- Kriegsverbrechen - Bundesregierung blockiert Entschädigungen

Mehr als 10.000 italienische Zivilisten fielen im Zweiten Weltkrieg Kriegsverbrechen von Wehrmacht und SS zum Opfer. Sie haben vor Gericht Entschädigung erstritten. Doch die Bundesregierung weigert sich, die Forderungen anzuerkennen.

Im Bundesaußenministerium ist man in heller Aufregung: Italien und seit gestern Abend auch Griechenland streiten gemeinsam vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag gegen Deutschland. Der Hintergrund: Deutschland soll Schadenersatz für Kriegsverbrechen während des 2. Weltkriegs zahlen. Eine Forderung, die ein unerhörtes Politikum ist, denn damit wird infrage gestellt, dass sich Deutschland auf seine Staatenimmunität berufen kann. Wie soll Deutschland mit seiner finanziellen Verantwortung für Kriegsverbrechen umgehen? Udo Gümpel und René Althammer mit Einzelheiten.

Die Toskana im Winter. Wir sind in Civitella, einem kleinen Bergdorf. In diesen Gassen kam es 1944 zu einem der größten Massaker der deutschen Wehrmacht in Italien.

Es war der 29. Juni. Deutsche Wehrmachtsoldaten ermorden an diesem Tag in Civitella und Umgebung 178 Männer und 25 Frauen und Kinder. Viele durch Genickschüsse.

Darunter auch Giuseppe Balo, den Vater von Ida Balo. Die damals 13jährige Ida ist - wie viele andere Dorfbewohner an diesem Tag - in der Messe, als deutsche Soldaten kommen und die Menschen auf den Kirchplatz heraus treiben.

Ida Balo
„Diese Soldaten, die ihre Maschinenpistolen auf uns richteten, ja, was machten sie? Sie lachten!"
KONTRASTE
„Sie lachten?"
Ida Balo
„Ja, sie lachten. Und ich, in meiner Naivität dachte, wenn sie lachen, werden sie uns nichts tun. Aber dann begann das Furchtbare. Rechts mussten sich die Frauen und Kinder aufstellen, links die Männer, sie wurden aus den Händen ihrer Frauen und Kinder gerissen."

Dann werden sie aus dem Dorf gejagt - ein Weg des Grauens, den Ida Balo nie wieder vergessen sollte.

Ida Balo
„Am Straßenrand lagen überall die Leichen. Ich erschrak ganz furchtbar. Über eine bin ich gestolpert. Aus offenen Augen schaute mich der Tote an. ‚Das ist ja Giovanni‘, rief ich! Da hat meine Mutter mir die Augen zugehalten: ‚Schau bloß nicht mehr hin.‘“

Ein Kriegsverbrechen.

Zwei Wochen nach dem Massaker befreien englische Truppen den fast völlig zerstörten Ort. Schnell steht fest: Die Täter sind Soldaten und Offiziere der Division Hermann Göring. Der Befehl zum Einsatz gegen die Zivilbevölkerung verstieß gegen jedes Kriegsrecht. Die Massenerschießung war Rache für den Tod zweier deutscher Soldaten bei einem Partisanenangriff.

Kaum ein Täter lebt noch.

Generalstaatsanwalt Marco De Paolis ist der höchste Ankläger der italienischen Militärjustiz. Er hat nicht nur den letzten lebenden Täter vor Gericht gebracht, sondern auch durchgesetzt, dass Deutschland erstmalig wegen eines Kriegsverbrechens vom Obersten Gericht Italiens zu einer Million Euro Schadensersatz verurteilt wurde.

Marco De Paolis, Generalstaatsanwalt der italienischen Militärjustiz
„Es ist ein sehr schweres Verbrechen, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Und dieses Verbrechen wurde eben nicht von gewöhnlichen Menschen begangen, sondern von den Vertretern eines Staates, den sie als Teil der Armee im Krieg repräsentieren. Damit ist der zivile Schaden, der infolge dieses Verbrechens entstanden ist, eben auch dem Staate anzulasten, den diese Verbrecher repräsentierten."

Das heißt: Deutschland als Rechtsnachfolger des Dritten Reiches soll die Familien der Opfer des Massakers von Civitella entschädigen.

Doch das Auswärtige Amt, also die Bundesregierung, weigert sich, das italienische Urteil anzuerkennen. Außenminister Westerwelle lässt nur schriftlich antworten.
Moralisch fühle man sich zwar verantwortlich, aber:

Zitat
„Gerichtsentscheidungen auf individuelle Schadensersatzklagen in Italien verletzen das Völkerrecht (Staatenimmunität)."

Das Prinzip der Staatenimmunität bedeutet, dass nationale Gerichte, wie hier italienische, keinen ausländischen Staat, wie Deutschland, verurteilen dürfen.

Und das will nicht nur Außenminister Westerwelle verhindern, sondern auch schon sein Vorgänger Steinmeier, hier bei einem Besuch im italienischen KZ Lisiera

Frank Walter Steinmeier (SPD), ehem. Außenminister (2008)
„Wir müssen klären lassen, dass das Prinzip der Staatenimmunität auch in Zukunft gilt."

Deutschland beharrt nicht ohne Grund auf der Staatenimmunität, meint der grüne Bundestagsabgeordnete Wolfgang Wieland, Mitglied der deutsch-italienischen Parlamentariergruppe.

Wolfgang Wieland (B‘90/Grüne), MdB
„Sie befürchten wohl, muss man sagen, gerade aus Osteuropa dann Präzedenzfälle, das wird nie so ausgesprochen."

Denn auch die Opfer der zahlreichen Kriegsverbrechen in Polen und Russland wurden bis heute nie entschädigt.

Wolfgang Wieland (B‘90/Grüne), MdB
„Die Bundesrepublik verschanzt sich leider hinter einer veralteten Auslegung des Völkerrechtes. Wir sollten zu der Erkenntnis kommen, dass das Opfer auch dann zu entschädigen ist, wenn der Staat gemordet hat, hier Wehrmacht und SS."

Die Angehörigen der Opfer von Civitella haben nach Auffassung der Bundesregierung keinen Anspruch auf Entschädigung. Um ihre Rechtsauffassung durchzusetzen, hat die Bundesregierung Italien sogar vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag verklagt: Er soll feststellen, dass Deutschland als Staat immun ist und sich dem italienischen Urteil nicht beugen muss.

Für den Direktor des Zentrums für Europäische Rechtspolitik, Andreas Fischer-Lescano, hätte ein Sieg Deutschlands vor dem Internationalen Gerichtshof dramatische Folgen für alle Opfer von schweren Menschenrechtsverletzungen.

Prof. Andreas Fischer-Lescano, Zentrum für europäische Rechtspolitik, Bremen
„Wir verteidigen zunächst einmal einen Grundsatz der Souveränität, der, wenn er bestünde, also in einen absoluten Souveränitätsschutz für Staaten führte, die also für Menschenrechtsverletzungen jedweder Art sich nicht mehr verantworten müssten. Wir verteidigen damit ein Rechtsprinzip, das also Täterstaaten nutzt."

Wolfgang Wieland (B‘90/Grüne), MdB
„Wir müssen dem Einzelnen die Chance geben, Entschädigung einzuklagen. Das ist eine wirksame Prophylaxe gegen Kriegsverbrechen, sei es in Darfur, sei es auch in Afghanistan."

Der Fall Civitella könnte das Völkerrecht neu schreiben: zugunsten der Opfer von Kriegsverbrechen, zu Lasten der Täterstaaten.


Autoren: René Althammer und Udo Gümpel