- Rechtsextremismus: Bundesrechtsanwaltskammer fürchtet Gesinnungsjustiz nach Strafrechtsreform

Bundesjustizminister Maas (SPD) plant jetzt per Gesetz, dass Richter rassistische, fremdenfeindliche oder andere menschenverachtende Hintergründe einer Tat im Urteil strafverschärfend berücksichtigen müssen. Die Bundesrechtsanwaltskammer widerspricht: das führe zur Gesinnungsjustiz. Doch immer wieder ignorieren Polizei und Richter rassistische Motive bei schweren Gewalttaten.

Ist die NSU-Mordserie, die uns monatelang beschäftigt hat, etwa schon wieder in Vergessenheit geraten? Der Eindruck drängt sich auf: Immer wieder werden Fälle bekannt, in denen Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichte rassistische Hintergründe von Straftaten entweder nicht erkennen – oder nicht berücksichtigen! Haben die Behörden aus dem Versagen im NSU-Skandal nichts gelernt? Chris Humbs, Markus Pohl und Lisa Wandt zeigen, wie groß die Widerstände sind, sich wirklich mit den rassistischen Hintergründen vieler Gewalttaten auseinanderzusetzen.

Eine Blutspur auf dem Bahnhof in Bernburg, Sachsen-Anhalt. Zeugnis eines rassistischen Übergriffs von erschreckender Brutalität. Die Opfer: der Betreiber dieses Dönerladens und seine Lebensgefährtin. Als sie ihren Imbiss abschließen wollen, fallen insgesamt neun Neonazis vor dem Laden über sie her.

Anne S.
„Wie wir da rausgekommen sind, das war einfach wie so ein gefundenes Fressen für die, ja? Wir sind da rausgekommen, er war dazu noch Türke, vermutlicherweise haben sie mich auch als Türkin gehalten. So hatten sie ihre Opfer für den Abend gefunden, und es hätte auch möglicherweise jeden anderen treffen können, der nicht deutsch ist.“

Zunächst beleidigt einer der Männer Anne auf das Übelste, nennt sie unter anderem „Türkenschlampe“. Ihr Freund geht dazwischen, versucht zu schlichten.

Anne S.
„Er hat halt gesagt, so redet man nicht mit einer Frau, mal ein bisschen Respekt. Und daraufhin wurde er beleidigt als „Du Scheißvieh!“ und „Fass mich nicht an!“, und hat dann schon die erste Bierflasche an den Kopf geschmissen gekriegt.“

Für den Rest der Gruppe das Startsignal. Zu neunt schlagen und treten sie auf den Imbissbetreiber ein, beschimpfen ihn als „scheiß Türke und „scheiß Kanake“. Selbst als ihr Opfer schon schwer verletzt und reglos am Boden liegt, treten sie weiter auf seinen blutenden Kopf ein, nehmen seinen Tod in Kauf.

Anne S.
„Also ich hab schon viel in meinem Leben gesehen, aber sowas Brutales und voller Hass gefüllte Menschen hab ich noch nie gesehen.“

Der Imbissbetreiber bleibt mit schwersten Schädelverletzungen zurück. Er überlebt nur dank einer Notoperation. Die Schläger werden kurz darauf in der Nähe des Tatorts festgenommen.

Die meisten sind bekannte Rechtsradikale und einschlägig vorbestraft. Unter ihnen: Francesco L. Vor einigen Jahren hat er einen 12jährigen Jungen über Stunden gefoltert – nur weil der dunkelhäutig war.

Bei der Leibesvisitation der Gruppe registriert die Polizei zahlreiche Nazi-Tätowierungen: darunter ein „White-Power“-Schriftzug, ein Totenkopf mit Stahlhelm, ein Hakenkreuz.

Was folgt, ist aus der Sicht der Opfer ein Justizskandal. Denn im Mai spricht das Landgericht Magdeburg fünf der Angeklagten frei. Die anderen werden zwar wegen versuchten Totschlags verurteilt. Einen versuchten Mord aber vermag das Gericht nicht zu erkennen. Denn dafür wären „niedrige Beweggründe“ maßgebend.

