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Das Mittel "Miracle Mineral Supplement", kurz MMS, soll wahre Wunder bewirken. Dabei ist MMS eine aggressive Chemikalie, Chlordioxid, die auch zum Bleichen von Textilien eingesetzt wird. Doch die Anhänger von MMS behaupten, es könne fast alle Krankheiten heilen - von Malaria bis hin zu Autismus bei Kindern. KONTRASTE zeigte in der vergangenen Sendung, wie Eltern ihren Kindern sogar Einläufe mit MMS machen. Doch das führt zu gefährlichen Verätzungen. Trotzdem geht das Geschäft mit dem ätzenden "Wundermittel" einfach weiter. Weil es keine Bundesbehörde gibt, die in solchen Fällen die Kontrolle und Überwachung übernimmt, kann die MMS-Szene unbemerkt von kommunalen Behörden agieren.
Selten hat ein Beitrag bei unseren Zuschauern derart Entsetzen ausgelöst wie der über das vermeintliche Wunderheilmittel MMS. In der vergangenen Sendung hatten wir berichtet, wie Scharlatane in Deutschland dieses Mittel vertreiben, das angeblich gegen alle möglichen Krankenheiten helfen soll - in Wirklichkeit aber eine ätzende Chemikalie ist! Die Reaktionen der Zuschauer waren einhellig: Wie kann das angehen, warum greifen die Behörden hier nicht ein?! Unsere Autoren Caroline Walter und Christoph Rosenthal sind dieser Frage erneut nachgegangen und stiessen dabei auf weitere unglaubliche Details.
Hannover. Hier trafen sich Ende April Hunderte Anhänger des angeblichen Wundermittels „MMS“. Der Amerikaner Jim Humble propagiert es als Mittel gegen fast alle Krankheiten.
Jim Humble
„Wir kamen hierher, um die Menschheit zu retten.“
MMS – dahinter verbirgt sich die ätzende Chemikalie Chlordioxid: gemischt wird sie aus Natriumchlorit und Salzsäure. Eigentlich ein Desinfektions- und Bleichmittel. Trotzdem soll man es trinken. MMS könne angeblich Krebs oder Malaria heilen. Doch mehrere Malariapatienten, die darauf vertrauten, sind so in Lebensgefahr geraten. Denn MMS wirkte nicht.
Den Toxikologen Prof. Stahlmann wundert das nicht. MMS verursacht nur eines – Nebenwirkungen wie starke Durchfälle und Verätzung von Schleimhäuten. In Industriebetrieben würden Arbeiter deshalb vor Chlordioxid geschützt.
Prof. Ralf Stahlmann
Institut für Klinische Pharmakologie und Toxikologie, Charité Berlin
„MMS ist eine Chemikalie, kein Arzneimittel. Weder die Wirksamkeit noch die Verträglichkeit sind geprüft und nachgewiesen. Man kann nur dringend davor warnen.“
Vor einigen Tagen wieder in Hannover – ein MMS-Workshop, angeboten von Ali Erhan, der zum harten Kern der Szene gehört. Wir nehmen verdeckt daran teil. Erhan schwärmt von MMS:
„Wir wissen, dass es wirkt und wir wissen, dass es nebenwirkungsfrei ist …
Jetzt wird euch langsam klar, was für ein Potenzial in MMS und Chlordioxid drin ist, warum die so dagegen schießen. Super billig, super breitbandig, das ersetzt 'ne halbe Apotheke.“
Aber er kann keine einzige Studie zur Wirkung von MMS bei Krebs oder anderen schweren Krankheiten nennen. Stattdessen berichtet er von angeblichen Malariaheilungen und behauptet:
„Der Erreger ist im Blut und dann ist er mit MMS auch weg.“
Erhan leitet die Teilnehmer an, die Chemikalie direkt hier anzuwenden. Wir sollen es mischen und einen Atemzug von dem hochgiftigen Chlordioxidgas nehmen. Das sei wunderbar. Dann fordert er auf:
„Augen Ohren Nase. Das machen wir jetzt praktisch. Mit einer Pipette zwei Tropfen in jedes Auge.“
Schließlich animiert Erhan die Teilnehmer das Zeug auch zu trinken.
„Wir gurgeln und zischen das dann auch nochmal runter.“
Ein Schluck reicht uns, es schmeckt grauenhaft. Bedenken spielt Erhan herunter:
„Die einzige Nebenwirkung, die ich kenne, ist, dass man möglicherweise länger lebt.“
Dieses Seminar kostet satte 290 Euro. Nach der Übung verkauft er noch ein MMS-Produkt – für 60 Euro pro Packung. Fast jeder greift zu.
