Langwierig oder langsam -
In Engelsbrand galt Wilhelm Kusterer lange als angesehener SPD-Stadtrat und Heimatforscher. Die Gemeinde verlieh ihm im vergangenen Jahr eine Ehrenmedaille. Was angeblich niemand wusste: Kusterer war 1944 Offizier in einer Einheit der Waffen-SS und beteiligt an der Ermordung von über 700 Männern, Frauen und Kindern. In Italien wurde er deshalb in Abwesenheit zu lebenslanger Haft verurteilt. In Deutschland blieb er bis heute unbehelligt.
Anmoderation: In einem Dorf in Baden-Würtemberg herrscht seit kurzem grosse Aufregung: Mehr als 70 Jahre nach Kriegsende wird bekannt: Ein braver Bürger des Ortes soll in ein grausames Massaker der Waffen-SS verstrickt gewesen sein. In Italien wurde der Mann dafür zu lebenslanger Haft verurteilt. Uns hat diese Geschichte nicht überrascht: Seit über einem Jahrzehnt berichten wir über diesen Teil der deutschen Geschichte und darüber, dass bis heute viele Kriegsverbrecher nicht belangt wurden. Chris Humbs, Markus Pohl und Udo Gumpel berichten.
Engelsbrand, eine kleine Gemeinde im Schwarzwald, die plötzlich von der großen Geschichte eingeholt wird. Es geht um diesen Mann: Wilhelm Kusterer. Sein Portrait hängt im Heimatmuseum. Kusterer hat es gegründet und die Sammlung aufgebaut. Er war Vereinsvorstand und langjähriger Gemeinderat für die SPD, hier neben der damaligen SPD-Landesvorsitzenden Ute Vogt.
Im vergangenen Jahr hat er eine Ehren-Medaille erhalten. Vom Bürgermeister - als Anerkennung seines Schaffens. Wir wollen den 94-Jährigen besuchen. Trotz mehrerer Versuche macht der Geehrte nicht auf, schottet sich ab. Auch ans Telefon geht er nicht.
Und das hat einen Grund:
Das ist das zweite Gesicht von Wilhelm Kusterer. Er war Unterscharführer der Waffen-SS. Wegen der Beteiligung an Massakern an Zivilisten verurteilte ihn 2008 ein Gericht in Rom zu lebenslanger Haft. Der ehrenwerte Wilhelm Kusterer: ein Kriegsverbrecher. Der Bürgermeister, der Kusterer auszeichnete, wusste nichts über dessen Rolle im Nationalsozialismus.
Bastian Rosenau, parteilos, Bürgermeister von Engelsbrand:
"Wir haben auch nie aus der Bevölkerung irgendwelche Schuldzuweisungen bekommen. Es war tatsächlich so, dass man überrascht war. Man kennt ihn als netten, älteren Herrn, den man nie mit sowas in Verbindung gebracht hätte."
In den italienischen Gerichtsakten zu Kusterer wird das Massaker genau beschrieben: Es ist 6 Uhr morgens am 29. September 1944. In die Bergregion um Marzabotto, nördlich von Florenz, dringen von allen Seiten SS-Männer ein. Auch Kusterers Einheit. Signalraketen werden abgeschossen. Der Einsatz beginnt.
Im Dorf Cerpiano sammeln die Deutschen die Bewohner in der Kapelle. Mit Handgranaten ermorden sie 53 Menschen, brennen alles ab. Sie nennen es "Kampf gegen die Partisanen".
In Caprara pfercht die SS neben Männern vierundvierzig Frauen und Kinder in die Großküche. 62 Menschen sterben. Es war die Kompanie von Wilhelm Kusterer.
Wir treffen Ferruccio Laffi in den Ruinen von Marzabotto. Er überlebte das Massaker als 16-Jähriger, versteckt im Wald. Als er zurückkam, fand er 14 seiner Familienangehörigen ermordet vor seinem Haus.
Ferruccio Laffi, Zeitzeuge:
"Sie wurden nicht einfach erschossen, sie wurden massakriert. Die Bäuche waren aufgeschlitzt, das Gedärm war draußen. Die Hühner pickten drin herum. Es gibt Dinge, die mir schwer fallen, sie zu beschreiben, weil, ich sehe sie immer noch vor meinen Augen."
Die SS ermordet rund um Marzabotto über 770 Menschen. Darunter 221 Kinder - das jüngste zwei Monate, das älteste 13 Jahre alt.
Im Einsatzbericht werden aus den Kindern "221 Bandenhelfer". Es ist von einer erfolgreichen "Vernichtungsaktion" die Rede. Kusterer hat eingeräumt, am Einsatz beteiligt gewesen zu sein. Er habe aber erst im Nachhinein erfahren, dass es dabei "Sauereien" gegeben habe.
Kein einziger Täter von Marzabotto wurde in Deutschland vor Gericht gestellt. Die italienische Justiz aber verurteilte 2008 zehn SS-Männer in Abwesenheit, darunter Wilhelm Kusterer: Er sei mitverantwortlich für das Massaker.
Als Unterscharführer sei er Befehlshaber für eine Gruppe gewesen und damit ein wesentlicher Teil der Mordmaschinerie.
In Deutschland wird das italienische Urteil nicht anerkannt. Einen Auslieferungsantrag für Kusterer lehnte die deutsche Justiz ab.