Christian Löffler
Sprecher Landgericht Magdeburg

„Für einen niedrigen Beweggrund ist es entscheidend, dass das rassistische Motiv ein Leitmotiv des Handelns der Angeklagten gewesen wäre. Hier hat das Gericht zwar festgestellt, dass rassistische Motive auch eine Rolle gespielt haben, sie waren aber nicht das Leitmotiv.“
KONTRASTE
„Was war denn das Leitmotiv?“
Christian Löffler
Sprecher Landgericht Magdeburg

„Das Leitmotiv ist gewesen, dass nach den Feststellungen des Gerichts der Geschädigte mit einem Stock herumgefuchtelt hat. Hierdurch fühlten sich die Angeklagten ihrerseits provoziert.“

Eine angebliche Provokation durch einen Stock, für die es keinen Beleg gibt, und die auf Behauptungen der Täter beruht. Den Aussagen der Opfer glauben die Richter dagegen nicht. Der Anwalt des Imbissbetreibers wirft dem Gericht vor, das Motiv Rassismus mit allen Mitteln herunterzuspielen.

Sebastian Scharmer
Rechtsanwalt

„Selbst wenn es so gewesen wäre, dass er, um sich zu wehren, einen Knüppel oder ähnliches mitgenommen hätte, dann wäre das ja trotzdem ziemlich absurd zu sagen, deswegen ist das kein rassistisch motivierter Angriff. Weil was soll man denn machen, wenn man von neun Nazis angegriffen wird? Darf man sich dann nicht zur Wehr setzen? Aber ich will noch mal betonen: Es gab gar keinen Knüppel oder ähnliches!“

Bernburg ist kein Einzelfall. Eine Blutspur rechter und rassistischer Gewalt zieht sich seit Jahrzehnten durch Deutschland. Oft nur unzureichend verfolgt durch Ermittlungsbehörden und Justiz. Zwar können Gerichte rassistische Beweggründe einer Tat als strafverschärfend bewerten - allein, sie tun es häufig nicht, wie Jurist Scharmer feststellen muss. Er ist spezialisiert auf Fälle rechtsradikaler Gewalt und Nebenkläger im NSU-Prozess.

Sebastian Scharmer
Rechtsanwalt

„Ich erlebe das immer wieder in derartigen Fällen, dass die Gerichte das runter spielen als Auseinandersetzung zwischen Betrunkenen, zwischen Jugendlichen ohne jeglichen politischen Hintergrund.“

Die Gründe hierfür sind vielfältig. Häufig liegt es daran, dass das Problem Rassismus schlicht verdrängt wird, vermutet Rechtsanwalt Scharmer.

Sebastian Scharmer
Rechtsanwalt

„Es ist immer ein negatives Image für einen Ort, für eine Region, das damit verbunden ist, dass es Neonazi-Angriffe gibt. Aber statt das zu benennen und dagegen was zu machen, habe ich den Eindruck, dass Gerichte und Staatsanwaltschaften versuchen, das im Vorfeld einfach herunterzuspielen, damit das eben nicht publik wird.“

Dennoch stellt sich die Frage: Warum sollen Neonazis, die aus rassistischen Gründen zuschlagen, härter bestraft werden als gewöhnliche Gewalttäter?

Eine Antwort: Solche Vorurteils-Verbrechen stellen eine besondere Bedrohung für Minderheiten, und damit auch für die demokratische Gesellschaft als ganzes dar.
Das jedenfalls meint der rechtspolitische Sprecher der Sozialdemokraten, Burkhard Lischka.

Burkhard Lischka (SPD)
rechtspolitischer Sprecher Bundestagsfraktion

„Opfer können sich dieser Gefährdungslage auch gar nicht entziehen. Sie können sich die Hautfarbe beispielsweise nicht abwaschen, und insofern unterliegen diese Gruppen einem permanenten Verfolgungsdruck durch Nazis. Und gleichzeitig soll ja die Botschaft ausgesandt werden an andere Ausländer, an andere Schwule, an andere Behinderte: Lasst euch hier nicht blicken auf der Straße, sonst geht euch das genauso!“

Seit langem mahnen Europarat und Vereinte Nationen Deutschland, solche menschenverachtenden Verbrechen schärfer zu ahnden. Jetzt endlich reagiert man in Berlin. Der Bundesjustizminister kündigt eine Strafrechtsreform an.