Wir sind beim Gewerbeaufsichtsamt in Hannover. Es ist zuständig für die Überwachung solcher Mittel. Hier kennt man das Thema MMS bereits und Herrn Erhan ebenso. Aber von dem Workshop hat die Behörde nichts mitbekommen.
Uwe Licht-Klagge
Gewerbeaufsichtsamt Hannover
„Wenn Herr Erhan über Heilwirkung von MMS oder angeblicher Heilwirkung von MMS berichtet und gleichzeitig das Mittel entgeltlich und unentgeltlich abgibt, dann wäre das ganz klar verboten und würde einen Verstoß gegen das Arzneimittelrecht darstellen. Das wäre auch als Straftat zu bewerten.“
Eine Straftat, die unbemerkt geblieben wäre – weil lokale Aufsichtsbehörden oft überlastet sind. Ihnen fehlt schlicht das Personal zur Überwachung der MMS-Szene. Die agiert vor allem übers Internet – und darauf ist das Kontrollsystem offenbar noch nicht eingestellt.
Uwe Licht-Klagge
Gewerbeaufsichtsamt Hannover
„Wir haben im Bereich der Länderbehörden durchaus auch Internetbeobachtung jetzt gezielt eingesetzt, aber die flächendeckende oder dauerhafte Beobachtung scheitert letztendlich an den personellen Ressourcen.“
Wir haben Ali Erhan nach dem Seminar angeschrieben, auf konkrete Fragen hat er nicht geantwortet. Er bestreitet, Heilversprechen gemacht zu haben.
Und er verweist uns auf ein Werbevideo – das die Erfolge mit MMS belegen soll. Es geht um diesen Feldversuch in Uganda. 154 Malariakranke seien mit MMS geheilt worden. Das behauptet Leo Koehof – der Verleger von MMS-Büchern. Aber stimmt diese Geschichte?
Nach unseren Recherchen wurden die Gesundheitsbehörden in Uganda getäuscht – ebenso wie das dortige Rote Kreuz. Ihnen hatte man weisgemacht, dass der Feldversuch ein Projekt zur Wasserreinigung sei. Dass es in Wirklichkeit um einen Versuch an Menschen ging, mit Chlordioxid in einer hohen Dosis, darüber kein Wort.
Selbst Schwangeren und Kindern wurde die Chemikalie verabreicht. Gerade unterernährte Kinder können von dieser Dosis schlimme Durchfälle bekommen. Das kann sogar tödlich enden – erklärt uns Malaria-Experte Prof. Pietsch.
Prof. Michael Pietsch
Abteilung für Hygiene und Umweltmedizin, Universitätsmedizin Mainz
„Ich erschrecke, weil ich davon ausgehe, dass den Kindern ja nicht wirklich geholfen wird, sondern, dass sie noch geschädigt werden. Und diese Kinder leben ja schon unter schwierigen Bedingungen und haben ja auch durch ihre Unterernährung eine ganz, ganz problematische Situation, gesundheitlich. Was da gemacht wird, ist Scharlatanerie und es ist im höchsten Maße unethisch.“
Er hatte das Ganze mit organisiert – der Belgier Klaas Proesmans. Er distanziert sich inzwischen von diesem Werbevideo, es erzähle nicht die ganze Wahrheit. Vor allem widerspricht er der Behauptung, 154 Malariakranke seien durch MMS geheilt worden. Dazu schreibt er uns:
„Es gibt keinen Beleg, dass die Menschen geheilt waren. Sie haben nur keine Symptome an diesem einen Tag gezeigt. Weitere Untersuchungen wären nötig gewesen.“
Doch die habe es vor Ort nicht gegeben. In dem Video behauptet MMS-Verfechter Leo Koehof, ein Arzt hätte die Heilungen sogar bestätigt. Dazu Proesmans:
„Es war nie ein Arzt an diesem Versuch beteiligt.“
Leo Koehof unternahm sogar noch einen weiteren Feldversuch an 200 Waisenkindern in der Region. Ohne die Behörden darüber zu informieren.
Skrupellos, was die Gesundheit von Kindern angeht, sind auch diese beiden MMS-Vertreter: Ihre Behauptung: Mit MMS könne man Autismus heilen. Sie empfehlen Eltern, ihre autistischen Kinder mit Chlordioxid-Einläufen zu behandeln. Denn Autismus sei angeblich durch Würmer und Parasiten verursacht. Doch, was sie als Würmer ausgeben, sind keine - es ist vor allem abgelöste Darmschleimhaut. Das bestätigen uns etliche Experten.
