.800 Euro, kommen Sie da mal mit hin!
Ahhh, das überschlägt sich alles, siehste. Das ist die ganze Wut in mir."
Kontraste
"Aber dass es bei der AfD auch Rechtsextreme gibt, stört sie das nicht?"
Karsten Rölling
"Ja, doch. Das stört mich natürlich. Ich sage ja. Die sind clever. Die Schweine! Die sind clever, wirklich. Es ist scheiße, die AfD zu wählen!"
Und doch hat er es getan und bringt in seiner Wut und Verunsicherung einiges durcheinander. Arbeitslosengeld und Bürgergeld etwa. Zudem beträgt der Ausländeranteil in Ostfriesland nur 8,1 Prozent – weit unter dem Bundesdurchschnitt von 14,5 Prozent.
Überdurchschnittlich ist in Ostfriesland hingegen die Zahl der Bürgergeldempfänger – das Nettoeinkommen hier liegt unter dem Bundesdurchschnitt.
Viele Wähler in Transvaal sind verunsichert. Es ist eine diffuse Angst, die wir oft gespiegelt bekommen. Ist der Rechtsruck also eine Mischung aus Verzweiflung und Protest?
Das VW-Werk in Emden ist der wichtigste Arbeitgeber in der Region, mittlerweile werden hier nur noch E-Autos gefertigt. Als die Ampel deren Förderung im Dezember 2023 kippte, stürzte das VW-Werk in eine Krise.
VW-Betriebsratsvorsitzender Manfred Wulff erinnert sich:
Manfred Wulff, Betriebsratsvorsitzender VW Emden
"Bei uns sind sofort die Absatzzahlen eingebrochen. Und das in Gänze haben wir mit Kurzarbeit abfedern müssen, das heißt man geht auch an den Geldbeutel der Kolleginnen und Kollegen, weil sofort eben halt Stundenkonten abgefrühstückt werden."
Kontraste
"Glauben Sie, dass auch diese Entscheidung zumindest Vertrauen in die Politik geschwächt hat?"
Manfred Wulff, Betriebsratsvorsitzender VW Emden
"Absolut! Wenn eine Entscheidung in der Politik gefällt wird und du sofort ne Woche später das spürbar hast, welche Auswirkungen das hat, dann merkst Du das absolut, na klar."
Politik und Gewerkschaften konnten das Emder Werk Anfang des Jahres vor der Schließung bewahren – die Existenzangst ist aber bei vielen geblieben.
Manfred Wulff, Betriebsratsvorsitzender VW Emden
"Wenn ich einfach nur sage, warum wählt denn 20 Prozent, die wir als Querschnitt auch bei uns im Werk erleben, warum wählt man die AfD? Warum wählst du als Volkswagen-Mitarbeiter mit einem guten Einkommen jetzt wieder mit einem unkündbaren Beschäftigungssicherung. Warum wählst du die AfD? Dann kommt meistens nur Achselzucken. Und wird gesagt, es ist doch alles immer so blöd und so. Es läuft alles so schlecht, die machen einfach Scheißpolitik. Es ist nicht so richtig greifbar. Es ist alles immer nur so ein Überschriften-Gewaber. Und das macht es so absolut schwer, eigentlich darüber zu diskutieren."
Am Strand in Esens treffen wir Siebo Janssen – er ist Politikwissenschaftler mit Wurzeln in Ostfriesland und meint, ein Grund für das Erstarken der AfD sei ein gebrochenes Versprechen.
Siebo Janssen, Demokratiereferent LK Aurich und Lehrbeauftragter Politikwissenschaften
"Also das Versprechen der Sozialdemokratie hier in Ostfriesland war immer, dass eigentlich es so weitergeht, wie es immer war. Dass es also Wohlstand gibt. Und das kann sie jetzt aber im internationalen Kontext der politischen Krisen nicht mehr garantieren. Und das führt dazu, dass die Menschen sich abwenden."
Dass viele sich dann der AfD zugewandt haben, egal, wer da konkret zur Wahl stand, das wundert Janssen nicht.
Siebo Janssen, Demokratiereferent LK Aurich und Lehrbeauftragter Politikwissenschaften
"Die Person ist eigentlich relativ schnurz mittlerweile, weil die Leute ihrem Protest, ihrer Wut eine Stimme geben wollen. Und die hätten auch, ich sag's jetzt mal so, einen Besenstil aufstellen können. Der wäre auch gewählt worden."
Wir fahren nach Nortmoor. Hier sind wir mit Arno Arndt verabredet, dem AfD-Kandidaten im Wahlkreis Emden-Aurich. Er will uns am Rande eines Feldes an einer Kreuzung treffen.
Den Erfolg seiner AfD in Ostfriesland erklärt er sich so …
Arno Arndt, AfD
"Alle anderen Parteien haben an Ihrer Meinung gar kein Interesse. Und wenn uns der Bürger sagt, wir sind mehrheitlich dafür, dann ist das der Regierungsauftrag für uns. Die Bürger haben immer wieder durch alle möglichen Umfragen gezeigt, was sie wollen und was sie nicht wollen."
Wir sprechen ihn darauf an, dass das offenbar nur für Umfragen zur Migration gilt.
Kontraste
"Es gibt Umfragen, die besagen, dass ein Großteil der Menschen in Deutschland möchte, dass Reichtum anders verteilt wird. Ich habe noch nie auch nur ein Wort der AfD genau über diese Umfrage gehört – warum nicht?"
Arno Arndt, AfD
"Also ich schlage vor, ich gebe diese Antwort schriftlich, ich schaue nachher gleich im Wahlprogramm nach, im Grundsatzprogramm, schreibe das raus, dann schreibe ich Ihnen das."