Heiko Maas (SPD)
Bundesjustizminister

„Wir wollen, dass rassistische, fremdenfeindliche oder sonstige menschenverachtende Motive zukünftig bei der Strafzumessung stärker berücksichtigt werden. Das soll so ins Strafgesetzbuch aufgenommen werden, und das ist dann auch eine klare Entscheidung für die ermittelnden Behörden, dass das für die Strafzumessung und damit auch für die Ermittlung ein besonders wichtiger Aspekt ist.“

Beim Deutschen Richterbund hält man indes herzlich wenig von dieser Gesetzesänderung. Bereits jetzt könnten Richter rassistische Motive bei der Strafzumessung berücksichtigen und würden dies auch tun.

Andrea Titz
Deutscher Richterbund

„Es hat sich für uns jedenfalls noch kein systematisches Defizit aufgetan."
KONTRASTE
„Allen anderen Beteiligten an solchen Prozessen, ob das nun die Opferverbände oder die Rechtsanwälte sind, die sagen eben, es gibt einen eklatanten Missstand?“
Andrea Titz
Deutscher Richterbund

„Wir erkennen keinen Missstand.“

Kein Missstand? Eine aktuelle Studie der TU Dresden zu vorurteilsmotivierten Gewalttaten legt das Gegenteil nahe. Innerhalb eines Jahres konnte die Polizei in Sachsen 122 solcher Delikte aufklären. Nur in 39 Anklagen tauchen diese Motive auf, bei der Strafzumessung im Urteil werden sie schließlich nur noch in 15 Fällen berücksichtigt.

Mit anderen Worten: Rassismus spielt in den Urteilen meist keine Rolle.

Dennoch gibt es in der Justiz massive Vorbehalte gegen das Vorhaben, rassistische Motive im Strafrecht besonders herauszuheben. Die Bundesrechtsanwaltskammer hat grundsätzliche Einwände.

Prof. Alexander Ignor
Bundesrechtsanwaltskammer

„Wir sehen die Gefahr, dass sich die Beachtung dieser Gesinnungen möglicherweise verselbständigt. Dass der Blick des Richters darauf gelenkt wird, solche Motive bei der Strafzumessung auch dann zu berücksichtigen, wenn sie sich in der konkreten Tat nicht niedergeschlagen haben. Mit anderen Worten: wir befürchten ein Gesinnungsstrafrecht.“

Richter, die sich zu einer Gesinnungsjustiz gegen Nazis verleiten lassen - droht das wirklich durch die geplante Gesetzesänderung?

Burkhard Lischka (SPD)
rechtspolitischer Sprecher Bundestagsfraktion

„Es geht überhaupt nicht darum, braune Gesinnung an sich zu bestrafen. Aber diese unglückselige Verquickung zwischen Gesinnung auf der einen Seite und Durchsetzung dieser Gesinnung durch Gewalt und Terror auf der anderen Seite, dass wollen wir strafrechtlich besonders ahnden und dazu dient dieser Gesetzentwurf."

Das neue Gesetz könnte Ermittler und Richter für menschenverachtende Tatmotive stärker sensibilisieren. Urteile wie in Bernburg könnten so künftig anders ausfallen.

Anne S.
„So ein Urteil selbst, gibt uns das nicht zurück, was wir hatten. Weder ihm noch mir. Aber eine kleine Gerechtigkeit wäre wenigstens drin gewesen.“

Tja, Gerechtigkeit, das sind wir den Opfern schuldig, wenn wir sie schon nicht beschützen können. Deshalb muss der geplante Gesetzentwurf nun auch so schnell wie möglich umgesetzt werden, um wirklich Lehren aus der NSU-Mordserie zu ziehen. Höchste Zeit ist es jedenfalls.

 

Beitrag von Chris Humbs, Markus Pohl und Lisa Wandt