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Im europäischen Vergleich gehört Deutschland zu den Ländern mit der höchsten Facharztdichte, dennoch beklagen sich Patienten immer wieder, oft monatelang auf einen Termin warten zu müssen. Die Ursache: Um auf ihre Kosten zu kommen, versuchen die Fachärzte mit möglichst vielen, leicht zu behandelnden Patienten Umsatz zu machen. Wer wirklich krank ist, kriegt deshalb kaum einen Termin.
Das hat wohl jeder schon erlebt, Sie wollen dringend zum Orthopäden oder Augenarzt und die Sprechstundenhilfe erklärt ihnen, dass sie leider in den nächsten ein, zwei Monaten keinen Termin frei hat. Dann heißt es entweder warten oder auf in die nächstgelegene Rettungsstelle: aber nicht jeder, hier wartet, ist wirklich ein Notfall. Viele wollen einfach nicht wochenlang auf einen Termin warten. Ulrich Montgomery, Chef der deutschen Ärzteschaft, hat dafür eine einfache Erklärung: Es fehlt an Ärzten!
Ulrich Montgommery
Präsident Bundesärztekammer
„Mehr Ärzte und mehr Geld sind in unserem System seit vielen Jahren eine Forderung, die wir aufstellen, weil wir ganz offensichtlich ja den Bedarf und das Angebot nicht übereinander kriegen.“
Doch solche Aussagen sind mit Vorsicht zu genießen. Einen Mangel an Ärzten gibt’s höchstens auf dem Land - vor allem in Ballungsgebieten haben wir viel zu viele Ärzte, und genau deshalb müssen wir manchmal monatelang auf einen Termin warten. Ursel Sieber.
In der Nähe von Aachen arbeitet der Hausarzt Leonard Hansen. Er ist ein Insider, denn jahrelang war er Chef einer kassenärztlichen Vereinigung – also der Vereinigung, die für die niedergelassenen Ärzte zuständig ist. Er erklärt uns: Es gibt keinen Ärztemangel, sondern viele Fachärzte bestellen ihre Patienten zu oft unnötig ein.
Leonhard Hansen
Allgemeinmediziner
„Es ist so, dass wir eine Diskussion führen, über Mangel, Mangel an Terminen, Mangel an Untersuchungsmöglichkeiten, die wenn die gesamte Ärzteschaft an der Stelle korrekt verfahren würde, so nicht gegeben wäre.“
Die Zahlen geben ihm Recht: In Deutschland gibt es pro 100 000 Einwohner 418 Ärzte. So viele wie in keinem vergleichbaren Land in Europa, mehr als in der Schweiz, mehr als in Frankreich oder in den Niederlanden. Und trotzdem warten Patienten lange auf Termine?
Leonhard Hansen weiß warum: Die Fachärzte erzeugen die Terminnot künstlich. Das sieht er bei seinen Patienten. Quartal für Quartal soll er Überweisungen ausstellen, weil sie von ihren Fachärzten immer wiedereinbestellt werden.
Leonhard Hansen
Allgemeinmediziner
„Wenn ich einen Patienten anspreche, warum müssen Sie dahin, kommt sehr häufig die Antwort: ,Weiß ich auch nicht, ich habe einen Termin.’ Ob das nötig ist oder nicht, spielt oftmals überhaupt keine Rolle. Und diese unsinnigen, unnötigen Termine verstopfen den Terminplaner. Termine für Patienten, die akut einer Vorstellung bedürfen.“
Hansen zeigt uns anhand von Beispielen, wie Ärzte ihre Praxen auslasten. Möglichst viele Gesunde behandeln, ist offenbar das Ziel.
Leonard Hansen
Allgemeinmediziner
„Wenn man jetzt hier durchgeht, die Berichte, es ist völlig identisch, wo dann drin steht, dass nichts ist, aber mit der Patientin ist Wiedervorstellung in drei Monaten vereinbart.“
Franz-Josef Vondenhagen hat genau das erlebt. Vor acht Jahren hat sein Facharzt – ein Urologe- bei ihm im Blut einen auffälligen Wert gemessen. Obwohl seine Werte danach wieder normal waren, bestellte ihn der Urologe weiter regelmäßig zur Kontrolle, Quartal für Quartal. Acht Jahre lang. Und er ging immer hin.