Kontraste
"Ich frage das ja aber jetzt gerade Sie, wie wir hier stehen: Warum sprechen Sie nicht auch über diese Umfrage, wenn es doch um den Willen der Menschen geht."
Arno Arndt, AfD
"Wenn sich eine Mehrheit dafür bietet, wenn die Mehrheit der Bevölkerung möchte, dass die Reichen stärker besteuert werden, dann werden wir das auch umsetzen."
Das stünde allerdings im Gegensatz zum AfD-Programm, denn das verspricht Steuersenkungen vor allem für Reiche.
In den Bundestag geschafft hat Arno Arndt es nicht, im Wahlkreis landete er auf Platz drei. Und über die Liste war er nicht abgesichert.
Zwischen der Nordsee und dem Hof von Landwirt Manfred Tannen liegt nur der Deich. Gemeinsam mit seinem Sohn bewirtschaftet er hier einen Milchviehbetrieb. Tannen ist Präsident des Ostfriesischen Bauernverbands. Dass die AfD sich für die Landwirte interessiert, glaubt er nicht.
Manfred Tannen, Präsident Landwirtschaftlicher Hauptverein Ostfriesland
"Wenn ich mir jetzt Bundestagswahlkampf anschaue, oder auch grundsätzlich, habe ich sehr viel Kontakt mit den politischen Vertretern der Mitte, ob Landtag oder Bundestag, ich muss aber sagen, dass ich keine Kontaktaufnahme seitens der AfD erlebt habe. Also die sich hier in unserer Region überhaupt nicht in unsere Themen der Landwirtschaft überhaupt eingearbeitet haben. Ich habe das an keiner Stelle wahrgenommen."
Die AfD lehnt die gemeinsame Agrarpolitik der EU grundsätzlich ab. Viele Höfe sind allerdings auf die Gelder aus Brüssel angewiesen.
Und die Landwirtschaft ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor in Ostfriesland. Insgesamt gibt es hier mehr als 3.000 bäuerliche Familienbetriebe. Wirtschaftlich ginge es den Landwirten gut. Trotzdem sei die Stimmung gedrückt, so Tannen. Und das liege auch an der Bürokratie.
Manfred Tannen, Präsident Landwirtschaftlicher Hauptverein Ostfriesland
"Wir spüren, dass wir gar nicht das Vertrauen der Politik haben, dass wir unsere Arbeit gut machen. Dann stellt das für uns grundsätzlich so viel infrage, dass die Gefahr immer größer wird, dass die Populisten hier immer mehr verfangen. Weil die mit ihren einfachen Botschaften und Antworten dann daherkommen."
Sind es also nur die einfachen Antworten der AfD, die auch bei den ehemaligen Wählern der SPD verfangen haben?
Wir machen Station in Westerende. Bei einem der es wissen sollte. Der SPD-Abgeordnete Johann Saathoff ist soeben zum vierten Mal in den Bundestag gewählt worden.
"Wollen wir reingehen?"
Fast jeden Sonntag lädt er zum "Elführtje", der ostfriesischen Variante eines Frühshoppens. Seit knapp zwei Jahren macht er das schon. Er sagt, er will damit die Demokratie in Ostfriesland stärken.
Bei der Bundestagswahl hat er als Direktkandidat 41 Prozent geholt, eines der besten Ergebnisse aller SPD-Kandidaten. Doch beim letzten Mal war er noch deutlich stärker.
"Wie war jetzt das Ergebnis für dich, also der Bundestagswahl Bundestagswahlergebnis mal so?"
Das kann einem schon ein bisschen Sorge machen, dass quasi die extrem Rechte auch in Ostfriesland stärker geworden ist.
Noch vor rund 20 Jahren hat die SPD hier über 60 Prozent geholt.
Saathoff setzt auf den direkten Kontakt zu den Menschen, um verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen.
Johann Saathoff, SPD, Bundestagsabgeordneter
"Das ist für uns ein Auftrag auch, für mich persönlich auch ein Auftrag, als Bundestagsabgeordneter, Menschen noch mehr abzuholen, als ich das bisher getan habe. Und eins dieser Angebote ist Elführtje. Nicht nur. Ich bin auf vielen Kanälen erreichbar. Halb Ostfriesland hat meine Handynummer. Man kann mich anrufen. Man kann mir schreiben, man kann mich auf Social Media erreichen, aber ich bin auch einfach so mal sonntags da und ansprechbar."
In der Stadt Leer treffen wir einen Ehrenbürger, den das AfD-Ergebnis besonders besorgt:
Der Ostfriese Albrecht Weinberg hat Konzentrationslager und Todesmärsche überlebt. Aus Protest gegen die Abstimmung der Union mit der AfD im Bundestag hat er kürzlich sein Bundesverdienstkreuz zurückgegeben.
Heute feiert er seinen 100. Geburtstag. Erst 2012 ist Weinberg aus den USA in seine Heimat zurückgekehrt.
Albrecht Weinberg
"Mein Dorf, Rhauderfehn, was heutzutage ganz wunderbar ist, da sind viele, die rechtsradikal gevoted haben. Aber die wissen nicht, wie es ausgesehen hat in Deutschland, 1945, wenn wir einen dictator hatten, der Deutschland vollkommen zerstört hat."
21 Prozent hat die AfD in Ostfriesland erzielt. Hier hat sie offenbar nicht mit eigenen Ideen oder Personen überzeugt, sondern vielmehr von einer tiefen Verunsicherung profitiert.