KZ (Quelle: Rbb)

- Verantwortungslos - Ghetto-Arbeiter warten bis heute auf ihre Renten

Blicken wir zurück: Jahrelang hatte man gestritten, bis feststand: Deutschland zahlt für die Zwangsarbeiter im Nationalsozialismus Entschädigungen. Wenigstens etwas. An eine Opfergruppe hat man in dem Zusammenhang allerdings nicht gedacht: An die hunderttausenden von Holocaust-Überlebenden, die im Ghetto nicht zwangsweise, sondern "freiwillig" gearbeitet haben. Nur so konnten sie ihr Überleben sichern. Dafür steht ihnen heute eine gesetzlich verbriefte Rente zu - eigentlich! Gregor Witt und HC Schulze über Deutschlands blamablen Umgang mit den Ghetto-Arbeitern.

Bilder aus dem Warschauer Ghetto. Alltag, gefilmt von den Deutschen. 1940 wurde das Ghetto errichtet für polnische und deutsche Juden. Hunderttausende wurden hierher verschleppt. Eingesperrt auf engstem Raum starben viele an Hunger und durch Seuchen. Andere wurden erschossen oder vergast. Geschätzt über 1.000 solcher Ghettos gab es.

Propagandabilder aus Theresienstadt. Hier zwangen die Nazis Juden, eine scheinbar heile Welt vorzuspielen: als fleißige Arbeiter. Sogar Rentenbeiträge wurden für sie abgeführt.

Auch sie war jahrelang im Ghetto: Sarra Cemachovich. Heute lebt die 82jährige in Brüssel. Auch sie musste arbeiten, obwohl sie damals noch ein Kind war. Und für ihre Arbeit im Ghetto will sie eine Rente, wenigstens eine finanzielle Wiedergutmachung für das, was ihr Deutschland angetan hat. Die Nazis sperrten die Jüdin Ende 1941 ins Ghetto Smorgon in Weißrussland. Da war sie gerade mal 12. Sie hat überlebt. Ihre Familie wurde ermordet.

Sarra Cemachovich
„Wenn ich das ansehe, wie es für meine Eltern, für meine Familie gelaufen ist. Man hat sie in die Grube gestoßen und 85.000 Juden mit einem Mal ausgerottet.“
KONTRASTE
„Da war ihre Familie mit dabei?“
Sarra Cemachovich
„Mit dabei, ja, meine Schwester mit meiner Mutter.“

Sarra Cemachovich hat damals gearbeitet um überleben zu können: als Küchenhilfe bei den Deutschen. Zehn, zwölf Stunden täglich, sieben Tage die Woche. Ihr Lohn: jeden Tag etwas zu essen, auch für sie wurden Rentenbeiträge abgeführt. Die damals 12jährige rettete nur eine Notlüge vor der Gaskammer:

Sarra Cemachovich
„Ich habe immer gesagt, ich bin 18, 20 Jahre, nicht unter 16, weil unter 16 war man bestimmt fürs Gas.“

Nach dem Krieg baut sie sich mit ihrem Mann eine bescheidene Existenz in Brüssel auf. Die beiden nähen Pelze in Lohnarbeit, fast vierzig Jahre lang. Ihre Rente in Belgien wird mit Sozialhilfe aufgestockt. Zusammen erhalten sie 1.400 Euro. 2002, da ist sie schon 73, erfährt sie: Deutschland will ihr eine zusätzliche Rente als finanzielle Wiedergutmachung zahlen.

Damals beschließt der Bundestag: Die Ghettoopfer sollen für ihre eingezahlten Beiträge
eine Rente bekommen. Rückwirkend ab 1997.

Abgeordnete aller Parteien beschlossen damit ausdrücklich eine, Zitat:
„Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts" .

2003 beantragt Sarra Cemachovich ihre Rente. Erst 2011, acht Jahre danach, der Bescheid: Sie bekommt zwar endlich ihre Rente. Aber nur rückwirkend ab 2005. Und nicht, wie im Bundestag beschlossen, rückwirkend ab 1997. 8.000 Euro werden ihr auf diese Weise vorenthalten.

Sarra Cemachovich
„Ich versteh nicht, was macht es ihnen, was macht es Deutschland, wenn sie mir bezahlen ab 1997. Ich glaube, ich habe mehr verdient, wenn ich vier Jahre gearbeitet habe für die Deutschen.“

Herta Däubler-Gmelin war Bundesjustizministerin, als die Ghettorente beschlossen wurde. Sie versteht nicht, wie mit Opfern der Nazizeit verfahren wird.

Herta Däubler-Gmelin (SPD), 1998-2002 Bundesjustizministerin
„Ich halte diese Verfahrensweise für ausgesprochen ungerecht. 2002 wollte der deutsche Bundestag und hat es auch beschlossen, dass diese schreckliche Ausnahmesituation endlich im Sinne der Betroffenen wieder gutgemacht wird und dass sie die Möglichkeit haben, beim Vorliegen der Voraussetzungen Rentenrückzahlungen ab 1997 zu bekommen.“

Für das Gesetz zuständig war zunächst Walter Riester als Sozialminister. Ihm folgten Ulla Schmidt, Franz Müntefering, Olaf Scholz, Franz Josef Jung und Ursula von der Leyen. Keiner von ihnen kümmerte sich, obwohl Tausende Ghettoopfer ihre Rente nur unvollständig erhalten haben. Die heute verantwortliche Sozialministerin gibt dazu kein Interview.

Schriftlich rechtfertigt sie die Rentenkürzung ganz formal: mit dem allgemeinen Sozialrecht. Das gelte auch für Naziopfer. Sie erhalten keine vollständige Erstattung, denn bei der Ghettorente, Zitat:
„handelt es sich ... nicht um eine eigenständige Wiedergutmachungs- oder Entschädigungsleistung."

Herta Däubler-Gmelin (SPD), 1998-2002 Bundesjustizministerin
„Ich halte diese Aussage für nicht nur inhaltlich falsch, sondern auch für zynisch. Weil sie darauf abzielt, Menschen, die unter den Nazis Schreckliches erlitten haben, das zu nehmen, was ihnen rechtlich zusteht. Ich denke Frau von der Leyen sollte sehr schnell auf zurückgehen, was wir 2002 im Bundestag beschlossen haben.“

Sarra Cemachovich ist 82 Jahre alt. Viel Zeit bleibt ihr nicht mehr.

Etwa 7.000 der Holocaust-Überlebenden, die eine Rente beantragt hatten, sind bereits verstorben. Mehr als 3.000 hoch betagte Überlebende warten seit langem auf die Rente, die ihnen zusteht.