Dr. Andreas Stürer
Giftinformationszentrum Mainz
„Es kommt einfach zu einer Schädigung, von einer Reizung bis Verätzung der Darmschleimhaut und das führt dann unter anderem zu einer chronischen Entzündungsreaktion. Das kann man im Prinzip als Misshandlung des Kindes bezeichnen.“
Aber die Warnung wird ignoriert. In der geschlossenen Facebookgruppe bestärken sich weiterhin Hunderte Eltern, die Einläufe zu machen. In der Recherche stoßen wir auf dieses Video von Eltern, die im Stuhlgang ihres Sohnes nach angeblichen Würmern fischen. Der Vater berichtet vor einer Woche über seinen Sohn:
„Er ist weinerlicher als zuvor und empfindlicher, wahrscheinlich die Parasiten...“
Wir finden ein Foto des 8jährigen mit seiner Mutter. Und beschließen die Eltern zu besuchen. Wir wollen erfahren, warum sie ihrem Kind das antun. Sie bitten uns herein. Aber sie wollen nicht erkannt werden. Die Eltern erzählen uns von der Schockdiagnose Autismus, ihr Sohn habe viel geschrien, keine Ruhe gegeben. Da hörten sie vom Heilversprechen durch MMS, von den Einläufen und Würmern.
Der Vater sagt:
„Ein ganz normaler Arzt würde niemals erkennen, ob ein kleiner Junge Parasiten hat.“
Auf die Frage, ob er die angeblichen Würmer zur Untersuchung mal in ein Labor gegeben habe:
„Da drüber möchte ich nichts sagen.“
KONTRASTE
„Was da rauskommt, ist halt kein Parasit, das ist Darmschleimhaut. Das sind Schäden am Darm. Die Langzeitschäden muss man doch als Eltern mit bedenken...“
Vater
„Wir nehmen das in Kauf. Wenn Sie sagen, dass es Langzeitschäden sind, dann sagen Sie das.“
KONTRASTE
„Aber jetzt haben Sie ja auch selber im Facebook geschrieben, er ist weinerlicher, er ist gereizter seit den Einläufen.“
Vater
„Ja, die erste Zeit klar.“
KONTRASTE
„Aber normalerweise ist es ein Zeichen, dass es einem Kind nicht gut geht?“
Vater
„Wenn wir heutzutage keinen Glauben hätten … ich muss doch an irgendwas glauben.“
KONTRASTE
„Aber haben Sie den Einlauf auch selber gemacht?“
Vater
„Bei mir selbst, noch nicht - nein.“
Sie beenden das Gespräch, und wollen nicht wahrhaben, dass sie ihrem Kind schaden.
Wir erfahren, dass in mehreren Fällen bereits Jugendämter eingeschaltet wurden – wie dieses in Monheim. Hier wurde sofort reagiert.
Annette Berg
Jugendamt Monheim
„Vor kurzem haben wir den Hinweis bekommen, dass Eltern hier in unserem Zuständigkeitsbereich ihren drei Kleinkindern MMS verabreichen. Wir haben ganz klar entschieden, dass dieses Mittel a) gesundheitsgefährdend ist und die Gabe an Kinder eine Kindeswohlgefährdung darstellt und dementsprechend sind wir dann auch vorgegangen. Und das haben wir genauso gewertet wie eine Misshandlung, eine Missbrauchssituation und sind entsprechend auch den Eltern begegnet.“
Für die Kinder wurde ein langfristiges Schutzkonzept aufgestellt, regelmäßige Untersuchungen beim Kinderarzt sind Pflicht. Und die Ergebnisse werden vom Jugendamt überprüft.
Der Behörde war MMS vorher völlig unbekannt, sie fing mit der Recherche bei Null an. Und wie wir feststellen müssen, geht es auch anderen Aufsichtsämtern bei MMS so - es gibt keinerlei Vernetzung untereinander und keine zentrale Zuständigkeit.
Das macht es den MMS-Quacksalbern leicht, ihr skrupelloses Geschäft mit der Hoffnung weiter zu betreiben.
Was man braucht, wäre eine zentrale Stelle, die sich um das gefährliche Treiben kümmert. Das Bundesgesundheits- ministerium allerdings stiehlt sich aus der Verantwortung: Als wir nachfragten, bekamen wir nur die schnöde Antwort: Das sei Sache der Länderbehörden. So ist das also im Föderalismus.
Beitrag von Caroline Walter und Christoph Rosenthal