Stattdessen eröffnete die Stuttgarter Staatsanwaltschaft vor drei Jahren ein eigenes Verfahren gegen Kusterer. Bis heute ist immer noch nicht klar, ob es eine Anklage geben wird – und das, obwohl die Fakten aus Italien auf dem Tisch liegen und keine neuen Erkenntnisse zu erwarten sind.
Jan Holzner, Staatsanwaltschaft Stuttgart:
"Da muss ich ihm, konkret ihm, nachweisen, dass er an dieser Vernichtungsaktion entweder beteiligt war oder selber an Tötungshandlungen teilgenommen hat. Entscheidend ist wirklich: was kann ich dem Beschuldigten nachweisen? Das ist die Schwierigkeit. Denn selbst das italienische Militärberufungsgericht eben nicht feststellen konnte, welche Taten dem Beschuldigten zuzuordnen sind."
Die Anwältin Gabriele Heinecke hat in mehreren Verfahren italienische Überlebende von SS-Massakern vertreten. Sie hat kein Verständnis für das Zögern der Staatsanwaltschaft.
Gabriele Heinecke, Rechtsanwältin:
"Das ist das immer wiederkehrende Argument, dass man auf den Einzelnen nicht runterbrechen kann, dass er verantwortlich war für das Massaker. Damit sind wir aber am Kern der Geschichte. Kann man, wenn eine Gruppe ein Verbrechen begeht, kann man dann sagen, wir dürfen bei niemandem Anklage erheben, weil wir nicht sagen können, wer von denen denn nun die Waffe geführt hat? Es ist, solange jemand mitmacht bei der ganzen Sache, auf jeden Fall eine strafrechtliche Voraussetzung gegeben, die für einen hinreichenden Tatverdacht reicht."
Gerichtsverfahren aus jüngster Zeit belegen: Es geht auch bei NS-Morden ohne einen ganz konkreten Tatnachweis: John Demjanjuk etwa wurde wegen Beihilfe zum Massenmord verurteilt. Allein wegen seines Postens als Aufseher im Vernichtungslager Sobibor. Ebenso verurteilt: Oskar Gröning, der sogenannte Buchhalter von Auschwitz. Auch ihm konnte kein einzelner Mord zugeordnet werden.
Doch die Stuttgarter Staatsanwälte sagen, man könne diese Fälle nicht mit Marzabotto vergleichen.
Jan Holzner, Staatsanwaltschaft Stuttgart:
"Ich habe eben auf der einen Seite Konzentrationslager, die per se allein darauf ausgerichtet waren, Lagerinsassen zu vernichten. Und auf der anderen Seite habe ich Taten einer militärischen Einheit, nämlich der 16. SS-Panzergrenadierdivision, die auch - jedenfalls in Teilen - einen militärischen Auftrag hatte, insbesondere auch die Bekämpfung von Partisanen in Italien."
Doch der Kampf gegen Partisanen 1944 war nicht mehr zu trennen von den Gräueltaten gegen die Zivilbevölkerung.
Der Historiker Carlo Gentile forschte zum Massaker in Marzabotto und war Gutachter im Prozess. Für ihn ist klar: Kusterers Elitetruppe hatte bereits Routine bei der Auslöschung der Dorfbewohner.
Carlo Gentile, Historiker:
"Bevor dieser Einsatz begann, hatte die Division bereits in den Wochen davor über 1.000 Zivilisten in Italien ermordet. Manche Gruppen waren damit beschäftigt, die Häuser zu räumen von der Zivilbevölkerung. Andere eskortieren die Zivilisten zu Sammelplätze und an diesen Sammelplätzen wiederum hatten sich andere Soldaten mit ihren Waffen postiert, und sich darauf vorbereitet, die Zivilisten dann zu erschießen."
Arbeitsteilung also. Jeder Befehlshaber wusste, dass er immer wieder Kriegsverbrechen anordnet. Er war unmittelbarer am Morden beteiligt, als etwa ein kleiner Buchhalter im Vernichtungslager.
Die Stuttgarter Staatsanwaltschaft aber scheut bis heute eine Anklage. Und verhindert so ein öffentliches Gerichtsverfahren.
Wie schon einmal, im Fall des Massakers in Sant Anna di Stazzema. Auch hier wurden mehr als 100 Kinder ermordet. Die Stuttgarter Staatsanwaltschaft ermittelte geschlagene zehn Jahre lang - und stellte dann alle Verfahren gegen die ehemaligen SS-Männer ein.
Im Fall des Kompanieführers Gerhard Sommer klagten Opfer gegen die Einstellung – und bekamen schließlich Recht. Zu einem Prozess aber kam es nicht mehr - Sommer war mittlerweile verhandlungsunfähig.
Gabriele Heinecke, Rechtsanwältin:
"Mir scheint, dass die Staatsanwaltschaft gerade in Stuttgart so ein bisschen der Stöpsel in der Flasche ist, den man auch will, um diese Verfahren zu beenden. Das ist aber nicht die Aufgabe der Staatsanwaltschaft, es ist rechtstaatswidrig, nicht die entscheiden zu lassen, die dazu berufen sind, und das sind die Gerichte."
Bis heute sind in der Bundesrepublik nur vier Kriegsverbrecher wegen der Beteiligung an Massakern verurteilt worden. Es sieht nicht danach aus, dass Wilhelm Kusterer der Fünfte wird.
Beitrag von Chris Humbs und Markus Pohl