Franz-Josef Vondenhagen
„Sie vertrauen ja dem Arzt. Sie haben ja immer das Gefühl, der weiß mehr als sie, also verlassen Sie sich darauf. Und wenn er sagt, das ist so, dann machen Sie das halt.“
Bis ihm sein Hausarzt Leonard Hansen davon abriet. Er erklärte ihm, dass diese häufigen „Wiedereinbestellungen“ in seinem Fall medizinisch unsinnig seien und nur abrechnungstechnische Gründe hätten.
Leonard Hansen
Allgemeinmediziner
„Es gibt kein schneller verdientes Honorar wie diese regelmäßigen Kontrollen. Wo der Einsatz programmiert ist und ich letztendlich mit wenig Einsatz viel Honorar erzielen kann. Insofern ist das ein Mechanismus, der sich leider eingebürgert hat, auch als Fehlanreiz aus unserer Gebührenordnung heraus.“
Fachärzte bestätigten uns diese Art der „Kundenpflege“ –anonym. -Im Chat sind wir mit dem Augenarzt Dr. K. verbunden.
Frage
„Machen Sie das auch mit dem Wiedereinbestellen?“
Dr. K.
„Ja, in gewissem Umfang schon. Das liegt an unserem Honorarsystem. Ich muss sehr viele Patienten behandeln, weil ich pro Patient nur 21 € im Quartal bekomme."
Frage
„Kommen nicht jedes Quartal genügend neue Patienten?“
Dr. K.
„Nein. Nicht in der Stadt. Außerdem: Wenn man im Quartal nur 21 € pro Patient bekommt, muss ich meine Praxis auch mit Patienten auslasten, die man kennt, weil die weniger Arbeit machen. Ist doch klar.“
Dass Ärzte oft genau so vorgehen und dadurch Termine für akut Kranke blockieren, bestreitet der Präsident der Bundesärztekammer
Ulrich Montgommery
Präsident Bundesärztekammer
„Es gibt mit Sicherheit in einigen Fällen auch diese Dauereinbestellungen, das ist mit Sicherheit vorhanden, aber das ist kein wirkliches Problem. Die Tatsache, dass Menschen keine Termine bekommen, hat mit der regelhaften Einbestellung von anderen Patienten, die man schon kennt, zahlenmäßig nichts zu tun.“
Tatsächlich? Auf Nachfrage von Kontraste hat das Wissenschaftliche Institut der AOK erstmals Daten von AOK-Versicherten ausgewertet. Wir wollten wissen, wie viele Patienten „Dauerkunden“ beim Facharzt sind. Ergebnis: Bei den Augenärzten werden 19,8% immer wieder einbestellt, bei den Neurologen 25,7%, bei den Urologen sogar 31,4%, fast ein Drittel Dauerpatienten, vielfach sinnlos.
Einmal Facharzt, immer Facharzt? Das Phänomen hat sogar einen Namen: „Verdünnerfälle“ nennen Ärzte diese Patienten. Alarmierend findet das der Chef der AOK-Baden-Württemberg.
Christopher Hermann
Vorstand AOK Baden-Württemberg
„Wir haben halt völlig falsche Anreize im Vergütungssystem, dass sie immer wieder einbestellen, dass sie auch so genannte ‚Verdünnerfälle’, wie das dann im Fachjargon heißt, unter ihren Patienten in einem hohen Umfange haben, weil sie ja für diese Fälle im wesentlichen genauso viel Geld bekommen, wie für wirklich schwer kranke Menschen.“
So sitzen die Deutschen ständig beim Arzt: Rentner sogar bis zu 62 mal im Jahr. So oft wie nirgendwo sonst in Europa. Im Glauben, sie wären so bestens versorgt.
Leonhard Hansen
Allgemeinmediziner
„Wo der Patient, das ist sehr häufig, das Gefühl hat, ich werde gut überwacht und bin in guten Händen und letztlich wird mit seiner unterschwelligen Angst Schindluder getrieben.“
Der Bundesgesundheitsminister sagt ein Interview aus Zeitgründen ab. Auf Nachfrage lässt er mitteilen, für das Vergütungssystem sei die ärztliche Selbstverwaltung zuständig. Doch gerade die will von dem Problem ja nichts wissen.
Und so kommt es, dass sich einige Ärzte mittlerweile dreiste Methoden ausdenken, um Kasse zu machen: Sie bieten ihren Patienten so genannte „Komfort-Sprechstunden“ an: Kürzere Wartezeit und bessere Behandlung - für die, die bereit sind, privat einen saftigen Aufpreis dafür zu bezahlen! Frech - und rechtlich zudem noch höchst heikel.
Beitrag von Ursel Sieber